Kapitel 64.

Das Taxi schaffte den Sprint über die breite Via della Scrofa in etwas mehr als einer Minute. Als Langdon und Vittoria auf der Piazza del Popolo aus dem Wagen sprangen, war es fast acht. Robert hatte kein italienisches Geld und bezahlte den Fahrer mit (zu vielen) amerikanischen Dollar. Die Piazza lag ruhig, bis auf das fröhliche Lachen und die Unterhaltungen einiger Einheimischer in einem Straßencafe. Es war das Rosati -ein beliebter Treff italienischer Literaten. Der Duft von frischem Espresso und Gebäck hing in der Luft.

Langdon hatte sich immer noch nicht von dem Schock seiner Fehlinterpretation mit dem Pantheon erholt. Jetzt, als er den Blick über die Piazza schweifen ließ, schrillten seine inneren Alarmglocken. Alles roch förmlich nach Hluminati. Der Platz besaß eine elliptische Grundform, und genau im Zentrum stand ein ägyptischer Obelisk - eine quadratische, sich nach oben hin verjüngende Steinsäule mit einer pyramidenförmigen Spitze. Ein Beutestück aus der imperialen Zeit der Plünderungen; überall in Rom fanden sich Obelisken dieser Art, himmelwärts gerichtete Erweiterungen des heiligen Pyramidensymbols.

Während Langdon den Obelisken betrachtete, wurde sein Blick von einem unauffälligen Detail im Hintergrund angezogen.

»Wir sind am richtigen Ort«, sagte er leise zu Vittoria und spürte, wie ihn Erregung erfasste. »Sehen Sie sich das dort an« Er deutete auf die imposante Porta del Popolo - den großen Torbogen auf der anderen Seite der Piazza. Das Bauwerk überragte den Platz seit Jahrhunderten. Genau in der Mitte, über dem höchsten Punkt des Torbogens und einem Wappen aus Stuck, prangte eine Giebelverzierung. »Kommt Ihnen das nicht irgendwie bekannt vor?«

Vittoria blickte hinauf zu dem großen Bild. »Eine Sonne über einem dreieckigen Steinhaufen?«

Langdon schüttelte den Kopf. »Ein Licht über einer Pyramide.«

Vittoria drehte sich um und starrte ihn aus geweiteten Augen an. »Wie. wie das Große Siegel der Vereinigten Staaten?«

»Exakt. Das Freimaurersymbol auf der amerikanischen EinDollar-Note.«

Vittoria atmete tief durch und suchte mit Blicken die Piazza ab. »Und wo ist nun diese verdammte Kirche?«

Die Kirche Santa Maria del Popolo stand schräg am Hang eines Hügels, der an den südöstlichen Rand der Piazza grenzte. Sie ragte aus ihrer Umgebung wie ein gestrandetes Schlachtschiff, Die Steinfassade aus dem elften Jahrhundert wirkte noch plumper durch das Baugerüst, das die gesamte Vorderseite bedeckte.

Langdons Gedanken rasten, als sie auf die Kirche zueilten, Die Waffe in seiner Brusttasche war schwer und unangenehm, Er starrte auf die Kirche und fragte sich, ob dort drinnen tatsachlich jeden Augenblick ein Mord geschehen würde. Hoffentlich beeilte sich Olivetti!

Die weit ausladende Treppe vor dem Haupteingang wirkte einladend - ein Eindruck, der im krassen Gegensatz zum Gerüst und dem roten Warnschild stand:

CONSTRUZZIONE. NON ENTRARE.

Langdon wurde bewusst, dass eine Kirche, die aufgrund von Renovierungsarbeiten geschlossen war, dem Mörder völlige Ungestörtheit verschaffte. Im Gegensatz zum Pantheon. Hier waren keine fantasievollen Tricks nötig, um die Tat zu begehen. Der Assassine musste nur einen Weg hineinfinden.

Ohne zu zögern schlüpfte Vittoria zwischen den Gerüsten hindurch und die Treppe hinauf.

»Vittoria!«, warnte Langdon. »Wenn er immer noch da drin ist.!«

Sie schien ihn nicht zu hören und näherte sich unbeirrt dem Portikus und der großen Tür darunter. Langdon eilte hinter ihr her. Bevor er noch ein Wort sagen konnte, hatte sie bereits den Türgriff in der Hand und drückte die Klinke herunter. Langdon hielt den Atem an. Die Tür war verschlossen.

»Es gibt sicher noch einen weiteren Eingang«, sagte Vittoria.

»Ja, möglich«, entgegnete Langdon aufatmend. »Aber Olivetti ist in einer Minute hier. Es ist viel zu gefährlich, jetzt reinzugehen. Wir sollten die Kirche aus sicherer Entfernung im Auge behalten, bis.«

Vittoria drehte sich mit blitzenden Augen zu ihm um. »Wenn es einen anderen Weg hinein gibt, dann führt er auch wieder hinaus! Wenn dieser Kerl verschwindet, sind wir fungito.«

Langdon verstand genügend Italienisch, um zu wissen, dass sie Recht hatte.

Die Gasse zur rechten Seite der Kirche war eng und dunkel, mit hohen Mauern zu beiden Seiten. Es stank nach Urin - ein verbreiteter Geruch in Städten, wo es zwanzig Mal mehr Lokale als öffentliche Toiletten gab.

Langdon und Vittoria eilten durch das übel riechende Halbdunkel. Sie waren vielleicht fünfzehn Meter weit gekommen, als Vittoria ihn am Arm zog und mit dem Finger auf irgendetwas deutete.

Langdon hatte es ebenfalls gesehen. In der Kirchenmauer befand sich eine unauffällige Holztür mit schweren Angeln. Es war eine gewöhnliche porta sacra, ein Nebeneingang für die Geistlichen. Die meisten derartigen Eingänge wurden seit Jahren nicht mehr benutzt, seit Neubauten in der Umgebung und

Grundstücksmangel die Seiteneingänge in düstere schmale Gassen verwandelt hatten.

Vittoria rannte zur Tür, blieb davor stehen und starrte verdutzt auf das Schloss. Langdon kam hinter ihr an und betrachtete den eigenartig geformten Ring an der Stelle, wo sich normalerweise der Türknopf befunden hätte.

»Ein Anulus«, flüsterte er. Er streckte die Hand aus und hob den Ring vorsichtig und leise an; dann zog er ihn zu sich. Das Schloss klickte. Vittoria erschauerte und wirkte plötzlich aufgeregt. Leise drehte Langdon den Ring im Uhrzeigersinn. Er ließ sich ohne Widerstand und ohne einzurasten um dreihundert sechzig Grad drehen. Langdon runzelte die Stirn und drehte den Ring in die andere Richtung - mit dem gleichen Ergebnis.

Vittoria starrte suchend in die Gasse hinaus. »Glauben Sie, es könnte noch einen dritten Eingang geben?«

Langdon bezweifelte es. Die meisten Renaissancekirchen waren so gebaut, dass sie als improvisierte Fluchtburgen dienen konnten für den Fall, dass fremde Armeen die Stadt stürmten. Es gab so wenig Eingänge wie möglich. »Falls es einen dritten Eingang gibt«, sagte er, »befindet er sich aller Wahrscheinlichkeit nach im hinteren Teil - mehr ein Fluchtweg als ein richtiger Eingang.«

Vittoria war bereits wieder in Bewegung.

Langdon folgte ihr tiefer in die Gasse hinein. Die Wände tagten rechts und links von ihm in den Himmel. Irgendwo begann eine Glocke zu läuten. Es war acht Uhr.

Robert Langdon hörte Vittoria nicht gleich beim ersten Mal, als sie seinen Namen rief. Er war vor einem vergitterten Bleiglasfenster stehen geblieben und versuchte ins Innere der Kirche zu schauen.

»Robert!« Ihre Stimme war ein drängendes Flüstern.

Langdon drehte sich zu ihr um. Sie stand am Ende der Gasse, deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Rückseite der Kirche und winkte ihm mit der anderen Hand, zu ihr zu kommen. Zögernd fiel Langdon in Laufschritt. An der rückwärtigen Mauer ragte ein Vorsprung in die Gasse, und dahinter verbarg sich ein schmaler Gang - eine Passage, die direkt bis zum Fundament der Kirche hinunterführte.

»Ein Eingang?«, fragte Vittoria.

Langdon nickte. Eigentlich ein Ausgang, aber wir wollen nicht päpstlicher sein als der Papst.

Vittoria ging in die Hocke und spähte in den Tunnel. »Kommen Sie, wir überprüfen die Tür und sehen nach, ob sie offen ist.«

Langdon öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Vittoria nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich in den Gang hinunter.

»Warten Sie«, sagte er.

Sie wandte sich ungeduldig zu ihm um.

Langdon seufzte. »Ich gehe zuerst.«

Vittoria blickte ihn überrascht an. »Es gibt doch noch Kavaliere?«

»Alter vor Schönheit.«

»War das ein Kompliment?«

Langdon lächelte und schob sich an ihr vorbei in die Dunkelheit. »Vorsicht bei den Stufen.«

Langsam, vorsichtig tastete er sich mit einer Hand an der Wand tiefer in die Dunkelheit. Die Steine unter seinen Fingerspitzen waren scharfkantig und feucht. Die Legende von Daidalos kam ihm in den Sinn, dem griechischen Baumeister, der wusste, dass er aus dem Labyrinth des Minotaurus entkommen würde, wenn er nur immer an einer Wand entlang ging. Langdon war nicht so sicher, ob er wissen wollte, was ihn

am Ende dieses Ganges erwartete.

Der Tunnel wurde enger, und Langdon tastete sich noch langsamer voran. Er spürte Vittoria dicht hinter sich. Die Wand wich nach links zurück, und der Tunnel öffnete sich in einen halbkreisförmigen Alkoven hinein. Merkwürdigerweise war es hier drin heller als im Gang. Im Halbdunkel bemerkte Langdon die Umrisse einer schweren Holztür.

»Oh«, sagte er.

»Verschlossen?«

»Das war sie.«

»War?« Vittoria trat neben ihn.

Langdon deutete auf das Schloss. Schwaches Licht kam aus dem Raum hinter der offen stehenden Tür. noch immer steckte das Brecheisen im Holz, mit dem sie aufgebrochen worden war.

Sie standen einen Augenblick schweigend da. Dann spürte Langdon in der Dunkelheit Vittorias Hand auf seiner Brust. tastend glitt sie unter sein Jackett.

»Entspannen Sie sich, Professor«, sagte sie. »Ich hole nur die Waffe heraus.«

In diesem Augenblick schwärmte im Vatikanischen Museum ein großer Trupp Schweizergardisten in alle Richtungen aus. Das Museum lag dunkel da, und die Gardisten trugen Infrarotbrillen. Alles schimmerte in gespenstischen Grüntönen. Die Gardisten führten antennenartige Detektoren mit sich, die sie vor sich schwenkten - die gleichen Geräte, die sie zweimal in der Woche einsetzten, um in den Räumen des Vatikans nach elektronischen Wanzen zu suchen. Sie bewegten sich langsam und methodisch, sahen hinter den Statuen nach, in Nischen, Schränken und unter Möbeln. Die Geräte würden ein Warnsignal ausstoßen, sobald sie auch nur die kleinste Spur eines magnetischen Feldes fanden.

Doch die Gardisten warteten vergeblich auf dieses Signal.

Sämtliche Geräte blieben stumm.

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