Kapitel 86.

Kein Licht. Kein Laut.

Die Geheimarchive lagen in völliger Dunkelheit.

Furcht, erkannte Langdon nun, war eine gewaltige Motivation. Atemlos tastete er sich durch die Dunkelheit auf die Drehtür zu. Er fand den Knopf an der Wand und rammte ihn mit der flachen Handfläche hinein. Nichts geschah. Er versuchte es erneut. Die Tür bewegte sich nicht.

Blind tastete er um sich und rief um Hilfe, doch seine Stimme klang merkwürdig erstickt. Plötzlich wurde ihm bewusst, in welcher Gefahr er schwebte. Seine Lungen ächzten nach Sauerstoff, und Adrenalin ließ sein Herz rasen. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand ohne Vorwarnung in den Unterleib geschlagen.

Als er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür warf, glaubte er für einen Augenblick, sie hätte sich bewegt. Erneut warf er sich dagegen, und wieder vergeblich. Dann erst wurde ihm bewusst, dass sich der gesamte Raum um ihn drehte, nicht die Tür. Er taumelte blind davon, stolperte über eine Rollleiter und schlug der Länge nach hin. Er stieß sich das Knie an einem Regal, rappelte sich fluchend auf und tastete nach der Leiter.

Er fand sie. Er hatte gehofft, sie würde aus schwerem Holz oder Eisen bestehen, doch es war ein Aluminiumgestell. Er packte die Leiter wie einen Rammbock und stürmte damit durch die Schwärze auf die Glaswand zu. Sie war näher, als er geglaubt hatte. Doch die Leiter prallte gegen das dicke Glas des Tresors, ohne Schaden anzurichten. Nach dem Geräusch des Aufpralls zu urteilen, brauchte es sehr viel mehr als eine Aluminiumleiter, um diese Glaswände zu zerbrechen.

Die Pistole fiel ihm ein, und wilde Hoffnung durchzuckte ihn

- um im nächsten Moment wieder zu schwinden. Olivetti hatte ihm die Waffe m Amtszimmer des Papstes abgenommen mit der Begründung, dass in der Gegenwart des Camerlengos niemand eine geladene Waffe bei sich tragen dürfe. Das Argument war Langdon durchaus logisch erschienen.

Er rief erneut um Hilfe, und seine Stimme klang noch schwächer als beim ersten Mal.

Dann erinnerte er sich an das Walkie-Talkie, das der Gardist draußen auf dem Tisch hatte stehen lassen. Warum habe ich es nicht gleich an mich genommen? Vor Langdons Augen tanzten purpurne Sterne, und er zwang sich mit aller Kraft zu logischem Denken. Du warst schon einmal eingeschlossen, erinnerte er sich. Du hast Schlimmeres überlebt. Du warst ein Kind und wusstest, was zu tun war. Die erdrückende Dunkelheit überflutete seinen Verstand. Denk nach!

Er ließ sich auf den Boden nieder, rollte sich auf den Rücken und legte die Hände an die Seiten. Der erste Schritt bestand darin, die Selbstbeherrschung zurückzugewinnen.

Entspann dich. Schone deine Kräfte.

Nachdem sein Kreislauf nicht mehr gegen die Gravitation ankämpfen musste, um Blut in das Gehirn zu pumpen, verlangsamte sich sein Herzschlag merklich. Es war ein Trick, mit dem Schwimmer ihr Blut zwischen rasch aufeinander folgenden Rennen wieder mit Sauerstoff anreicherten.

Hier drin ist jede Menge Luft, sagte er sich. Jede Menge. Und jetzt denk nach! Er wartete, während er hoffte, dass die Beleuchtung jeden Augenblick wieder aufflammte, jedoch vergeblich. Während er dalag und ihm das Atmen von Minute zu Minute leichter fiel, übermannte ihn eine unwirkliche Resignation. Er fühlte sich friedlich und geborgen. Dann kämpfte er gegen diesen Zustand an.

Du musst dich bewegen, verdammt! Aber wohin.

Auf seiner Uhr leuchtete Mickey Mouse munter vor sich hin, als gefiele ihr die Dunkelheit. Einundzwanzig Uhr dreiunddreißig. Noch eine halbe Stunde. Nach seinem persönlichem Empfinden war es bereits wesentlich später. Anstatt einen Ausweg zu suchen, verlangte sein Verstand plötzlich eine Erklärung für seine Lage. Wer hat den Strom abgeschaltet? Dehnt Rocher seine Suche bereits aus? Hätte Olivetti ihn nicht gewarnt, dass ich hier drin bin?

Er öffnete den Mund und legte den Kopf in den Nacken, um seine Luftröhre zu befreien, während er aus vollen Zügen atmete, so tief er konnte. Jeder Zug brannte weniger als der vorangegangene. Sein Kopf wurde klar. Er ordnete seine Gedanken, zwang sich zu kühler Logik.

Glaswände, sagte er sich. Aber verdammt dickes Glas.

Er fragte sich, ob es in diesem Tresor vielleicht auch Bücher gab, die in schweren, feuersicheren Metallkisten gelagert wurden. Langdon hatte sie in anderen Archiven gesehen, jedoch noch nicht hier im Vatikanischen Archiv. Außerdem würde es wahrscheinlich sehr viel Zeit kosten, eine solche Kiste im Dunkeln zu finden. Und er hätte sie bestimmt nicht heben können, nicht in seinem derzeitigen Zustand.

Was ist mit dem Lesetisch? Langdon wusste, dass es im Zentrum des Tresors einen Lesetisch gab, genau wie in den anderen Tresoren. Na und? Den kriege ich auch nicht gehoben. Außerdem, selbst wenn es ihm gelänge, den Tisch zu bewegen, würde er nicht weit damit kommen. Die Regale standen eng beieinander, und die Zwischenräume waren viel zu schmal.

Die Zwischenräume sind zu schmal...

Plötzlich wusste er die Lösung.

Mit neu erwachter Zuversicht sprang er auf - viel zu schnell. Schwindel überkam ihn, und er tastete Halt suchend umher. Seine Hände berührten ein Regal. Er zwang sich, einen Moment auszuruhen. Er würde all seine Kraft brauchen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen.

Schließlich stemmte er sich gegen das Regal wie ein Footballspieler gegen einen Trainingsschlitten und drückte. Wenn es mir gelingt, das Regal umzuwerfen... Doch das Regal bewegte sich kaum. Er nahm erneut Maß, drückte wieder mit aller Kraft. Seine Füße glitten auf dem Boden ab. Das Regal knarrte, doch es bewegte sich nicht.

Er brauchte einen Hebel.

Langdon tastete sich zur Glaswand zurück und behielt mit einer Hand Kontakt zu ihr, während er sich durch die Dunkelheit zur anderen Seite des Tresors bewegte. Die Rückwand kam schneller als erwartet, und er prallte mit der Schulter dagegen. Fluchend umrundete er das Regal und packte es ungefähr in Augenhöhe. Dann begann er, daran hochzuklettern, indem er sich mit einem Fuß an der gegenüberliegenden Glaswand abstützte. Ringsherum fielen Bücher aus den Regalböden und landeten raschelnd in der Dunkelheit, doch es war ihm egal. Der Überlebensinstinkt war stärker als alle archivarische Rücksicht, Langdons Gleichgewichtsinn war durch die Dunkelheit beeinträchtigt, und er schloss die Augen und zwang sich, jeglichen eingebildeten visuellen Reiz zu ignorieren. Nun ging es schneller voran. Die Luft wurde dünner, je höher er kam. Dann hatte er den obersten Regalboden erreicht und versuchte, sich vollends hinaufzuziehen. Wie ein Felskletterer, der einen Grat überwindet, setzte er an der Glaswand einen Fuß hinter den anderen, bis er eine beinahe waagerechte Stellung erreicht hatte.

Jetzt oder nie, Robert, drängte eine innere Stimme. Genau wie in der Beinpresse im Fitnessraum von Harvard.

Ihm war schwindlig, als er mit Brust und Armen gegen das Regal drückte und sich gleichzeitig mit den Füßen von der Glaswand abstieß. Nichts geschah.

Keuchend korrigierte er seine Position und drückte erneut. Das Regal bewegte sich unmerklich. Langdon drückte weiter, streckte die Beine, und das Regal schaukelte ein paar Zentimeter vor und zurück. Langdon nutzte den Schwung aus, atmete tief die sauerstoffarme Luft und drückte ein drittes Mal. Das Regal schwankte stärker.

Wie ein Pendel, sagte er sich. Du musst den Rhythmus halten, dann kannst du es aufschaukeln. Immer weiter.

Langdon drückte die Beine bei jedem Schaukeln ein wenig mehr durch. Seine Oberschenkel brannten wie Feuer, doch er achtete nicht auf den Schmerz. Das Pendel war in Bewegung. Noch drei Stöße, sagte er sich.

Er benötigte nur zwei.

Einen Augenblick lang spürte er schwerelose Unsicherheit, dann fiel er zusammen mit zahllosen rutschenden Büchern nach vorn.

Auf halbem Weg zum Boden prallte das Regal gegen ein weiteres. Langdon klammerte sich mit aller Kraft fest. Einen Augenblick herrschte bewegungslose Panik, doch sein Gewicht und das des fallenden Regals reichten aus, um den Dominoeffekt in Gang zu setzen. Das zweite Regal kippte. Langdon fiel erneut.

Eines nach dem anderen kippten die gewaltigen Regale krachend um. Metall stieß dröhnend gegen Metall, und überall war das Geräusch fallender Bücher zu vernehmen. Langdon klammerte sich fest, während sein Regal wie eine Sperrklinke auf einem Wagenheber nach unten rutschte. Er fragte sich, wie viele Regale es insgesamt sein mochten. Wie viel mochten sie wiegen? Das Glas auf der anderen Seite war dick.

Langdons Regal befand sich fast in der Horizontalen, als er hörte, worauf er gewartet hatte - ein Geräusch von einem anderen Aufprall. Ein Stück entfernt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Büchertresors. Das scharfe Krachen von Metall auf Glas. Der gesamte Tresor erzitterte, und Langdon wusste, dass das Regal auf der anderen Seite die Glaswand getroffen hatte. Was nun folgte, war das

unwillkommenste Geräusch, das Langdon je gehört hatte.

Nämlich gar keins.

Kein zersplitterndes Glas, nur das widerhallende Krachen der Wand, die das Gewicht der gegen sie fallenden Regale aufgefangen hatte. Langdon lag mit weit aufgerissenen Augen auf dem Bücherhaufen. Nach einer Sekunde vernahm er ein leises Knistern. Er hätte den Atem angehalten, um zu lauschen, doch er hatte keine Luft mehr in den Lungen.

Eine Sekunde. Eine weitere.

Dann, am Rande der Bewusstlosigkeit, spürte er, wie etwas nachgab. Das Knistern wurde lauter, breitete sich durch die gegenüberliegende Wand hindurch aus, und plötzlich, wie von einer Kanonenkugel getroffen, explodierte das Glas.

Das Regal unter Langdon krachte vollends zu Boden.

Mit lautem Zischen strömte Frischluft herein.

Vittoria stand noch in der Krypta des Petersdoms über dem Leichnam des verstorbenen Papstes, als dreißig Sekunden später das elektronische Piepsen eines Walkie-Talkies die Stille durchbrach. Die Stimme klang, als würde der Sprecher unter starker Atemnot leiden. »Hier Robert Langdon! Kann mich jemand hören?«

Vittoria blickte auf. Robert! Sie konnte kaum glauben, wie sehr sie sich den großen sympathischen Amerikaner in diesem Augenblick herbeisehnte!

Die Gardisten wechselten überraschte Blicke. Einer nahm sein Walkie-Talkie vom Gürtel. »Mr. Langdon? Sie sind auf Kanal drei! Oberst Olivetti erwartet Ihren Ruf auf Kanal eins!«

»Ich weiß, dass er auf Kanal eins wartet, verdammt! Ich will nicht mit Olivetti reden! Ich will mit dem Camerlengo sprechen, auf der Stelle! Suchen Sie den Camerlengo und holen Sie ihn ans Gerät!«

In der Dunkelheit des Vatikanischen Geheimarchivs stand

Robert Langdon inmitten von gesplittertem Glas und bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen. Er spürte eine warme Flüssigkeit auf der linken Hand und wusste, dass er blutete. Plötzlich meldete sich die Stimme des Camerlengos. Langdon schrak zusammen.

»Hier spricht Camerlengo Carlo Ventresca. Was geht da vor, Mr. Langdon?«

Langdon drückte den Knopf. Sein Herz hämmerte immer noch wild. »Ich glaube, jemand hat gerade versucht, mich umzubringen!«

Schweigen.

Langdon versuchte sich zu beruhigen. »Außerdem weiß ich, wo der nächste Mord verübt wird.«

Die Antwort kam nicht von Camerlengo Ventresca, sondern von Oberst Olivetti. »Mr. Langdon, sagen Sie kein Wort mehr!«

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