Die Luft im Innern des Pantheons war kühl und feucht und roch nach Geschichte. Die gewaltige Kuppel der Decke hoch über ihnen wirkte eigenartig schwerelos, obwohl ihr Durchmesser von mehr als dreiundvierzig Metern sogar den der Kuppel des Petersdoms übertraf. Wie immer liefen Langdon Schauer über den Rücken, als er die gewaltige Halle betrat. Sie war eine bemerkenswerte Verschmelzung von Architektur und Kunst. Über ihnen fiel ein warmer Sonnenstrahl durch das berühmte Dämonenloch ins Innere. Der Oculus, dachte Langdon.
Sie waren angekommen.
Langdons Augen folgten dem Verlauf der gewölbten Kuppel bis zu der Stelle, wo sie in die senkrechte Außenwand überging, und von dort aus weiter zum Marmorfußboden. Das leise Echo von Schritten und murmelnden Stimmen von Touristen hallte durch den Saal. Langdon musterte verstohlen die Besucher, die ziellos in den Schatten umherwanderten. Bist du hier?
»Sieht ziemlich still aus«, sagte Vittoria. Sie hielt immer noch seine Hand.
Langdon nickte.
»Wo ist Raphaels Grab?«
Langdon überlegte einen Augenblick und versuchte sich zu orientieren. Er musterte die Peripherie des Raums. Gräber. Altäre. Säulen. Nischen. Er deutete auf eine besonders prachtvoll ausgeschmückte Nische auf der anderen Seite der Halle, ein Stück zur Linken. »Ich glaube, dort drüben«, sagte er.
Vittoria blickte sich suchend um. »Ich sehe niemanden, der aussieht, als würde er im nächsten Augenblick einen Kardinal ermorden. Sollen wir uns ein wenig umsehen?«
Langdon nickte. »Es gibt nur eine Stelle, wo jemand sich verstecken könnte. Besser, wir sehen in den rientranze nach.«
»In den Alkoven?«
»Ja. Die Nischen in den Wänden.«
Die Nischen zwischen den Säulen waren groß genug, um sich in ihren Schatten zu verstecken. Langdon wusste, dass sie einst die Statuen der römischen Götter beherbergt hatten, doch die heidnischen Skulpturen waren zerstört worden. Erneut stiegen Enttäuschung und ein Gefühl der Hilflosigkeit in ihm auf; hier stand er nun am ersten Altar der Wissenschaft, und der Wegweiser war verschwunden. Er fragte sich, welche Statue es gewesen sein mochte und wohin sie gezeigt hatte. Langdon konnte sich nichts Aufregenderes vorstellen, als einen Wegweiser der Illuminati zu entdecken - eine Statue, die verstohlen in die Richtung deutete, in die der Weg der Erleuchtung führte. Einmal mehr fragte er sich, wer der unbekannte Illuminati-Bildhauer gewesen sein mochte.
»Ich gehe links herum«, entschied Vittoria. »Sie nehmen die rechte Seite. Wir treffen uns auf der gegenüberliegenden Seite.«
Langdon grinste düster.
Als Vittoria gegangen war, schritt auch Langdon aus. Die Stimme des Assassinen schien in dem toten Raum ringsum widerzuhallen. Acht Uhr. jungfräuliche Opfer auf den Altären der Wissenschaft... eine mathematische Progression des Todes. Acht... neun... zehn... elf. und um Mitternacht. Langdon warf einen Blick auf die Uhr. Acht Minuten vor acht. Noch acht Minuten.
Er näherte sich der ersten Nische und kam am Grab eines der katholischen Könige von Italien vorbei. Der Sarkophag lag schief. Eine Gruppe von Besuchern schien deswegen zu rätseln. Langdon blieb nicht stehen, um es zu erklären. Christliche Gräber waren häufig so ausgerichtet, dass die Gesichter der Toten nach Osten zeigten, ohne Rücksicht auf die umgebende
Architektur. Erst letzten Monat hatte Langdon noch in der Symbolologie-Vorlesung mit seinen Studenten über diesen alten Aberglauben diskutiert.
»Das ist völlig absurd!«, hatte eine Studentin in der ersten Reihe gerufen, als Langdon den Grund für die nach Osten zeigenden Gräber erklärt hatte. »Warum sollten Christen ihre Gräber der aufgehenden Sonne zuwenden? Wir sprechen vom Glauben an Christus, nicht von irgendwelchen Sonnenanbetern.«
Langdon hatte still gelächelt und war, einen Apfel kauend, vor der Tafel auf und ab gegangen. »Mr. Hitzrot«, rief er.
»Wer, ich?« Ein junger Mann, der in einer der hinteren Reihen geistesabwesend gedöst hatte, schrak hoch.
Langdon deutete auf das Poster an der Wand, auf dem ein Renaissancebild zu sehen war. »Wer ist dieser Mann, der vor Gott kniet?«
»Ah. irgendein Heiliger?«
»Brillant. Und woher wissen Sie, dass er ein Heiliger ist?«
»Er hat einen Heiligenschein?«
»Ausgezeichnet. Und an was erinnert Sie dieser goldene Heiligenschein?«
Hitzrot lächelte verlegen. »Diese ägyptischen Dinger, über die wir im letzten Semester gesprochen haben? Diese. äh, Sonne nscheiben?«
»Danke sehr, Mr. Hitzrot. Legen Sie sich wieder hin.« Langdon wandte sich an seine Hörer. »Halos entstammen, wie viele andere Gegenstände der christlichen Symbolologie, der ägyptischen Sonnenanbetung. Das gesamte Christentum ist durchsetzt mit Beispielen dafür.«
»Verzeihung«, widersprach die junge Studentin in der ersten Reihe. »Ich gehe regelmäßig zur Kirche, aber ich habe noch nie gesehen, dass dort die Sonne angebetet würde.«
»Tatsächlich nicht? Und was feiern Sie am fünfundzwanzigsten Dezember?«
»Weihnachten. Christi Geburt.«
»Und doch wurde Christus der Bibel nach im März geboren. Warum also feiert die Christenheit dieses Ereignis Ende Dezember?«
Schweigen.
Langdon lächelte. »Der fünfundzwanzigste Dezember, meine Freunde, ist der alte heidnische Feiertag der unbesiegten Sonne, des Gottes Sol Invictus Heliogabalus. Er fällt mehr oder weniger mit der Wintersonnenwende zusammen. Das ist dieser wundervolle Tag im Jahr, an dem die Sonne zurückkehrt und von wo an die Tage wieder länger werden.«
Langdon nahm einen weiteren Bissen vom Apfel.
»Aufblühende Religionen adoptieren häufig existierende Feiertage, um neuen Gläubigen den Übertritt zu erleichtern«, fuhr er fort. »Man nennt dieses Phänomen Transmutation. Es hilft den Menschen, sich an den neuen Glauben zu gewöhnen. Sie behalten ihre alten Feiertage, beten an den gleichen heiligen Orten, benutzen ähnliche Symbole. lediglich die Gottheit wird ersetzt.«
Jetzt wurde die junge Frau in der ersten Reihe richtig wütend. »Sie wollen doch wohl nicht andeuten, dass das Christentum nichts weiter ist als eine Art. eine Art Sonnenanbeterei in neuer Verpackung?«
»Nicht im Geringsten. Das Christentum hat nicht nur bei den Sonnenanbetern Anleihen gemacht. Das Ritual der Heiligsprechung beispielsweise ist den
alten>Gottwerdungsritualen zu nehmen, reicht bis in die früheste Zeit zurück.« Die junge Frau funkelte ihn wütend an. »Ist denn überhaupt etwas am Christentum echt?« »Es ist eine Tatsache, dass jede organisierte Religion nur wenig Echtes besitzt. Religionen entstehen nicht aus dem Nichts. Sie entstehen auseinander. Moderne Religionen sind ein Sammelsurium. eine historische Abfolge, welche die Suche des Menschen nach göttlichem Verständnis widerspiegelt.« »Äh. einen Augenblick bitte!«, rief Hitzrot, der mit einem Mal hellwach wirkte. »Ich weiß etwas, das ursprünglich christlich ist! Oder was sagen Sie zu unserem Bild von Gott? Christliche Kunst porträtiert Gott niemals als Falken oder Sonne oder sonst irgendetwas, sondern stets als alten Mann mit langem, weißem Bart. Also ist unser Bild von Gott ursprünglich, richtig?« Langdon lächelte erneut. »Als die frühen Christen ihre alten Gottheiten aufgaben - heidnische Götter, römische Götter, griechische Götter -, wollten sie von der Kirche wissen, wie ihr neuer Gott denn aussieht. Und die Kirche wählte in kluger Umsicht das meistgefürchtete, weiseste, mächtigste und vertrauteste Gesicht in der Geschichte der heidnischen Götter.« Hitzrot schien skeptisch. »Ein alter Mann mit einem weißen Rauschebart?« Langdon deutete auf die Hierarchie der griechischen Götter auf einer Wandtafel. Zuoberst saß ein Mann mit weißem, langem Bart. »Kommt Ihnen Zeus ‘nicht irgendwie bekannt vor?« Das Klingelzeichen beendete die Stunde wie auf ein Stichwort. »Guten Abend«, sagte eine Männerstimme. Langdon zuckte zusammen. Er war wieder im Pantheon. Er wandte sich um und sah sich einem älteren Mann gegenüber, der ein blaues Cape mit einem roten Kreuz auf der Brust trug. Er lächelte Langdon an und entblößte eine Reihe vergilbter Zähne. »Sie sind Engländer, habe ich Recht?« Der Mann sprach mit starkem toskanischem Akzent. Langdon blinzelte verwirrt. »Offen gestanden, nein. Ich bin Amerikaner.« Der Mann blinzelte verlegen. »Oh, bitte verzeihen Sie. Sie waren so schick gekleidet, und da dachte ich. bitte entschuldigen Sie.« »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Langdon mit wild pochendem Herzen. »Offen gestanden, dachte ich eigentlich, ich könnte Ihnen helfen. Ich bin der Cicerone, wissen Sie?« Der Mann deutete stolz auf sein Abzeichen, das ihn als städtischen Fremdenführer auswies. »Meine Aufgabe besteht darin, Ihren Aufenthalt in Rom so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten.« Noch abwechslungsreicher?, dachte Langdon. Eigentlich war sein Aufenthalt in Rom durchaus kurzweilig genug. »Sie sehen wie ein gebildeter Mann aus«, schmeichelte der Führer. »Ohne Zweifel haben Sie größeres Interesse an der Kultur als viele andere. Vielleicht darf ich Ihnen ein wenig über die Geschichte dieses faszinierenden Bauwerks erzählen?« Langdon lächelte freundlich. »Das ist sehr nett von Ihnen, doch ich bin, offen gestanden, selbst Kunsthistoriker und weiß.« »Ausgezeichnet!« Die Augen des Fremdenführers leuchteten auf, als hätte er sechs Richtige im Lotto. »Dann wissen Sie dieses Gebäude ohne Zweifel zu würdigen!« »Ich denke, ich würde lieber.« »Das Pantheon.«, erklärte der Mann und begann seinen einstudierten Vortrag, »wurde im Jahre siebenundzwanzig vor Christus von Marcus Agrippa gebaut.« »Ja«, unterbrach ihn Langdon. »Und Hadrian errichtete es l19 nach Christus neu.« »Es war bis ins Jahr 1960 die weltgrößte freitragende Kuppelkonstruktion. Erst das Superdome in New Orleans war größer.« Langdon stöhnte auf. Der Mann ließ sich nicht unterbrechen. »Ein Theologe des fünften Jahrhunderts nannte das Pantheon das Haus des Teufels, und er glaubte, das Loch in der Kuppel sei der Eingang für Dämonen.« Langdon hörte ihm nicht mehr zu. Er richtete den Blick nach oben, und das erste von Vittoria vorgeschlagene Szenario stieg vor seinem geistigen Auge auf. ein gpbrandmarkter Kardinal, der schreiend durch das Loch stürzte und auf dem Marmorboden aufschlug. Das wäre wirklich ein Ereignis, auf das die Medien sich stürzen würden. Unwillkürlich suchte er das Pantheon nach Reportern ab. Niemand zu sehen. Er atmete auf. Es war eine absurde Vorstellung. Die Logistik für ein derartiges Unternehmen wäre viel zu aufwändig. Während Langdon seine Inspektion fortsetzte, folgte ihm der plappernde Führer wie ein nach Liebe hungernder Welpe. Erinnere mich daran, dachte Langdon, dass es nichts Schlimmeres gibt als einen Kunsthistoriker, der sich gerne reden hört. Auf der anderen Seite des Saals war Vittoria in ihre eigene Suche vertieft. Zum ersten Mal, seit sie die Nachricht vom Tod ihres Vaters erreicht hatte, stand niemand bei ihr, und sie spürte, wie die Realität der letzten acht Stunden auf sie eindrang. Ihr Vater war ermordet worden. grausam und ohne jede Warnung. Wenigstens genauso schmerzhaft war die Erkenntnis, dass jemand die Erfindung ihres Vaters gestohlen und sie zu einem Werkzeug für Terroristen umfunktioniert hatte. Vittoria wurde von Schuldgefühlen geplagt - der Gedanke, dass es ihre Erfindung war, die es den Dieben ermöglicht hatte, die Antimaterie zu stehlen. ihr Behälter, der nun irgendwo im Vatikan stand und vor sich hin tickte. In ihren Bemühungen, ihrem Vater bei der Suche nach der reinen Wahrheit zu helfen, hatte sie sich zu einer Handlangerin des Terrors gemacht. Eigenartigerweise war das Einzige, das Vittoria in ihrem Leben derzeit richtig erschien, die Gegenwart eines Fremden. Robert Langdon. Sie fand eine unerklärliche Zuflucht in seinen Augen. wie die Harmonie der Ozeane, die sie am Morgen hinter sich gelassen hatte. Sie war froh, dass er in ihrer Nähe war. Nicht nur, dass er sie mit Kraft und Hoffnung erfüllte, er besaß auch einen raschen Verstand und hatte diese eine Chance entdeckt, den Mörder ihres Vaters zu finden. Vittoria atmete tief durch, als sie ihre Suche fortsetzte und sich entlang den Nischen des Pantheons bewegte. Sie wurde übermannt von dem unerwarteten Wunsch nach persönlicher Rache, der schon den ganzen Tag ihre Gedanken beherrschte. Auch wenn sie alles Leben liebte. sie wollte diesen Mörder tot sehen. Kein noch so gutes Karma würde sie an diesem Tag dazu bringen, auch die andere Wange hinzuhalten. Aufgeschreckt und fasziniert bemerkte sie, dass sich etwas in ihrem italienischen Blut regte, das sie noch nie zuvor gefühlt hatte. das Flüstern siziliani scher Vorfahren, die ihre Familien mit brutaler Selbstjustiz verteidigten. Vendetta, dachte Vittoria, und Zum ersten Mal im Leben verstand sie dieses Gefühl. Visionen von Rache spornten sie an. Sie näherte sich dem Grab von Raphael Santi. Selbst auf einige Entfernung hin war zu erkennen, dass dieser Mann etwas Besonderes gewesen sein musste. Die Nische in der Wand, die den Sarkophag enthielt, war im Gegensatz zu den anderen durch eine Plexiglasscheibe geschützt. Durch die Scheibe hindurch war nur die Vorderseite des Sarkophags zu erkennen. RAPHAEL SANTI, 1483-1520 Vittoria betrachtete das Grab; dann las sie die Plakette direkt daneben. Und las sie erneut. Und ein drittes Mal. Einen Augenblick später rannte sie entsetzt quer durch die Halle zu Langdon. »Robert! Robert!«