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Dinghai (Tinghae), Insel von Zhoushan, August 1844

Singwah. Mein neuer Name. Ein neues Leben – zumindest dem äußeren Anschein nach: Ich bin jetzt ein reicher und wichtiger Mann aus dem höchsten Norden, von der Großen Mauer kommend. Offenbar reichen hier die Begriffe reich und wichtig aus, um jedes weitere Nachfragen auf der Stelle zu unterbinden.

Mir ist manchmal kalt am Kopf, und an den Zopf habe ich mich noch nicht vollständig gewöhnt, er erweist sich zuweilen als hinderlich. Die Kleidung indes – eine weite Hose und ein loses Gewand darüber – trägt sich sehr angenehm.

Ich bin selbst erstaunt, wie einfach sich die Verwandlung von fremdländischem Barbar zu chinesischem Edelmann gestaltet hat. Obwohl ich vorsichtshalber hier in Dinghai ein anderes Quartier bezogen habe als in der Herberge zur Königlichen Orchidee die letzten beiden Male.

Anscheinend genügen nur wenige Attribute, um einen Menschen auf den ersten Blick einer bestimmten Herkunft zuzuordnen. Wie der Zopf, die Rasur des übrigen Schädels und entsprechende Kleidung. Heute ging sogar ein Europäer an mir vorüber – grußlos, er warf mir lediglich einen verächtlichen Blick zu.

Ein merkwürdiges Gefühl, fast mühelos die Seiten gewechselt zu haben. Und obwohl ich noch derselbe bin wie gestern oder vor ein paar Tagen, so kommt es mir vor, als ob … Schwer zu beschreiben. Manchmal scheint es mir mehr als eine Maskerade zu sein.

Ich denke oft an

Heute Nacht setzen wir auf die heilige Insel Putosan (Potuoshan?) über und werden sie bei Sonnenaufgang erreichen.

Ningbo, Anfang September

Temperatur zwischen 70 und 80 Grad Fahrenheit max.

Heute zu den Mandaringärten.

AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE

Päonien, Gardenien, Kamelien und Chrysanthemen reckten Fortune ihre prächtigen Blüten entgegen, wie im Wettstreit um seine Aufmerksamkeit. Selbst die winzigen Pagoden der klein gehaltenen Wacholderbäumchen in ihren Porzellanschalen, ihren Steingärtchen und Moosbettchen, schienen sich bemerkbar machen zu wollen.

Fortunes Blick wanderte über die Blumenpracht, die ihn von allen Seiten umgab. Seine Augen sahen die Schönheit dieses Gartens am Stadtrand von Ningbo, aber sie erreichte ihn nicht.

Mit einem ärgerlichen Fingerschnipsen verscheuchte Wang den Gärtner, der ihnen ehrerbietig durch den Garten folgte, und schielte Fortune von unten herauf an.

»Nicht gut hier?«

Fortune schwieg.

Er sehnte sich auf die heilige Insel von Putuoshan zurück.

In botanischer Hinsicht war diese Exkursion eine Enttäuschung gewesen. Die Insel hatte nichts vorzuweisen, was er nicht schon in China gesehen und gesammelt hatte, sowohl wildwachsend als auch in den Gärtchen der blumenliebenden Mönche.

Es war der eigentümliche Zauber der Insel, der Fortune gefangen genommen hatte. Als wäre er selbst auf Miniaturgröße geschrumpft und durchwanderte eine dieser winzigen Landschaften, eingebettet in eine flache Schale aus Porzellan. Anmutig schmiegten sich die Tempel und Torbögen in Steinwände und die verwunschenen Wälder, kunstvoll schraubten sich Treppen durch Felsen in die Höhe. Wie ein Feenreich wirkte der Teich, auf dem die roten und weißen Blüten von Nelumbium speciosum schwammen – der Lotos, die heilige Blume Buddhas, von dem die Mönche erzählten, dass man Teile davon auch essen könne und sie als Delikatesse galten.

Eine Märchenwelt war es, die Fortune und Wang zwei Tage und eine Nacht beherbergte, geborgen in dieser Schale mit Farbwirbeln in Blau und Gold: den Farben des wie lackierten Himmels, der eigentümlichen Färbung des Wassers vor der Küste.

Die Rückkehr nach Ningbo, obgleich herbeigesehnt, war danach wie ein unerwarteter Hagelschauer gewesen, mitten an einem herrlichen Sommertag.

Seither war alles in ihm taub, alles grau.

Wang rückte dichter an Fortune heran.

»Ist wegen Lian, ja?«

Lian war fort.

Er nahm es Wang nicht übel, dass er eingeweiht gewesen war. Aber er nahm es Lian übel, dass er ihr nicht einmal ein Wort des Abschieds wert gewesen war.

»Was kann erwarten von jianghu? Von Frau noch dazu, hng? Wie Wetter in Bergen. Heute so, morgen weg. Wie Wind.«

Tochter des Windes.

Fast ein Jahr war das her, auf den Hügeln von Zhoushan, zwischen den Blüten von Anemone hupehensis.

Er hätte wissen müssen, dass sie nicht blieb. Genauso

gut hätte er versuchen können, den Wind zu fangen oder das Meer zu bändigen. Er hatte kein Recht, enttäuscht zu sein, sie hatte ihm nie etwas versprochen. Trotzdem fühlte er sich um etwas betrogen.

Wie um eine jener seltenen Blüten, die sich nur einmal alle paar Jahrzehnte öffneten. Obwohl sie ihm zum Greifen nahe gewesen war, er den Pollen auf den Staubblättern erkennen konnte und jede Verästelung der Blattadern, hatte er sie nicht erreichen können. Bevor er sie benennen oder auch nur näher bestimmen konnte, war sie verwelkt und vom Zweig gefallen, ins Dunkel.

Nur eine schwache Erinnerung an Farbe blieb, an einen Duft.

»Besser vergessen Lian, ja? Denken jetzt an Tee.« Wang zögerte, senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Und an Frau zu Hause.«

Wie die leichten Wangenschläge, mit denen man einen Besinnungslosen aufzuwecken versuchte, wirkten Wangs Worte. Er hatte recht: Fortune war kein empfindsamer Jüngling, der sich nach einem Traumbild verzehrte. Sich etwas einbildete, wo nichts gewesen war; so jemand war er nicht. Er war ein erwachsener Mann. Ein rationaler Wissenschaftler. Ein Mann des Geistes, Ehemann und Vater noch dazu.

Er schüttelte den Kopf, um den Rest von Benommenheit zu vertreiben.

Das hohle Gefühl irgendwo unter seinem Brustbein blieb.

Als eine Flut von Farbe auf seine Augen traf, blinzelte er, wie geblendet, schritt dann staunend auf die Mauer zu, die von gelben Blüten übergossen war.

Kein gewöhnliches Gelb. Ein unerwartetes, neues Gelb, wie er es an noch keiner Rose gesehen hatte, sanft und warm. Fast wie die samtweichen Lederhandschuhe eines reichen Stutzers.

Er trat in den starken, süßen Duft der Kletterrose, die sich über die Mauer rankte. Zarte, weiche Blütenblätter waren es, in mehreren Lagen, wie ein duftiger, zerschlissener Frauenrock.

Rosa odorata? Rosa lutea? Vielleicht eine Rosa gigantea in der Linie?

Fortune war sicher, eine solche Rose noch nie gesehen zu haben, dabei kam sie ihm vertraut vor. Vielleicht hatte er sie in einem anderen Garten aus dem Augenwinkel bemerkt, vielleicht ihre Urform irgendwo in der Wildnis erblickt. Obwohl es schwer vorstellbar war, dass er eine solche Schönheit übersehen haben konnte.

Der Duft war in ständiger Veränderung, neigte sich mal ins Würzige, Herbe, mal ins Fruchtige, beinahe Saftige. Genauso schien ihre Farbe zu changieren.

Hellster Bernstein, der in kräftigem Rosa errötete.

Ein edles, blasses Gelb, das lachsfarben, manchmal fast kupfern auslief.

Die Farbe einer Tasse kostbarsten Tees. Von Blütenstaub in der Luft.

Wie ein Licht aus Pfirsich und Aprikose, einem ersten Hauch von Gold. Auf einem Hügel, kurz vor Sonnenaufgang.

Er hörte Schritte hinter sich und leise Stimmen.

»Gärtner sagt, ist alte Zucht«, flüsterte Wang ihm zu. »Noch von Ming.«

Fortune streckte die Hand aus, wanderte mit den Fingern zwischen die Blätter, trotz ihres Glanzes wie Schatten gegen das pastellige Morgenlicht der Blüten.

Blüten wie Lians glühendes Gesicht.

Blätter in der Form ihrer dunklen Augen.

»Gärtner sagt, Herr hat Glück. Blüht sonst nur im Frühling. Dieses Jahr zweite Blüte, keiner weiß, warum.«

Fortune zog seine Hand zurück, zerschrammt und blutig; Stacheln steckten noch in seiner Haut.

»Frag ihn, was er dafür haben will.«

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