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Ningbo, 10. Mai 1844

Gestern am späten Abend aus den Bergen zurückgekehrt.

Ich kann nicht glauben, dass es nur fünf Tage gewesen sein sollen im Kloster von Tiantung, obwohl ich es in meinen Notizen schwarz auf weiß habe. Es kommt mir vor, als hätten wir ich Wochen oder gar Monate dort zugebracht. Eine kleine Ewigkeit.

Die Eindrücke, die diese Tage im Kloster

Ich fürchte, ich

Überwältigt, immer noch, von den Erlebnissen dort. Von dieser Freundlichkeit, dieser Gastfreundschaft. Von diesem unglaublichen Geschenk, das mir anvertraut wurde.

AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE

Brechend voll war es in der Garküche »Zum Goldenen Ochsen«, ein paar Häuser von der Herberge entfernt. Nur mit Mühe hatten Wang und Fortune noch ein freies Fleckchen im hintersten Winkel des speckigen Raums ergattert.

»Maaah«, gab Wang genussvoll von sich. »Endlich Fleisch! Mönche von Tiantung gute Köche. Sehr gute. Hat Wang sich gewöhnen können, jeden Tag. Aber leben wie Mönch … Nie Fleisch auf Tisch. Ohne Frauen und alles … Nichts für Wang. Oder für Fu-Chung?«

»Nein.«

Fortune hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Unerträglich laut war es in der Garküche. Ein Orkan aus quäkenden und schnatternden Stimmen, dem Klappern von Geschirr und brüllendem Gelächter.

Er sehnte sich nach der Stille der Berge. Dem Grün der Teefelder.

Unbeholfen angelte Fortune mit den Stäbchen in seiner Essensschale herum. Inzwischen gelang es ihm recht gut, soßentriefende Klumpen von Reis und Stücke von Fleisch und Gemüse damit zum Mund zu führen. Wenn er sich darauf konzentrierte.

Eine Konzentration, die ihm an diesem Abend fehlte. Er hätte Suppe bestellen sollen. Die kam auch hierzulande mit einem Löffel auf den Tisch. Seufzend legte er die Stäbchen quer auf die noch fast volle Schale und erntete einen fragenden Blick von der anderen Seite des Tisches.

»Nicht gut?«, nuschelte Wang mit vollem Mund.

»Keinen Hunger«, erwiderte Fortune, obwohl es hohl in seinem Magen rumpelte.

Wangs Augen wanderten zwischen Fortune und dessen Essensschale hin und her, mit einem Ausdruck, der mal verlangend, mal neugierig wirkte. Sogar fast besorgt.

Fortune nahm seine Stäbchen wieder in die Hand und schob die Schale ein Stück auf Wang zu.

»Willst du?«

Wang legte den Kopf schräg.

»Will Wang schon. Glaubt nur nicht, dass Fu-Chung nicht Hunger.«

Obwohl Fortune dazu übergegangen war, seine neuen Kenntnisse des Chinesischen auch bei Wang zu üben, beharrte dieser nach wie vor auf seinem eigenwilligen Englisch.

Fortune schob die Schale weiter über den Tisch.

Ein kleines Grinsen, und schon machte Wang sich schmatzend über Fortunes Mahlzeit her.

»Fu-Chung schaut ganzen Tag so schafig.«

»Belämmert, meinst du?«

»Lämmert. Ja. Versteht Wang nicht. Fu-Chung glücklichster Mann weit wie breit, heute. Hat Teepflanzen. Ist reich und berühmt, wenn wieder zu Hause. Warum dann lämmeriges Gesicht, hng

Fortune zögerte seine Antwort hinaus.

Während er die Essstäbchen zwischen den Fingern drehte, ließ er seinen Blick durch die Garküche wandern, ob irgendjemand hier dem Fremden und seinem Begleiter größere Aufmerksamkeit schenkte, vielleicht ihr Gespräch belauschte.

Lian hätte er sich bedenkenlos anvertraut.

Aber Lian war nicht hier.

Blass war sie gewesen und still. Angespannt bis zum Zerreißen; jedes Rascheln im Gras hatte sie auffahren lassen, den ganzen Weg von Tiantung zurück nach Ningbo.

Stumm hatte sie zugesehen, wie er die Teesetzlinge in ihrer Muttererde in ein Wardian Case bettete.

Stumm war sie dann danebengestanden, als er für seine gesammelten Schätze im Hafen eine Passage buchte, gleich für den nächsten Morgen.

Und genauso stumm hatte sie seine Einladung in eine Garküche ausgeschlagen, sich nur kopfschüttelnd umgedreht und die Tür zu ihrer Kammer hinter sich geschlossen. Als ob sie ihm damit zu verstehen geben wollte, dass diese Momente der Nähe in Tiantung ein Versehen gewesen waren. Momente der Schwäche, flüchtig und bereits Vergangenheit.

Er sah wieder zu Wang, der mit seinen Stäbchen einen Strang Nudeln aus der Schale in seiner Hand hob und geräuschvoll in den gespitzten Mund saugte.

»Es war so einfach«, begann er, die Stimme unwillkürlich gedämpft. »Eigentlich viel zu einfach. Ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet mir das Los zugefallen sein soll, dem Tee auf die Spur zu kommen.«

Wang kniff die Augen zusammen. »Komisch Gedanken macht Fu-Chung. Wenn Himmel oben Pflaume fallen lasst – einfach Mund auf! Nicht lange fragen oder denken.«

»Trotzdem. Die ganze Zeit, seit England mit China Handel treibt, und während des Krieges … Wir hatten die Teepflanzen buchstäblich vor der Nase.«

Belehrend hob Wang die Stäbchen. »Nicht immer gut, wenn vor der Nase! Wenn zu dicht mit Nase dran, nicht klar sehen.«

Fortune schmunzelte. »Das stimmt.«

Wissen kann immer nur auf dem aufgebaut werden, was bereits bekannt ist. Das war einer der Grundsätze in der Botanik. Doch zuweilen lähmte dieser Ansatz das Denken. Die Kühnheit, etwas Altes aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Etwas, das längt feststand, auseinanderzunehmen und die einzelnen Teile zu beleuchten. Um Raum zu schaffen für Neues. Etwas in Bewegung zu versetzen, in Schwung zu bringen.

»Ich selbst habe ja auch in Zhoushan wilde Teesträucher gesehen und nicht weiter darüber nachgedacht. Ihnen nicht einmal einen zweiten Blick geschenkt oder gar hinterfragt, ob die überlieferte Klassifizierung und Bezeichnung berechtigt ist. Und plötzlich …«

Mit seinen Stäbchen beschrieb er einen Bogen durch die Luft, eine Geste der Ratlosigkeit.

Wang legte den Kopf schräg und blinzelte ihn listig an.

»Hätte Wang auch sagen können Fu-Chung – dass grüne Tee und schwarze Tee gleiche Pflanze. Hätte …«

»Hätte ich nur gefragt, ich weiß.«

Wang erwiderte Fortunes Lächeln mit einem breiten Grinsen.

»Aber was dann Grund für lämmertes Gesicht von Fu-Chung? Ist alles gut, ja?«

Sein ganzes Leben hatte Fortune auf eine Gelegenheit wie diese gewartet. Etwas aufzuspüren, das vor ihm noch niemand entdeckt hatte, mit Glück und Geschick. Dass ihm das Schicksal nun ausgerechnet die kostbare Teepflanze vor die Füße gelegt hatte, war das mögliche erste Aufleuchten einer botanischen Sternstunde.

Fortune war jedoch zu rational, um sich von diesem Sternenglanz blenden zu lassen und in Euphorie zu verfallen.

»Wie man’s nimmt.«

Er hatte darüber nachgedacht, die Teesetzlinge bei sich zu behalten, bis er China verließ. Persönlich darüber zu wachen, während der Überfahrt nach England.

Doch auch er würde sie nicht vor allen Wagnissen einer solchen Reise bewahren können. Ein Risiko, das er ungefähr gleich hoch einschätzte wie dasjenige, dass ihnen hier etwas zustieß, in seiner Kammer.

In Ningbo glaubte man nicht an Schlösser. Nur an Riegel auf der Innenseite der Tür. Wer sein Zimmer ohne sein Geld und kostbare Habe verließ, war selbst schuld.

»Vier Monate werden die Pflanzen unterwegs sein. Keiner weiß, ob sie England heil erreichen. Ob sie dort überleben, selbst in einem Treibhaus. Wenn sie im August dort eintreffen, werde ich schon nicht mehr hier sein. Weil auch jede noch so eilige Nachricht der Society ebenfalls vier Monate braucht, um hier anzukommen. Sind die Pflanzen auf ihrer Reise eingegangen, werde ich erst davon erfahren, wenn ich selbst wieder zu Hause bin. Zu spät, um nötigenfalls neue Setzlinge zu beschaffen.«

Wang hielt kurz im Kauen inne, um mit der Zunge zwischen seinen Zähnen zu pulen.

»Aber weiß Fu-Chung, dass Pflanze von Tee nicht gleich Tee in Tasse.«

»Genau das ist der Haken. Da ist noch so vieles, was wir nicht über die Teepflanze wissen. Welchen Boden sie genau braucht, welches Klima – ganz zu schweigen von den genaueren Abläufen in der Verarbeitung. So vieles, was ich mir dazu gerne noch anschauen würde. Was ich gerne lernen würde.«

Wang schluckte einen großen Happen im Mund so hastig hinunter, dass sein knochiger Adamsapfel auf und ab hüpfte.

»Dann bleibt Fu-Chung einfach. Bleibt lange genug, um anzusehen. Zu lernen. Bis alles weiß. Vielleicht neue Pflanzen holen, irgendwo. Dann erst fährt nach Hause und macht Tee.«

Fortunes Herz schlug schneller bei der Vorstellung, noch ein paar Monate mehr hier zu bleiben.

Die Blüte von Camellia sinensis über den Winter zu beobachten.

Die erste Ernte des Tees im Frühjahr.

Vielleicht in einer anderen Gegend weitere Blütenschätze aufzuspüren und zu heben.

»Das ist nicht so einfach.«

Wang blinzelte erstaunt. »Warum?«

»Meine Zeit hier ist auf ein Jahr beschränkt, gemäß meinem Auftrag der Society. Ich kann nicht eigenmächtig länger bleiben.«

Kalt überlief es ihn bei dem Gedanken, die an ihn gerichteten Instruktionen zu missachten. Der Horticultural Society zuwiderzuhandeln, der er so viel zu verdanken hatte. Die ausgerechnet ihm, der zwar Leiter der Treibhäuser war, aber dennoch nur ein einfacher Gärtner und kein studierter Botaniker, diese Chance gegeben hatte.

Wang zuckte mit den Schultern.

»Muss Fu-Chung dann Gesellschaft von Pflanzen schreiben! Müssen einsehen, wie wichtig, dass Fu-Chung hierbleibt. Kluge Männer, ja? Verstehen doch bestimmt. Und einsehen, dass kein Sinn, wenn Fu-Chung erst zurück und dann wieder her. Besser hierbleiben und alles in einem aufwischen.«

Fortune brütete über Wangs Argumentation nach, die seinen eigenen Gedankengängen entsprach.

Er rieb sich über das Gesicht.

»Es geht trotzdem nicht. Ich habe nicht mehr genug Geld, um viel länger zu bleiben.«

Die paar Käsch, die er für Lian als Leibwächterin ausgab, fielen kaum ins Gewicht. Stets ein Kämmerchen zusätzlich in den Herbergen anzumieten und Mahlzeiten für drei Personen hatten sich dennoch aufsummiert. Und auch seine Einkäufe in den Blumengärten von Canton hatten zu Buche geschlagen.

Fast war er dankbar für die Anordnung der Society, die Feuerwaffen samt Munition, die man ihm nur ungern zugestanden hatte, vor seiner Abreise zu verkaufen. Ein Notgroschen, der ihm vielleicht noch die letzten Wochen in China retten konnte, sollte es hart auf hart kommen.

Unter zusammengezogenen Brauen kratzte Wang die letzten Reste aus der Schale. Während er die Stäbchen ableckte, hellte sich seine Miene auf.

»Wang weiß! Kommt Fu-Chung mit zu Wang. Nach Anhui, für Winter. Kann wohnen und essen und alles. Und Tee studieren dort!«

Mit einem zufriedenen Rülpsen lehnte er sich zurück.

»Auch dafür habe ich nicht mehr genug Geld.«

Gekränkt verzog Wang das Gesicht. »hai-yah! Was denkt Fu-Chung von Wang?! Nicht bezahlen dafür. Eingeladen!«

Misstrauisch starrte Fortune ihn an. Es wäre das erste Mal gewesen, dass Wang nicht versuchte, ihm ein paar Münzen abzuschmeicheln oder sonst einen Vorteil für sich herauszuholen.

»Warum?«

»War Fu-Chung bester Herr für Wang. Immer!« Feierlich legte er eine Hand auf die Brust. »Große Ehre für Familie, wenn zu Gast. Und doch Freunde, jetzt.«

Auch an Wang schien die Zeit in Tiantung nicht spurlos vorübergegangen zu sein. Einmal hatte Fortune sogar beobachtet, wie Wang in einer Nische des Tempels Wiesenblumen vor einer Statue Buddhas ablegte und sich zum Beten niederkniete. Offener wirkte er seit den Tagen im Kloster, weniger großspurig, weniger launisch

Vielleicht hatten sie sich auch nur aneinander gewöhnt.

»Das ist ein mehr als großzügiges Angebot, Wang. Danke. – Wo ist das, Anhui?«

Das Kinn an die Brust gelegt, dass es Falten warf, kratzte Wang an einem Soßenfleck auf seinem Kittel herum.

»Nicht so weit«, murmelte er vor sich hin. »Hinter Shanghai. li so etwa … dreihundert.«

Vierhundert Meilen.

»Das geht nicht, Wang. Ich darf mich nicht weiter als dreißig Meilen von Shanghai entfernen. Das weißt du.«

Schelmisch schielte Wang ihn von unten herauf an. »Lässt Wang sich einfallen. Wang ganz schön viel, hier.« Er tippte sich an die Stirn.

»Trotzdem. Das ist zu weit. Frühestens im Winter kann ich mit Nachricht von der Society rechnen. Mit weiteren Anweisungen. Wie soll ich die in Anhui erhalten?«

Mit einem breiten Lächeln hob Wang den Kopf. »Gar keine Schwierigkeit, Fu-Chung! Von Anhui immer jemand nach Shanghai, für Handel oder Familie. Holt Post für Fu-Chung und bringt mit.«

Er langte über den Tisch und packte Fortune am Ärmel, rüttelte aufmunternd daran.

»Kommt mit, Fu-Chung, ja? Wird Spaß!«

Fortune hatte keine genaue Vorstellung davon, was ihm blühen würde, sollte er jenseits dieser Grenze von dreißig Meilen im Landesinnern aufgegriffen werden. Gefängnis vielleicht, womöglich Schlimmeres. Im besten Fall würde er wohl lediglich des Landes verwiesen.

Und auffallen würde er, als riesenhafter fremder Barbar – umso mehr, je entlegener die Gegend.

Genauso wenig konnte er einschätzen, wie die Horticultural Society reagieren würde, verlängerte er eigenmächtig seinen Aufenthalt. Gelang es ihm nicht, sie von der Wichtigkeit weiterer Forschung zu überzeugen, brach er damit alle Brücken hinter sich ab.

Ohne einen Penny würde er in China festsitzen, bis sich Lindley vielleicht erbarmte und die Rückfahrt aus seiner Privatschatulle finanzierte. Oder bis Jane vielleicht das Geld irgendwie aufgetrieben hätte.

Jane.

Jane würde noch länger auf ihn warten müssen.

Ein mehr als waghalsiger Plan war es, der hier im Lärm der Garküche aufgekeimt war und während der Mahlzeit am fettverschmierten und klebrigen Tisch die ersten Triebe ausgebildet hatte. Ein nach allen Seiten hin rücksichtsloser, geradezu egoistischer Plan.

Fortune fühlte sich nicht verwegen, nicht kaltblütig genug für eine solche Unternehmung.

In der anderen Waagschale jedoch lag die einzigartige, noch nie dagewesene Möglichkeit, den Tee an seinem Ursprung zu studieren. Als erster Weißer überhaupt. All die Geheimnisse und Finessen des grünen Goldes könnte er enthüllen, indem er zu den Teefeldern von Anhui reiste, bei der Familie eines Teebauern lebte.

Eine einmalige Chance.

Er musste nur zugreifen.

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