Hauptmann Rocher führte den Generaldirektor von CERN über eine spiralförmig verlaufende Behindertenrampe hinauf in den apostolischen Palast. Die Pracht der großen Halle des Belvedere machte Kohler ganz krank. Allein das Blattgold in der Decke hätte wahrscheinlich ausgereicht, um ein ganzes Jahr lang Krebsforschung zu betreiben.
»Gibt es keinen Aufzug?«, fragte Kohler.
»Wir haben keinen Strom.« Rocher deutete auf die Kerzen an den Wänden, die einzige Lichtquelle in dem dunklen Gebäude. »Wegen der Suche nach dem Antimateriebehälter, verstehen Sie?«
»Eine Suche, die ohne jeden Zweifel ergebnislos verlaufen ist.«
Rocher nickte.
Kohler erlitt einen weiteren Hustenanfall. Er wusste, dass es vielleicht einer seiner letzten war - kein gänzlich unwillkommener Gedanke.
Sie erreichten das obere Stockwerk und eilten durch den weiten Korridor in Richtung des päpstlichen Amtszimmers. Vier Schweizergardisten kamen ihnen besorgt entgegen. »Herr Hauptmann, was machen Sie hier? Ich dachte, dieser Mann besäße Informationen, die.«
»Er will nur mit dem Camerlengo sprechen.«
Die Wachen schauten einander misstrauisch an.
»Sagen Sie dem Camerlengo«, befahl Rocher energisch, »dass Maximilian Kohler eingetroffen ist, der Generaldirektor von CERN, und ihn sehen möchte. Augenblicklich!«
»Jawohl, Herr Hauptmann.« Einer der Gardisten eilte in
Richtung des Amtszimmers davon. Die anderen vertraten ihnen den Weg. Sie blickten Rocher nervös an. »Nur einen Augenblick, Herr Hauptmann. Wir wollen Ihren Gast ankündigen.«
Doch Kohler dachte überhaupt nicht daran anzuhalten. Er kurvte geschickt um einen der Gardisten herum und rollte weiter.
Die Schweizergardisten wirbelten herum und rannten hinter ihm her. »Fermati! Signore! Bleiben Sie stehen, auf der Stelle!«
Kohler empfand Verachtung für sie - nicht einmal die elitärste Sicherheitsmacht der Erde war immun gegen das Mitleid, das jeder Mensch für Krüppel empfand. Wäre Kohler gesund gewesen, hätten sie sich längst auf ihn gestürzt. Krüppel sind schwach und hilflos, dachte Kohler. Zumindest glaubt das jeder.
Kohler wusste, dass er nur wenig Zeit hatte, um zu erreichen, weshalb er hergekommen war. Er wusste auch, dass er möglicherweise in dieser Nacht sterben würde. Eigenartig, wie wenig es ihn kümmerte. Der Tod war ein Preis, den er zu zahlen bereit war. Zu viel hatte er in seinem Leben ertragen, um zuzulassen, dass jemand wie der Camerlengo Carlo Ventresca seine Arbeit vernichtete.
»Signore!«, riefen die Wachen. Sie rannten an ihm vorbei und versperrten ihm erneut den Weg. »Bleiben Sie stehen!« Einer der Gardisten zog eine Waffe und richtete sie auf Kohler.
Der Generaldirektor hielt.
Rocher eilte hinzu. Er wirkte zerknirscht. »Herr Kohler, bitte. Es dauert nur einen Augenblick. Niemand betritt unangekündigt das Amtszimmer des Papstes.«
In Rochers Augen sah Kohler, dass ihm keine andere Wahl blieb, als zu warten. Na schön, dachte er. Dann warten wir eben.
Die Gardisten hatten - grausame Ironie - Kohler direkt neben einem mannshohen vergoldeten Spiegel an der Wand angehalten. Der Anblick seiner eigenen verkrüppelten Gestalt stieß ihn ab. Die alte Wut kehrte wieder und übermannte ihn. Jetzt war er mitten unter den Feinden! Dies hier waren die Menschen, die ihn seiner Würde beraubt hatten. Sie waren schuld. Wegen ihnen hatte er niemals die Berührung einer Frau erfahren. niemals hoch aufgerichtet stehen können, um einen Preis in Empfang zu nehmen. Welche Wahrheit besitzen diese Leute? Welche Beweise, verdammt! Ein Buch voller uralter Fabeln! Versprechungen von künftigen Wundern! Die Wissenschaft produziert täglich neue Wunder!
Kohler starrte in sein eigenes steinernes Gesicht. Heute Nacht wird mich die Religion umbringen, dachte er, aber es ist nicht das erste Mal.
Für einen Augenblick war er wieder elf Jahre alt und lag in der Frankfurter Villa seiner Eltern im Bett. Die Laken waren aus feinstem Leinen, doch sie waren schweißdurchnässt. Der kleine Max fühlte sich, als würde er brennen; der Schmerz war beinahe unerträglich. Neben seinem Bett knieten sein Vater und seine Mutter, bereits seit zwei Tagen, ohne Pause. Beide beteten.
Ein wenig abseits standen drei der besten Ärzte Frankfurts.
»Ich bitte Sie, noch einmal darüber nachzudenken«, drängte einer der Ärzte. »Schauen Sie sich Ihren Jungen an! Sein Fieber steigt von Stunde zu Stunde! Er leidet unter schrecklichen Schmerzen. Und er könnte sterben!«
Doch Max kannte die Antwort seiner Mutter, bevor sie sprach. »Gott wird ihn beschützen.«
Ja, dachte Max. Gott wird mich beschützen. Die Überzeugung in den Worten seiner Mutter gab ihm Kraft. Gott wird mich beschützen.
Eine Stunde später fühlte sich Max, als würde sein Brustkorb von einem Tonnengewicht zerquetscht. Er konnte nicht einmal mehr tief genug einatmen, um zu schreien.
»Ihr Sohn leidet unter unsäglichen Schmerzen«, sagte ein anderer Arzt. »Lassen Sie mich wenigstens die Schmerzen lindern. Eine Spritze.«
»Ruhe bitte!«, brachte Max’ Vater den Arzt zum Schweigen, ohne die Augen zu öffnen. »Sie sehen doch, dass wir beten.«
»Vater, bitte!«, wollte Max schreien. »Sie sollen machen, dass der Schmerz weggeht!« Doch seine Worte gingen in einem Hustenanfall unter.
Eine Stunde später waren die Schmerzen noch schlimmer geworden.
»Ihr Sohn könnte für den Rest seines Lebens gelähmt bleiben!«, schimpfte einer der Ärzte. »Er könnte sterben! Wir besitzen Medikamente, die seine Krankheit heilen.«
Herr und Frau Kohler wollten nicht. Sie verachteten die Medizin. Wer waren sie, dass sie Gottes Meisterplan durchkreuzten? Sie beteten inbrünstiger. Schließlich hatte Gott sie mit diesem Jungen gesegnet - warum also sollte er ihnen das Kind wieder nehmen? Max’ Mutter beugte sich über den Knaben und flüsterte ihm zu, stark zu sein. Sie erklärte, dass Gott ihn prüfe. wie in der biblischen Geschichte den Abraham. eine Prüfung seines Glaubens.
Max bemühte sich zu glauben, doch der Schmerz war unerträglich.
»Ich kann mir das nicht länger mit ansehen!«, sagte einer der Ärzte schließlich und rannte aus dem Zimmer.
Gegen Einbruch der Dämmerung schwebte Max am Rand eines Komas. Jeder Muskel seines Körpers hatte sich vor Schmerzen verkrampft. Wo ist Jesus?, fragte er sich. Liebt er mich denn nicht? Max spürte, wie das Leben allmählich aus seinem Körper wich.
Seine Mutter war neben dem Bett eingeschlafen. Ihre Hände lagen noch immer gefaltet auf ihm. Sein Vater stand auf der anderen Seite des Zimmers am Fenster und starrte düster hinaus. Er schien wie in Trance zu sein. Max hörte das leise Murmeln seiner unablässigen Gebete, Gott möge sich erbarmen.
Da spürte Max plötzlich eine weitere Gestalt über sich. Ein Engel? Er konnte kaum etwas sehen; seine Augen waren zugeschwollen. Die Gestalt flüsterte etwas in sein Ohr, doch es war nicht die Stimme eines Engels. Max erkannte einen der Ärzte. den gleichen Mann, der zwei Tage lang in der Ecke gesessen und Max’ Eltern unablässig angefleht hatte, sie mögen ihm doch gestatten, ihrem Kind ein neues Medikament aus England zu verabreichen.
»Ich würde mir niemals verzeihen, wenn ich das hier nicht tun würde«, flüsterte er und nahm vorsichtig Max’ schwachen Arm. »Ich wünschte nur, ich hätte es schon viel früher getan.«
Max spürte einen winzigen Stich im Arm - bei all den anderen Schmerzen kaum wahrnehmbar.
Dann packte der Arzt leise seine Utensilien zusammen. Bevor er das Zimmer verließ, legte er Max die Hand auf die Stirn. »Das wird dir das Leben retten, Junge. Ich habe großes Vertrauen in die Errungenschaften der modernen Medizin.«
Binnen weniger Minuten fühlte sich Max, als würde ein Geist durch seine Adern fließen. Die Wärme breitete sich durch seinen Körper aus und vertrieb den Schmerz. Schließlich, zum ersten Mal seit Tagen, schlief Max Kohler ein.
Als er erwachte, hatte das Fieber bereits merklich nachgelassen. Seine Eltern hielten es für ein Wunder Gottes. Doch als sich herausstellte, dass ihr Kind verkrüppelt blieb, erfasste sie Verzweiflung. Sie brachten ihren Sohn in die Kirche und flehten den Priester um Rat an.
»Nur der Gnade Gottes ist es zu verdanken«, antwortete der Geistliche, »dass dieser Junge überhaupt noch am Leben ist.«
Max hörte es und schwieg.
»Aber unser Kind kann nicht mehr laufen!« Frau Kohler schluchzte.
Der Priester nickte traurig. »Ja. Wie es scheint, hat Gott ihn bestraft, weil er nicht genug Glauben besitzt.«
»Herr Kohler?« Der Gardist kehrte aus dem Amtszimmer zurück. »Der Camerlengo sagt, dass er bereit sei, Ihnen eine Audienz zu gewähren.«
Kohler brummte und setzte sich den Gang hinunter in Bewegung.
»Er ist überrascht, dass Sie ihn besuchen kommen!«, rief ihm der Gardist hinterher.
»Das glaube ich gern.« Kohler rollte weiter. »Ich möchte unter vier Augen mit ihm reden.«
»Unmöglich, Herr Generaldirektor!«, entgegnete der Gardist. »Niemand.«
»Leutnant!«, brüllte Rocher. »Das Treffen wird so stattfinden, wie Herr Kohler es wünscht.«
Der Gardist starrte seinen Vorgesetzten mit unverhüllter Fassungslosigkeit an.
Vor der Tür zum Amtszimmer des Papstes gestattete Rocher seinen Gardisten, die standardmäßige körperliche Durchsuchung vorzunehmen, bevor sie Kohler den Eintritt erlaubten. Der tragbare elektronische Detektor war jedoch angesichts der vielen elektronischen Apparaturen in Kohlers Rollstuhl so gut wie unbrauchbar. Die Wachen durchsuchten ihn von Hand, doch sie genierten sich offensichtlich wegen seiner Behinderung und machten ihre Sache nicht besonders gründlich. Sie fanden den Revolver nicht, der im Rollstuhl versteckt war, genauso wenig wie den anderen Gegenstand. das Objekt, von dem Kohler wusste, dass es die Kette von Ereignissen dieses Tages zu einem unvergesslichen Ende führen würde.
Als Kohler ins Amtszimmer des Papstes rollte, fand er
Camerlengo Carlo Ventresca alleine vor. Er kniete im Gebet versunken vor einem erlöschenden Kaminfeuer.
»Guten Abend, Generaldirektor Kohler«, begrüßte Ventresca seinen späten Gast, ohne die Augen zu öffnen. »Sind Sie gekommen, um mich zu einem Märtyrer zu machen?«