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War es Wirklichkeit oder ein Traum? Oder bin ich in einem Märchenland angekommen?

Unter diesen Umständen

Ich kann mir nicht helfen, meine Vorstellungskraft schweift unkontrolliert umher, und ich fange an, gleich mehrere Luftschlösser auf einmal zu bauen. Das erlaube ich mir heute und vielleicht auch morgen. Sie kosten schließlich nichts, und wenn es sein muss, lassen sie sich leicht wieder einreißen.

AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE

Ein Meer aus Wolken im zarten Licht des neuen Tages, noch unberührt von Morgenröte.

Fortune saß auf dem Felsvorsprung, einmal mehr staunend über diese Laune der Natur, die so greifbar schien und doch so flüchtig war. Ein Zauber, der mehrere Elemente miteinander verband und doch keinem von ihnen ganz anzugehören schien.

Pure Poesie, jenseits aller Worte.

Es war der stillste Ort, den er sich vorstellen konnte. So still, dass er seine eigenen Atemzüge, seinen Herzschlag überlaut hören konnte. Eine Stille, in der Ruhe und Klarheit bei ihm Einzug hielten.

Ein Gefühl von absoluter, vollkommener Freiheit war es hier oben. Eine erhabene, beinahe schwindelerregende Freiheit.

Sein Blick wanderte über die Inseln dieses Meeres und über seine Küste: die Bergrücken und Felsgrate, von den ersten Sonnenstrahlen mal als schwarze Monolithe gezeichnet, mal wie Bernstein leuchtend.

Berge wie diese mussten es sein, die die Wolken fingen und dafür sorgten, dass China so reich an Regen war. Luftströmungen über dem Wechselspiel von Ebenen und Gebirge schufen ein vielfältiges Klima, das für alle denkbaren Pflanzen Platz bot. Flusstäler und Schluchten bildeten einen geschlossenen Raum, in dem sich Arten ungestört entwickeln konnten. Chinas Größe, aber auch sein facettenreiches Gesicht waren der Grund für diesen außerordentlichen Reichtum an Pflanzen. Eine Fülle, eine Vielfalt, wie es sie vielleicht kein zweites Mal auf dieser Welt gab.

Er hatte geglaubt, die Beschaffenheit der Natur zu kennen. Ihre Grundlagen. Ihre Mechanismen.

Die Natur war jedoch kein Uhrwerk aus zwar zusammenhängenden, aber eigentlich voneinander unabhängigen Teilen, das man beliebig auseinandernehmen und wieder zusammensetzen konnte. Ein eigenständiges Wesen war sie. Ein lebendiger, atmender Organismus, eigenwillig und noch voller Rätsel.

Alles hing zusammen und bedingte einander: Himmel und Erde und Berge, Pflanzen und Tiere und Menschen. Untereinander verbunden in einem hauchfein gewobenen, unendlich komplexen Netz, das seinem ganz eigenen Herzschlag, seinen eigenen Atemzügen folgte. Wo auch immer man an diesem Netz zog, es zusammenzurrte oder dehnte, es vielleicht sogar zerriss – es würde weitreichende Folgen haben. Weiter, als des Menschen Verstand und Sicht womöglich ermessen konnte.

Ein Menschenleben würde nicht ausreichen, um dieses Netz zur Gänze zu erforschen und zu verstehen, vielleicht würden auch die Wissbegierde und die Studien vieler Generationen dafür nicht ausreichen.

So viel er aus Büchern auch gelernt hatte und auf seinen Streifzügen durch die Wiesen Berwickshires, im Botanischen Garten von Edinburgh und in den Treibhäusern von Chiswick – die Begegnung mit der überbordenden, ungezähmten Wildnis Chinas hatte seinen Blick geöffnet.

Er wünschte sich, er könnte länger bleiben. Noch mehr von diesen Schätzen an Pflanzen und Blumen entdecken und studieren, von der Küste bis an den Himalaya, vom weitesten Westen bis zum östlichsten Osten.

Obwohl kein vernünftiger Mann des Westens sich wünschen konnte, hier in China zu leben oder zu sterben. Das war ihm bewusst, nach allem, was er hier gesehen hatte.

Die Jahrtausende alte Zivilisation der Chinesen, in der Kunst und Kunsthandwerk, Sprache und Schrift und nicht zuletzt der Gartenbau zu raffinierter Blüte kultiviert worden waren, war nicht mehr als ein dünner, brüchiger Firnis, unter dem der Sumpf der Barbarei faulte. Vielleicht der natürliche Lauf der Welt, der jede große Zivilisation einmal ereilt, sobald sie aufhört, vorwärts zu streben, neue Wege zu gehen. Sobald sie sich auf ihren Errungenschaften ausruht und der Fäulnis der Dekadenz anheimfällt, wie das alte Griechenland oder Rom einst.

Vielleicht hatte alles seine Zeit, Epochen und Reiche und Kulturen ebenso wie Menschen und Tiere und Pflanzen.

Und dennoch schien es ihm unvorstellbar, dieses Land wieder zu verlassen. In sein altes Leben zurückzukehren.

Hinter sich nahm er behutsame Bewegungen wahr, spürte gleich darauf Lians Wärme an seinem Rücken. Ihre Arme schlossen sich um ihn, und sie schmiegte die Wange in seinen Nacken.

Das Notizbuch noch in der Hand, den Bleistift zwischen den Seiten, legte er die andere Hand auf ihren Arm.

»Komm mit mir nach England.«

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