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Selbst wenn ich mich anstrengte – ich tat mich schwer damit, mir sein Land vorzustellen.
Zu fremd war mir das, was er davon erzählte. Vielleicht hatte ich auch nicht alles richtig verstanden.
Ein Apparat, der bleibende Abbilder auf Papier schuf, von Landschaften, Gebäuden und sogar Menschen.
Drähte, die Nachrichten von einem Ort zum anderen übermittelten.
Flüchtige Stoffe, ähnlich wie Luft, die betäubten, Schmerzen nahmen oder ganze Städte erleuchteten.
Ein Ungetüm auf Rädern, in dem ein Kohlefeuer brannte und das sich unter dem entstehenden Dampf vorwärtsbewegte. Ein eiserner Drache, der schnaubend und brüllend nach und nach die Insel eroberte, von der Fortune kam. Eine Insel, die viel größer war als Zhoushan, aber dennoch von Nord nach Süd nur fünfhundert li maß – weniger als die Entfernung zwischen Canton und Shanghai. Ich war mir nicht sicher, ob ich das alles einmal mit eigenen Augen sehen wollte. Diesen ausgeklügelten Zauber von Menschenhand, der in seiner Kühnheit, seiner kühlen Berechenbarkeit Fortunes Sprache ähnelte.
Wieviel davon würden die Barbaren nach China bringen?
Eine Welt voller Wunder war es, die Fortune mir beschrieb. Deren Menschen unbeirrbar vorwärtsstürmten und keine Grenzen kannten. Keine Grenzen des Geistes oder des Raums, und nicht einmal der Materie.
Für Götter hielten sie sich. Wähnten sich in dem Recht, ihnen stünde alles zu, worauf ihr begehrlicher Blick fiel. In der eitlen Überzeugung, ihre Werte, ihre Sitten wären allen anderen überlegen.
Gierig waren sie. Nicht allein nach Gold. Sondern nach Macht.
Wie viel davon würden sie uns aufzwingen, jetzt, da sie sich gleich über fünf Tore Zutritt zu unserem Reich verschafft hatten?
Eine Kluft der Zeiten tat sich zwischen uns auf, wenn Fortune von seiner Welt erzählte.
Bei allem Staunen, bei aller Bewunderung empfand ich auch Scham für die eitle, starrsinnige Rückständigkeit meines Landes. Einen flammenden, fast zornigen Stolz auf seine große Geschichte, seine lange Tradition und seine Schönheit, ungeachtet all dessen, was ich darin verabscheute.
Trotzdem hörte ich Fortune gern zu.
Er prahlte nicht mit den Errungenschaften seines Landes und schwärmte nie, blieb immer nüchtern, wenn er davon sprach. Ich mochte die Art, wie er sich ausdrückte und beharrlich meine Sprache übte, machte er dabei auch noch so viele Fehler. Ich war einfach gern in seiner Nähe.
Ich fing seinen Blick auf.
Glücklich sah er aus. Gleich, wie die Welt, aus der er kam, auch beschaffen sein mochte: Hier, in den Wäldern, zwischen den Blumen von Zhoushan, war er in seinem Element. Für mich, die stets ihre volle Aufmerksamkeit auf das richtete, was sich bewegte, auf Atemzüge und Geräusche, waren es einfach Blumen. Wohlriechende und hübsche Blumen, gewiss. Aber eben nur Blumen.
»Fortune … Warum faszinieren dich die Pflanzen so sehr?«
Ohne innezuhalten oder auch nur seine Bewegungen zu verlangsamen, fuhr er damit fort, Zweige aus dem Strauch zu schneiden. Auf den ersten Blick schien es, als hätte er meine Frage überhört. Doch etwas an seiner Haltung, in seiner Mimik verriet mir, dass er über eine Antwort nachdachte. Ich hatte gelernt, in seinem Gesicht zu lesen.
»Gestern«, begann er schließlich. »Die zi teng. Erinnerst du dich?«
Ich nickte.
»Wie ging es dir, als du sie gesehen hast?«
Ich dachte an den Wasserfall aus blauen Blüten. An das Leuchten im Zwielicht des Waldes. An diese ungewöhnliche, schillernde Farbe, die in Bächen aus dem Astgeflecht über uns herabzuströmen schien. Die eins war mit ihrem überwältigenden Duft.
Es war nicht das erste Mal, dass ich ihr im Frühling begegnet war. Aber das erste Mal, dass ich versuchte, sie mit Fortunes Augen zu sehen.
»Ich fand sie … schön.«
Fortune lächelte.
»Diese Schönheit ist es, die mich fasziniert. Diese Schönheit, die etwas in der menschlichen Seele berührt und bewegt. Dabei ist dieser Zauber der Blüten, ihre Pracht, ihr Duft nicht für uns Menschen gedacht. Sondern für die Bienen. Die Schmetterlinge. Diese Schönheit, diese Vielfalt soll Insekten dazu verführen, die Blüten zu bestäuben. Und trotzdem erliegen wir Menschen genauso dieser Verführung durch ihre Formen und Farben. Durch ihren betörenden Duft.«
Er zupfte eine der rosafarbenen Blüten ab und ließ sich auf die Knie nieder.
»Kleingeistige Menschen mögen einwenden, was das doch für eine Verschwendung sei. Wie Blüten, die nur einen Tag lang blühen – oder nicht einmal so lange. Der Hibiskus zum Beispiel oder die Malve, und die Blüte der Baumwollpflanze, die zur selben Familie gehören … Sie entfalten sich nur für ein paar Stunden. In dieser kurzen Zeit erfüllen sie die Aufgabe, die die Natur für sie vorgesehen hat. Dann schrumpfen sie und welken. Die Natur ist alles andere als kleingeistig. Von unfassbarer Großzügigkeit ist sie. In ihr hat die Fülle einen Sinn, die Schönheit, aber auch die Vergänglichkeit. Nichts davon ist zufällig, jede Farbe, jede Blütenform erfüllt ihren ureigenen Zweck. – Sieh dir das hier an.«
Ich machte einen langen Hals, und sein Lächeln vertiefte sich.
»Du musst schon etwas näher kommen. Noch näher. Noch ein bisschen.«
Meine Schulter streifte beinahe seinen Arm, so nah war ich ihm. Eine kräftige Wärme ging von ihm aus. Nach sattem Waldboden roch er. Ein bisschen wie sonnendurchwärmter, moosiger Fels und nach dem schweren Salz von Treibholz.
Ich konnte die Poren in seiner Haut erkennen. Die kurzen, starken Wimpern, deren Spitzen sonnengebleicht waren, und eine Andeutung von Bartschatten auf der Oberlippe. All die groben, harten Linien seines Gesichts, das mir inzwischen so vertraut geworden war, dass ich nicht mehr verstand, wie ich es früher einmal hässlich hatte finden können.
Ich riss meinen Blick von ihm los und richtete ihn auf die Blüte, deren Blätter er vorsichtig auseinanderzog.
»Siehst du diese fünf Fäden, ringsherum am Rand? Das sind die Staubblätter. Das Androeceum, der männliche Teil der Blüte. Er bildet den Pollen. Und das in der Mitte hier – das sind die Fruchtblätter. Das Gynoeceum. Wörtlich übersetzt: das Haus der Frau, der weibliche Teil der Blüte. Wenn jetzt eine Biene in die Blüte kriecht, auf der Suche nach Nektar, überträgt sie den Pollen auf diese Stelle da. Siehst du sie? Sieht fast wie ein winziges Herz aus. Die Narbe. Von dort aus wandert er hinunter, auf den Grund der Blüte, in den Fruchtknoten. Aus der Verschmelzung von Pollen und Eizelle entsteht dann der Samen für neue Pflanzen.«
Seine Stimme wurde weich.
»Wenn das nichts anderes als ein Wunder ist! Ein Wunder, das sich wohl seit Äonen ereignet, überall und milliardenfach und meist unbemerkt vom menschlichen Auge. Das Prinzip allen Lebens auf dieser Erde. Nicht nur bei den Pflanzen. Auch bei den Tieren, von den winzigsten bis zu den allergrößten. Und nicht zuletzt bei uns …«
In der plötzlichen Stille blinzelte ich zu ihm hinauf. Er war rot geworden.
»Entschuldige. Ich hatte für einen Moment vergessen, dass …«
»Was vergessen?«
Seine Schultern ruckten unter der leichten Jacke, zu der er mit dem Frühling übergegangen war.
»Nun, wo ich herkomme ... An sich gilt Botanik als angemessener Zeitvertreib für Mädchen. Für Frauen. Nur nicht, wenn es um die … Biologie geht.«
»Warum nicht?«
»Weil …« Er räusperte sich. »Aufgrund der Parallelen zu … Ganz besonders bei Orchideen, deren Blüten doch gewisse Ähnlichkeiten mit … Und dann auch noch der Duft. Zu überwältigend. Zu … aufreizend.”
Ich lauschte dem Echo seiner Stimme in meinem Kopf. Zu absurd kam mir diese Vorstellung vor, die man offenbar in seinem Land pflegte, als dass ich ihn richtig verstanden haben konnte.
Ein Kichern perlte in meiner Kehle. Ich schlug die Hand vor den Mund, um es zurückzudrängen.
Unter Fortunes Blick, halb verdutzt und halb erleichtert, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich lachte los. So unbeherrscht, dass ich das Gleichgewicht verlor, aus der Hocke auf meine Kehrseite plumpste und noch mehr lachen musste.
Ein anderes Lachen mischte sich in meines, tief und volltönend. Leise und zögerlich erst, doch schnell lauter werdend. Er hatte ein schönes Lachen, warm und geschmeidig.
Wir schütteten uns aus vor Lachen, Fortune und ich, und immer wenn der eine kurz davor war, sich zu beruhigen, steckte ihn der andere von Neuem an. Bis wir beide nicht mehr konnten, unter den letzten Lachern nach Luft schnappten und uns dabei in die Augen sahen.
Leicht war mir zumute. Fast ein bisschen schwindelig vor Übermut. Eine Art von übersprudelndem Glücksgefühl verspürte ich, das ich schon fast vergessen hatte.
In Fortunes Augen funkelte es jungenhaft, geradezu ausgelassen.
Dann verdunkelten sie sich, wie der Himmel nach Sonnenuntergang. Die Heiterkeit auf seinem Gesicht erlosch, wich einer ernsthaften Verwunderung. Einer erhellenden Einsicht, über die Wolken aus Fragen, Zweifel, Unsicherheiten hinwegzogen. Ein Blick, der mir unter die Haut ging. Mich verlegen machte, und von dem ich mich trotzdem nicht lösen konnte.
Fortune tat es für mich.
Hastig senkte er den Kopf und durchwühlte fahrig die Taschen seiner Jacke, bis er sein Notizbuch fand und sich in den aufgeschlagenen Seiten vergrub.
Der Zauber des Augenblicks war zerstoben und ließ mich in einer plötzlichen Kühle zurück. In einem Zustand der Verwirrung, den ich gleichwohl genoss. Mein Blick streifte durch den Wald und traf auf den Wangs. Auf dem Ellbogen halb aufgerichtet, grinste er zu mir herüber. Frech und ein wenig anzüglich, aber nicht unfreundlich.
Unwillkürlich schickte ich ein kleines Lächeln zurück.
Ich beobachtete Fortune, der vornübergebeugt auf dem Waldboden kniete. Betrachtete den Blütenzweig, der neben ihm lag und über den er wohl gerade in sein Notizbuch schrieb.
Irgendwann, seit er vorhin begonnen hatte, mir zu erklären, weshalb er Blumen so sehr liebte, hatte ich es verstanden.
Jetzt verstand ich die Schönheit der Pflanzen.
Ich verstand, wie viel von dieser Schönheit es gab. In China. Auf der ganzen Welt.
Und wie wenig ich davon gesehen hatte.
Weil ich meist in den Schatten unterwegs war. In den finsteren Ecken. Mich mit der dunklen, der hässlichen Seite des Lebens und des Menschseins abgab. Fortunes Art von Unschuld hatte ich schon vor langer Zeit verloren.
Das Glücksgefühl sickerte aus mir heraus, und eine Welle von Traurigkeit wusch über mich hinweg. Noch einmal schäumte sie auf, als sie sich an dem Gedanken brach, dass Fortune China wieder verlassen würde. Bald schon, im Juli. In nicht einmal mehr vier Monden.
Ich wollte etwas sagen, um die Kluft zwischen uns zu überbrücken.
Das Einzige, was mir einfiel, kam schroff heraus.
»Es wird Zeit, dass du kämpfen lernst.«