20

Bindungen sind der Tod jeder Freiheit.

Das war eine der Weisheiten meiner Meister gewesen.

Etwas, das mich das Leben schon mehr als einmal gelehrt hatte.

Deshalb konnte ich Fortunes Angebot nicht annehmen, hätte es auch viele Mahlzeiten, ein Lager für jede Nacht und sogar etwas eigenes Geld bedeutet. Ich wollte mich nicht an ihn binden. Ihm nicht verpflichtet sein, nicht einmal für kurze Zeit.

Ich hatte ihm angemerkt, wie sehr ihn mein kurzer, abrupter Abschied verletzte. Dass ich nicht mehr Worte für ihn übrig gehabt hatte oder auch nur einen Blick.

Ich war noch nie gut darin gewesen, mich zu verabschieden. Alle meine Abschiede waren jäh und unerwartet gewesen, heimlich und oft in der Nacht erfolgt. Weil es die einzige Möglichkeit gewesen war. Es so weniger wehtat.

Ich hoffte, Fortune würde in Guangzhou die Blumen bekommen, die er sich ersehnte.

Die Gassen, durch die ich ging, waren leer.

Um diese Tageszeit waren die Bewohner dieser Häuser entweder im Herzen der Stadt oder im Hafen unterwegs. Alle übrigen hatten sich vor der Kälte hinter die schützenden Mauern zurückgezogen, wärmten sich am Feuer.

Ich war froh um diese Leere, die Stille. Ich brauchte sie, um all die Gedanken in meinem Kopf auszusieben und die meisten davon ziehen zu lassen, einen nach dem anderen.

Nur eine räudige Katze kreuzte meinen Weg. Ihr klägliches Maunzen ging nahtlos in ein Fauchen über, und ihr Rückenfell sträubte sich.

Ein Luftzug streifte meinen Nacken.

Noch während ein Schatten an mir vorüberflog, ich das feine Sirren einer Klinge hörte, zog ich mein Schwert.

Beinahe zu spät.

Die Spitze der anderen Klinge ritzte meine Wange, bevor ich sie abwehren konnte, einen Hieb nach dem anderen parierte, angestrengt und in blindem Reflex.

Ein halbwüchsiger Bursche war es, der das Schwert führte.

Ein Hänfling mit geschorenem Kopf. Ohne den langen Zopf, den die Mandschu-Herrschaft allen Männern im Reich vorschrieb.

Kein allzu schlechter Kämpfer. Aber auch kein besonders geschickter.

Noch dazu mit einem Schwert, das zu groß, zu schwer für ihn war, aus einfachem trockenen Stahl; das hörte ich an dem Kreischen, das es von sich gab, wenn meine Klinge in einem bestimmten Winkel darauf traf.

Trotzdem hatte ich Mühe, mich gegen ihn zu behaupten. Ich war nicht im Einklang mit meinen Bewegungen, meinem Atem, mit mir selbst.

Ich verfluchte Fortune und seine Blumen, die mich hierhergeführt hatten. Meine Gedanken so sehr beschäftigten, dass ich wie blind und taub meine Vorsicht vergessen hatte.

Ich verfluchte diesen Jungen, der offenbar jianghu sein wollte, aber keine Ahnung von Ehre hatte. Sich für einen jianke, einen Schwertsmann, hielt, ohne eine anständige Waffe in der Hand, ohne ein tieferes Verständnis von Klinge und Kampf.

Ich verwünschte mich selbst, überhaupt nach Shanghai gekommen zu sein.

Die Schläge der Klingen, mal silberhell, mal scharf, fanden ihr Echo in meinem Herzschlag, meinem Atem.

Wie ein Windstoß, der durch Herbstlaub am Boden fährt, leerte sich mein Geist, fand ich meine Balance, meinen Fokus, mein Tempo.

Schritt um Schritt, Hieb um Hieb trieb ich den Jungen vor mir her. Unsicherheit flackerte in seinen Augen auf, dann Furcht.

Die größte Schwäche in jedem Kampf.

Ich holte aus und fegte das Schwert aus seiner Hand. In hohem Bogen flog es davon und landete scheppernd auf der Gasse.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich in den Schatten der Mauern etwas regte. Eine Silhouette löste sich aus dem Dunkel, nahm die Gestalt eines Mannes an. Dieses Mal war ich aufmerksamer, drehte mich mit erhobenem Schwert so, dass ich beide im Blickfeld hatte.

»Was wollt ihr? Ich besitze nichts von Wert. Ich bin jianghu, genau wie ihr.«

»Ich weiß.«

Etwas an dem zweiten Mann irritierte mich. Etwas an seiner Haltung. In seiner Stimme.

Er hob die Linke, wie zum Gruß.

»Ich erinnere mich gut. Obwohl es lange her ist, Mei-mei.«

Die mittleren drei Finger der Hand waren gleich lang, wirkten plump.

In meinem Schwertarm zuckte ein Muskel, als erinnerte er sich ebenfalls.

Die Klinge meines Schwerts war es gewesen, die diese Fingerglieder abgetrennt hatte. In einem Streit, nachdem Älterer Bruder einmal mehr seine Hände nicht bei sich behalten konnte.

Nicht nur bei mir.

Es hatte lange gedauert, bis ich in den Nächten wieder tief und fest schlafen konnte. Nicht mehr ständig diese Augen auf mir spürte, die sich an mir festsaugten, wenn ich Wasser holte, aus meiner Schüssel aß oder mein Schwert schärfte. Nicht mehr diese Stimme in meinem Ohr hatte, die mir Zoten zuzischte, bevor seine Hände nach mir tasteten, sein schwefliger Atem über meine Haut fuhr. Obwohl er damals immer den Löwenanteil der Mahlzeiten für sich beanspruchte, war er hager gewesen, fast knochig.

Inzwischen sah er wohlgenährt aus; sein Gesicht, früher spitz und listig wie das eines Mungos, hatte sich zu dem eines Mondbären gerundet. Seine Haare trug er länger, als ich sie in Erinnerung hatte, auf dem Oberkopf zu einem Knoten gebunden. Und auch wenn er sich schlicht kleidete, ließen Stoff und Schnitt seiner Jacke und seiner Hosen ahnen, dass sie teuer gewesen waren.

Womit Älterer Bruder heute auch sein Brot verdiente – er lebte gut davon.

»Wie ich sehe, hast du nichts von dem vergessen, was wir dir damals beigebracht haben.«

Er versuchte, mich bei meinem Stolz zu packen. Bei meinem wunden Punkt, dafür hatte er immer ein untrügliches Gespür gehabt.

Ich sah zu dem Jungen hin, der sich mit hochgezogenen Schultern an die Hausmauer drückte. Verlangend schielte er zu seinem Schwert hin, tastete sich bereits mit einem Fuß vor.

Ein Blick von mir, und er gab sein Vorhaben auf, sank in sich zusammen.

Fast tat er mir leid. Ich wusste, welche Verlockung von der Macht ausging, ein Schwert in der Hand zu halten. Wie schnell man dabei an seine Grenzen stieß und wie bitter diese Demütigung schmeckte. Es war schwer, diese Grenzen zu erkunden und auszuweiten. Man musste nicht nur seinen Leib schulen, sondern auch seinen Geist. Lernen, eins zu werden mit seinem Schwert.

Ein langer, steiniger Weg war es, für den die wenigsten die Geduld aufbrachten. Die Demut.

Ich war selbst allzu oft kurz davor gewesen, aufzugeben. Hätte ich denn eine Wahl gehabt.

»Nichts davon hat mir einer von euch beigebracht. All das konnte ich schon, bevor ich zu euch kam. Aber mit dir vor Augen habe ich gelernt, wie jianghu niemals sein soll. Wie ich niemals sein will.«

»Natürlich. Mei-mei, die tugendhafte Schwertmaid. Die des Nachts lieber bei ihrer Klinge liegt als bei einem Mann aus Fleisch und Blut.«

Wie ein Stachel in meinem Fleisch war die Erinnerung daran, dass ich ihn einmal anziehend gefunden hatte. Wie seine Aufmerksamkeit mir schmeichelte. Ganz zu Anfang, als mich noch seine Selbstsicherheit beeindruckte. Seine Aura von Stärke und Freiheit und Unbezähmbarkeit.

Mit der er Yun ähnelte und doch ganz das Gegenteil von Yun zu sein schien.

Bis ich den niederträchtigen Zug an ihm entdeckte. Seine Bösartigkeit und Kälte. Die einzige Entschuldigung, die ich hatte und jemals haben würde, war, dass ich zu jener Zeit ein gebrochenes Herz gehabt hatte. Eine zutiefst verwundete Seele gewesen war.

»Wenn du nur jemals ein echter Mann gewesen wärst, Älterer Bruder.«

Leichthin sagte ich das, fast fröhlich.

Die Art, wie er jetzt sein Gesicht verzog, war unverändert. Daran hätte ich ihn auf Anhieb erkannt.

»Ist ein kwei-tsz mehr nach deinem Geschmack?«

Ich war wirklich blind und taub gewesen. Vermutlich schon seit ich Fortune in die Garküche geführt hatte.

»Monströs sollen sie sein. Missgestaltet. Das erzählen die Blumenmädchen der Stadt. Entlohnt er dich gut dafür?«

Mit einem leichten Druck meiner Finger ließ ich die Klinge meines Schwerts vibrieren.

»Ich hätte dir die Zunge abschneiden sollen. Oder gleich etwas ganz anderes.«

Älterer Bruder lächelte nur. Dieses dünne, freudlose Lächeln, mit dem er einem zu verstehen gab, wie überlegen er sich fühlte.

»Auf welcher Seite stehst du, Mei-mei? Auf der unseres Landes oder auf der der Barbaren?«

Seine flammenden Reden von Aufständen und neuen Zeiten waren mir immer verhasst gewesen. Den lieben langen Tag konnte er sich darin ergehen und dabei auf seinem faulen Hintern sitzen. Während alle anderen sich sämtliche Arme und Beine ausrissen, damit jeder in der Gemeinschaft satt wurde und einen Faden am Leib hatte.

»Seit wann liegt dir die Herrschaft der Mandschu am Herzen?«

»Das Reich des Himmelssohnes wird fallen, Mei-mei«, erklärte er langsam und mit überdeutlicher Betonung, als ob er mich für begriffsstutzig hielte. »Aber nicht an seine Feinde. Nicht in die Hände der Barbaren.«

»He!«

Wie ein Donnerschlag polterte dieser Ruf durch die Gasse, rollte von den Mauern zurück.

Ein Riese kam auf uns zu, steifbeinig vor Entschlossenheit, in seiner Hand eine kleine Feuerwaffe.

»Geh!«, rief ich Fortune zu. »Geh weg!«

Er hörte nicht auf mich, lief unbeirrt weiter auf uns zu.

Was für ein Narr er doch war.

Ich hoffte, ich war die Einzige, die bemerkte, wie übervorsichtig er die Waffe hielt, fast zaghaft.

Älterer Bruder war nie geschickt mit dem Schwert gewesen, er konnte damit noch nicht einmal das Grün einer Rübe sauber abtrennen.

Seine Waffen waren die kleinen Schmetterlingsschwerter, die er überall zwischen seiner Kleidung am Körper trug und in seinen Stiefeln stecken hatte.

Ich hatte niemals mehr jemanden getroffen, der sie so kunstfertig fliegen lassen konnte wie Älterer Bruder, flink und zielgenau wie Pfeile.

»Schau ihn dir an, Mei-mei. In seiner ganzen barbarischen Scheußlichkeit. Wie mächtig er sich vorkommt. Als bräuchte er nur mit diesem lächerlichen Ding in seiner Hand zu winken, und ich würde vor Angst zu zittern anfangen. Wie die neuen Herrscher dieses Reiches führen sie sich auf. Er und seinesgleichen sind es, die dieses Land mit Opium fluten. Mit diesem fremden Dreck, der unser Volk versklavt und vergiftet. Sag, Mei-mei – wo ist da dein Stolz? Dein Gewissen? Deine ach so geschätzte Ehre?«

Ich nahm mir keine Zeit für eine Antwort. Jeden Augenblick konnte Älterer Bruder eine seiner Schmetterlingsklingen hervorzaubern und von sich schleudern wie einen Blitz.

Langsam holte ich mit meinem Schwert aus und streckte den anderen Arm vor. Über zwei hochgereckte Finger hinweg fixierte ich Älterer Bruder, jeden Muskel angespannt wie die Sehne eines Bogens. Er hatte lang genug das Leben mit mir geteilt, um zu wissen, dass ich ihm damit den Kampf erklärte.

Älterer Bruder musterte abwechselnd Fortune und mich.

»Über kurz oder lang wirst du vor der Wahl stehen, Mei-mei. Wähle gut.«

Auf ein Kopfrucken von ihm setzte sich der Junge in Bewegung. Hastig, als könnte er nicht schnell genug von mir wegkommen, und während er im Laufen sein Schwert von Boden aufklaubte, fing ich einen ängstlichen Blick von ihm auf.

Das steinerne Maul der Stadt verschluckte sie beide.

Fortune ließ seine Waffe sinken. Bäche von Schweiß rannen über sein Gesicht, das im Schatten der Mauern fahl aussah.

Ich schob mein Schwert zurück in seine Scheide. Erst jetzt bemerkte ich, dass auch ich trotz der Kälte unter meiner Jacke durchgeschwitzt war.

»Du blutest.«

Er wühlte in seiner Hosentasche und förderte ein weißes Stoffquadrat zutage, schickte sich an, es auf meine Wange zu drücken.

Unwillig bog ich den Kopf zurück.

»Ist unbenutzt«, erklärte er, eine Spur gekränkt.

Ich presste den Ärmel meiner Jacke auf die Wunde.

»Nicht schlimm«, murmelte ich. »Nur gekratzt.«

Er deutete mit dem Kinn zu der Stelle, wo eben noch Älterer Bruder und sein halbwüchsiger Handlanger gestanden hatten.

»Wer war das?«

»Niemand.«

Ich erkannte den Zweifel in seinen Augen. Hoffte trotzdem, er würde sich damit zufrieden geben.

»Es sah aus, als würdet ihr euch kennen.«

Seine Neugierde entfesselte den Zorn, den ich die ganze Zeit über in Schach gehalten hatte.

»Schlechter Mensch«, spie ich aus. »Schlechter jianghu. Feige und gemein.«

Es gelang mir nicht, meine Gedanken sorgfältig in die andere Sprache zu übertragen. Ich stolperte über die fremden Laute, und es war mir egal.

»Denkt, er ist großer Mann. Anführer. Wegen ihm nicht mehr bei anderen jianghu

Gesichter flackerten an meinem inneren Auge vorüber. Jüngerer Sohn. Kleiner Bruder. Dritte Schwester. Zweiter Onkel. Ich erinnerte mich an das Gefühl, wieder ein Zuhause zu haben. Eine Familie. In einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein und gleichzeitig frei. Indem wir die Grenzen von Geschlecht und Stand beiseite fegten und jeder gleich viel zählte.

Es tat weh, mich des Unbehagens zu entsinnen, als ich allmählich erkannte, dass es nichts als eine Illusion war. An mein enttäuschtes Aufbegehren, von dem schließlich nichts als Verachtung übrigblieb. Jeder von uns hatte die Fesseln seines alten Lebens abgeschüttelt, um dann in diesem Kreis von jianghu doch wieder in der gleichen Falle zu landen. In einer Hackordnung. In einem Ringen um Macht und Stellung und die besten Bissen aus dem Suppentopf.

Danach hatte ich nie wieder versucht, irgendwo dazuzugehören. Irgendwo Wurzeln zu schlagen.

»Immer viel geredet. Von Freisein und Gleichsein. Brüder und Schwestern. Nur Worte! Alle Diener für ihn. Frauen nichts wert. Nur gut zum Essen machen. Als Spielzeug.«

Meine Augen brannten, als ich an Dritte Schwester dachte, die nicht stark genug gewesen war, um Älterer Bruder die Stirn zu bieten. Um meine Hilfe anzunehmen und mit mir fortzugehen.

Was wohl aus ihr geworden war?

Fortune brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was ich gemeint hatte. Er wandte seinen Blick ab, und sein Gesicht nahm eine lebhafte Farbe an. Wie er dabei mit der Feuerwaffe herumspielte, machte mich nervös.

»Vorsicht!«, fuhr ich ihn an.

Fortune betrachtete die Waffe, als wüsste er nicht, was er da in der Hand hielt.

»Sie ist nicht geladen. Ich … ich kann damit nicht gut umgehen.«

Er war ein noch größerer Narr, als ich geglaubt hatte.

»Ich …«, sprach er langsam weiter. »Ich wollte unseren Abschied nicht so stehen lassen. Deshalb bin ich umgekehrt. Um zu sehen, ob ich dich noch irgendwo finde. Dann habe ich etwas gehört und bin den Geräuschen gefolgt.«

Die Überwindung, die es ihn kostete, fortzufahren, machte seine Stimme kehlig.

»Mutig wollte ich sein. Verwegen. Aber ich weiß nicht, ob ich hätte abdrücken können, wäre sie geladen gewesen.«

War er wirklich nur ein Narr oder womöglich einer der seltenen Menschen mit einem guten Herzen?

Mein Blick kam auf seiner Waffe zur Ruhe. Ich hatte von solchen Waffen schon gehört. Doch noch nie hatte ich eine aus der Nähe gesehen oder gar in der Hand gehalten.

»Darf ich?«

Bereitwillig überließ er sie mir.

Ich war erstaunt über ihr geballtes Gewicht. Wie eine Faust aus Eisen und Holz, von einer dunklen Kälte. So anders als mein Schwert, das auch kalt war, aber hell, weil es immerzu das Licht reflektierte. Mit einem purpurnen Schimmer wie ihn nur der allerbeste Stahl aufwies.

Kurz war es, für ein jian, und leicht, es wog nur etwas über zwei ji. Geschaffen für einen Kämpfer von meiner Statur, meinem Wuchs. Alt war es, noch in der vorangegangenen Ära der Ming hergestellt. Zwei Jahre lang hatte ein Schmied den Stahl wieder und wieder ins Feuer gehalten, gefaltet und gehämmert. Bis hartes und weiches Metall zu einer Klinge zusammengewachsen waren, die wie Diamant war und doch so biegsam wie eine Feder.

Ein solches Schwert war in der Hand eines ausgebildeten jianke mehr als die Verlängerung seines Armes. Zu Stahl gewordener Atem war es. Ein zwei Finger breiter Flügel. Nur die Schmiede von Lonquan, der Stadt des Drachenbrunnens, konnten solche Schwerter herstellen.

Long Yuan, so hieß es: Drachenschlucht.

Eigentlich hätte es im Kloster bleiben sollen. Dort gehörte es hin, nachdem man es aus den Ruinen des alten Gebäudes geborgen hatte. Das zweite Kloster an dieser Stelle, das die Armeen der Mandschu zerstört hatten, seitdem sie vor zwei Jahrhunderten aus dem Nordosten eingefallen waren, das Land mit Krieg überzogen und die Herrschaft an sich rissen.

Ein Schicksal, das dem dritten Klosterbau erspart bleiben sollte. Dafür sollten gut ausgebildete Kämpfer sorgen, mit Schwertern wie dem Long Yuan.

Meister Qiang hatte es mir trotzdem geschenkt, als ich ihn verließ.

Ein Geschenk, das zweischneidig war wie seine Klinge.

Eine Auszeichnung. Eine Ehre.

Aber auch eine stete Mahnung, was ich hinter mir gelassen hatte. Warum ich hatte gehen müssen.

Eine Bürde, die ich erst nach und nach zu spüren begann, während ich mit Long Yuan durch das Land zog.

Ich trug sie gern. Sie erinnerte mich immer daran, dass ich meine Wahl getroffen hatte und mir dabei selbst treu geblieben war.

All das ging mir durch den Kopf, während ich die Feuerwaffe untersuchte, hier drückte, dort zog. Ihre Mechanik verstehen lernte und die Handwerkskunst bewunderte.

Auf der Suche nach dem Elixier der Unsterblichkeit hatten die Mönche des Dao vor Hunderten von Jahren das Schießpulver erschaffen. Doch es waren die fremden Barbaren, die dazu solch wirksame Waffen gebaut hatten.

Kleine Waffen wie diese hier. Gewehre. Kanonen. Die die Küsten unseres Landes mit Feuer überzogen und mit Blut tränkten. Das mächtige Reich des Himmelssohns in die Knie zwangen.

Wie viel einfacher musste es sein, mit einer solchen Feuerwaffe zu kämpfen.

Ohne die Anleitung eines Meisters. Ohne die scharfen Kommandos, mit denen er einem das Äußerste abverlangte. Keine jahrelangen Übungen im Faustkampf mit Gegnern, die größer, schwerer, erfahrener waren. Ohne den ganzen Körper in Anspruch zu nehmen und den Geist dazu. Ohne sich von den Faustkämpfen hochzuarbeiten, über den Bambusstock, die Lanze und den Degen, bis man die edelste aller Waffen führen durfte, das Schwert.

Wie bequem, aus sicherer Entfernung kämpfen zu können. Ohne dem Gegner in die Augen blicken zu müssen. Ohne Schweiß zu vergießen und das eigene Blut. Nur eine ruhige Hand, ein gutes Auge waren vonnöten für den Kampf mit dem Feuer.

Wie simpel. Wie ehrlos.

Trotzdem erschauerte ich bei dem Gefühl der Macht, die ich in den Händen hielt.

Jeder Meister, unter dem ich lernte, hatte mich früher oder später gerügt, ich würde den Kampf zu sehr lieben. Um des Kämpfens willen. Weil ich den Sieg begehrte. Die damit verbundene Macht genoss.

Von dem Tag an, an dem ich zum ersten Mal einen Bambusstock in die Hand gedrückt bekam, hatte ich gewusst, dass ich zum Kämpfen geboren war. Meine einzige Eitelkeit. Meine größte Schwäche.

Nur ein Tor würde dieser verlockenden Macht widerstehen, indem er eine Waffe bei sich trug, die nichts als bloßer Schein war. Oder ein Mensch von ganz und gar unschuldigem Wesen.

Was davon war Fortune?

Widerstrebend gab ich ihm die Waffe zurück. »Du musst lernen, damit zu kämpfen.«

Stirnrunzelnd wog er sie in der Hand.

»Ich schätze, das sollte ich. Wie einiges andere mehr. Ich … ich hatte gehofft, du könntest mir dabei helfen.«

Dieses Mal schlug ich das Angebot, das zwischen seinen Worten durchschien, nicht sofort aus. Es war meine Pflicht gewesen, ihn an der Pagode von Shenhu gegen die Bauerntölpel zu verteidigen. Meine Pflicht als jianghu, über die ich nicht weiter nachgedacht hatte.

Seitdem waren wir uns nicht nur zwei weitere Male begegnet, gegen jede Wahrscheinlichkeit. Seitdem lebte auch immer wieder meine Vergangenheit auf, in Gedanken oder in der leibhaftigen Gestalt von Älterer Bruder. Diese Vergangenheit, von der ich geglaubt hatte, sie hinter mir gelassen zu haben. Mit jedem Schritt, den ich auf meinen langen Wegen ohne Ziel gegangen war.

Ich verstand nicht, warum sie mich jetzt wieder einholte. Und warum durch Fortune. Den Gedanken an den roten Faden, mit dem die Götter zwei Menschen schon vor ihrer Geburt aneinander binden, wischte ich rasch beiseite. Schon einmal hatte ich daran geglaubt und war bitter enttäuscht worden. Und schließlich war Fortune auch nicht Yun. Sondern ein hässlicher Barbar vom anderen Ende der Welt. Aus einem Land, das so weit entfernt war, dass nicht einmal die Hände der Götter bis dorthin reichten.

Vielleicht konnte man vor seinen Erinnerungen nur eine begrenzte Zeit flüchten, und diese Zeitspanne war jetzt verstrichen.

Stattdessen brach eine neue Zeit an. Die Zeit, einmal einen Weg zu gehen, der ein Ziel hatte. Sei es nur das Ziel, etwas von meinem Wissen weiterzugeben. Fortune das zu lehren, was er brauchte, um sich in diesem Land halbwegs zurechtzufinden. Ihn so lange zu beschützen, wie er meines Schutzes bedurfte.

Die Zeit, etwas über die fremden Barbaren zu lernen. Über Fortune, diesen merkwürdigen Mann, der nach China gekommen war, um Blumen zu studieren, zu sammeln und in seine Welt mitzunehmen. Ihm zu helfen, seine Blumen zu bekommen.

Jetzt, kurz vor Beginn des neuen Mondjahres.

Man ist ein Schüler, wenn man seinem Meister begegnet. Und ein Meister, wenn man seinem Schüler begegnet.

Das waren die Worte Meister Qiangs gewesen, von dem ich am meisten gelernt hatte. Und den ich so bitter enttäuscht hatte.

Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel hinauf. Ein Himmel, der aussah wie saure Milch und der neuen Schnee versprach. Ich fragte mich, was Meister Qiang dazu gesagt hätte. Wie die alten Helden der jianghu gehandelt hätten.

In Canton würde es auf jeden Fall wärmer sein.

Jane steht am Fenster und schaut in die Winternacht hinaus, John auf dem Arm.

Wie eine Wärmflasche ist der Körper des kleinen Jungen, noch durch das Flanellnachthemd hindurch. Sein Gesichtchen, das in ihrer Halsbeuge ruht, glüht und ist nass von Tränen.

Der nächste Backenzahn macht ihm zu schaffen.

Jane streichelt seinen Rücken, während sie ein Wiegenlied summt.

Sie wünschte, sie hätte ihre Mutter hier, ihre ältere Schwester Mary oder diejenigen ihrer Freundinnen, die bereits Ähnliches bei den eigenen Kindern mitgemacht haben. Es wäre schön, einfach zu einer von ihnen hinüberzugehen und zu fragen, ob es denn nichts gibt, was ihrem Jungen das Zahnen erleichtert. Oder wenigstens selbst ihr Herz auszuschütten. Auf Verständnis zu treffen und auf Mitgefühl.

Der Kleine zuckt unter den letzten, schon schläfrigen Schluchzern; im Takt seines Atems öffnet und schließt sich seine winzige Hand an ihrer Schulter.

Sie blickt kurz nach hinten. Helen liegt in tiefstem Kinderschlaf, erschöpft nach dem stundenlangen Toben in der kalten, frischen Luft.

Im bläulichen Licht der Nacht sind ihre Züge vollkommen gelöst. Keine Spur mehr von ihrem Wüten, mit dem sie sich dagegen wehrte, ins Haus zu kommen, obwohl sie schon ein kleiner Eiszapfen gewesen war. Nichts mehr zu sehen von den Tränen, als die Wärme des Feuers ihre eingefrorenen Glieder schmerzhaft auftaute.

Hungrig nach Spiel und Abenteuer stürzt sich Helen jeden Tag in den Schnee, der so spät gekommen ist in diesem Winter. Erst Ende Januar, und dann gleich so viel davon.

Wie hell es ist, denkt Jane, als sie den Blick wieder auf die weiße Welt draußen richtet.

Wie still.

Wie einsam.

Jetzt im Winter rächt es sich, dass sie noch nicht lange genug in Chiswick wohnt, um Wurzeln geschlagen zu haben.

Ihre Kontakte beschränken sich auf einen knappen Gruß auf der Straße. Ein paar Worte über das Wetter heute beim Einkaufen. Ein kurzes Gespräch von Zaun zu Zaun über diesen eigenartigen Winter, die Hoffnung auf baldigen Frühling, über Blumenzwiebeln und das Zurückschneiden von Rosen.

Als sie hierher umgezogen sind, hat sie sich kaum Gedanken darüber gemacht, wie es sein würde, in England zur Kirche zu gehen; protestantisch ist schließlich protestantisch, nicht wahr?

Doch selbst im Vergleich zu den vielen Ablegern der Kirche in Schottland scheint der Glaube in England gleich ein ganz anderes Gewächs zu sein. Mit einem anderen Gebetbuch, anderen Liedern, anderen Worten.

Sie wird sich daran gewöhnen, mit der Zeit, sagt sie sich selbst. Doch noch stört es ihre Andacht, dass sie darauf achten muss, was als Nächstes kommt. Wann sie aufstehen und sich wieder setzen muss, wann niederknien. Eine Unsicherheit, die sich auf die Kinder überträgt; mehr als einmal erntet sie mitleidige oder sogar entrüstete Blicke, wenn es ihr nicht gelingen will, die beiden in der Kirchbank von St. Nicholas ruhig zu halten.

Ihr fehlt der vertraute Rahmen des Gottesdienstes. Die Zusammengehörigkeit im Gebet und in den Liedern. Das sichere, warme Nest einer Gemeinde.

Ohne Robert ist sie in Chiswick die fremde Schottin mit dem schwerfälligen Akzent, deren Mann nur ein paar Monate lang im Dorf gesehen wurde, bevor er verschwunden ist.

Jane hat die langen Winterabende genutzt, um Briefe zu schreiben: an ihre Schwestern und ihre Freundinnen von früher. An die eigenen und Roberts Eltern. Sie weiß, sie wird lange auf Antwort warten. Sofern sie überhaupt eine erhält. In deren Welt ist das Schreiben von Briefen ein Luxus, den man sich nur selten gönnen kann. Das Leben dort verläuft in einem anderen Takt, stellt andere Ansprüche.

Während Jane ihren Sohn auf dem Arm schaukelt, denkt sie darüber nach, ob sie sich wirklich so sehr verändert hat, seit sie aus dem Cottage ihrer Eltern ausgezogen ist.

Sie will es sich nicht eingestehen, aber sie hat Heimweh.

Nicht nach dem Leben dort als solches, das ungleich härter ist als ihres hier in Chiswick. Sie ist froh, das hinter sich zu wissen. Manchmal sehnt sie sich nach der Weite der Landschaft, die weniger lieblich ist als hier, eine raue Note aufweist. Nach den Wäldern, die es hier weit und breit nirgendwo gibt.

Vor allem ihre Schwestern vermisst sie, ihre Freundinnen von früher. In Swinton war sie das Mädchen, das es von dort herausgeschafft hat, in die große Stadt. In eine vielversprechende Ehe und sogar bis in den Süden Englands.

In Chiswick ist sie niemand.

Allein, mit den Kindern.

Trotzdem hat sie die Einladung der Lindleys für das Weihnachtsfest ausgeschlagen. Nach langem Überlegen, aber mit gutem Gewissen.

Weihnachten ist das Fest der Familie. Die Lindleys sind keine Familie für Jane. Obwohl John Lindley für Robert das ist, was einem Freund am nächsten kommt, auch wenn sie sich nach wie vor förmlich und beim Nachnamen ansprechen. Sie und Robert haben sogar ihren Sohn nach ihm benannt: John Lindley Fortune.

Sie verdanken ihm viel: Roberts Stellung als Leiter der Treibhäuser und dieses Cottage. Die Chance, die sich für Robert mit dieser Reise durch China bietet. Die Möglichkeiten, die er vielleicht nach seiner Rückkehr haben wird und von denen auch so viel für seine kleine Familie abhängt.

Mr Lindley hat es sich nicht nehmen lassen, Weihnachten von Acton Green herüberzukommen, mit Päckchen für Jane und die Kinder. Und am letzten Tag des alten Jahres, Johns erstem Geburtstag, mit einem Geschenk für ihn, und um Jane alles Gute für das neue Jahr zu wünschen. Begleitet hat ihn seine älteste Tochter Sarah, die oft in Gesellschaft ihre Mutter vertritt, da Mrs Lindley leidend ist und man sie nur selten sieht.

Die Lindleys sind feine Leute. Nicht reich, sie wohnen ebenfalls nur zur Miete. Aber kultiviert und angesehen sind sie, das merkt man sofort. Selbst wenn man nicht weiß, dass John Lindley vor fünfundzwanzig Jahren der Assistent von Sir Joseph Banks gewesen war. Jener Sir Joseph Banks, der im vorangegangen Jahrhundert mit Captain James Cook die Welt umsegelt und von dieser Reise unfassbare Pflanzenschätze mitgebracht hatte. Der mit Alexander von Humboldt oder Carl von Linné alias Linnaeus, dem Papst der Botanik, Korrespondenz unterhielt, während er die Gärten von Kew mit exotischen Pflanzen füllte und der Naturkunde in England Gestalt gab.

Die Männer, die Sir Joseph Banks auf die Jagd nach Pflanzen schickte, hatten Magnolien und Hortensien nach England gebracht, Fuchsien, Strohblumen und die Tigerlilie.

Banks. Humboldt. Linnaeus.

Namen, die Robert immer mit Ehrfurcht im Mund führt.

Zu einer Welt gehören sie, die Robert ihr nahe gebracht hat und die Jane trotzdem immer noch fremd ist. Beinahe so fremd und fern wie China.

Von John Lindley mit seinem langen Bart und der Nickelbrille scheint immer der Duft von Blumen und frischer Erde auszugehen, nach Büchern und Tinte. Während Jane fürchtet, ihr haftet noch immer der Geruch nach Kuhfladen und Schweinemist an.

Dabei stammt John Lindley aus bescheidenen Verhältnissen, genau wie Robert; sein Vater hatte eine Baumschule für Obstbäume. Und trotzdem haben sie Personal in ihrem gemieteten Haus, mit Miss Drake sogar eine Gouvernante, die dazu noch die Illustrationen für die botanischen Veröffentlichungen Mr Lindleys anfertigt.

Sarah Lindley macht jedes Mal einen besonderen Eindruck auf Jane. Eine feine junge Lady ist sie mit ihren siebzehn Jahren. Selbstbewusst, gebildet, wortgewandt und zielstrebig. Auf ihren Kunststudien will sie eine berufliche Laufbahn aufbauen, teilt sich jetzt schon mit Miss Drake die Arbeit an den Illustrationen.

Jane betrachtet wieder Helen in ihrem Bettchen.

Die Brust wird ihr eng vor lauter Wünschen und Hoffnungen, die sie für ihr kleines Mädchen hat. Bei der Vorstellung, Helen könnte auch einmal so vor ihr sitzen wie Miss Lindley. Genauso belesen und klug und begabt, mit der Aussicht auf einen guten Beruf, eigenes Geld.

Sie denkt an den Sohn der Lindleys, der in London auf eine fortschrittliche Schule geht und nach dem Willen seines Vaters später Rechtswissenschaft studieren soll. Studieren. Rechtswissenschaft. Anwalt werden, vielleicht sogar Richter.

Jane wird schwindlig vor Glück, wenn sie sich das Gleiche für den kleinen Menschen auf ihrem Arm vorstellt.

Schwindlig vor Angst, sie könnte mit solch hochfliegenden Plänen das Schicksal herausfordern.

Als müsste sie sich dafür schämen, wenn sie sich nicht damit zufrieden gibt, dass ihre Kinder gesund sind und genug zu essen haben und nicht schon von Kindesbeinen an im Stall oder auf dem Feld mithelfen müssen.

Unwillkürlich drückt sie John, der eingeschlummert ist, fester an sich. Obwohl sie schon vor langer Zeit beschlossen hat, den Aberglauben ihrer alten Heimat hinter sich zu lassen.

In Momenten wie diesem ist sie Robert dankbar, dass er diese Chance bekommen und ergriffen hat. Vielleicht wird diese Reise es möglich machen, dass ihren Kindern viele Türen offen stehen, zumindest den Grundstock dafür legen.

Lange verharrt Jane noch so am Fenster, in ihren Träumen versunken.

Dann geht sie hinüber ins Schlafzimmer und legt sich mit John in ihrem Arm schlafen. Im Ehebett, in dem sie nach und nach von ihrer Seite zur Mitte hin gewandert ist und so Roberts verwaiste Hälfte mit ausfüllt.

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