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Ich fand ihn auf dem Dachboden. Auf den Knien, die Hände voller Erde.

Ein Dachboden war es, wie ihn auch mein Elternhaus gehabt hatte, über eine Leiter und eine Luke zu erreichen. Mit Fensteröffnungen, die kaum mehr als Schlitze im Mauerwerk waren, damit Brennholz und Kleider, die man in der warmen oder kalten Jahreszeit jeweils nicht brauchte, trocken und gut gelüftet blieben. So niedrig, dass sogar ich mich tief bücken musste, um nicht mit dem Kopf anzustoßen.

Auf allen vieren kroch ich über den Boden und ließ mich neben Fortune nieder.

Eine neue Schroffheit, fast schon Härte, fand sich in seinem Gesicht, vielleicht über den Winter eingegraben, vielleicht nur für den Augenblick.

Die Bewegungen, mit denen er die Stecklinge in Töpfe bettete, verlangsamten sich, nahmen dann ihren gewohnten Rhythmus wieder auf. Nur das Flackern in seinen Augen verriet, dass er sich meiner Anwesenheit bewusst war.

Ich sah mich um.

Einen kleinen Garten hatte er hier oben angelegt, in unzähligen einfachen Tonschalen und Töpfen. Meist Ableger, die bereits frisch austrieben, schon die ersten Knospen zeigten.

Er war wirklich ein Magier. Ein Magier der Pflanzen.

Mein Blick fiel auf den einzelnen Glaskasten in der Ecke, noch halb von einem weichen Tuch verhüllt. Der Grund, weshalb ich mich fortgestohlen hatte und weshalb ich zurückgekommen war.

»Ich habe es für mein Land getan«, erklärte ich leise. »Für die Menschen. Damit die Bauern weiter vom Tee leben können, den dein Volk ihnen abkauft.«

»Tee, den dein Volk mit Farben versetzt, die möglicherweise giftig sind.«

Ich spürte die Kluft, die uns trennte. Diesen Abgrund zwischen unseren beiden Ländern, die sich zutiefst misstrauten und unlängst sogar bekriegt hatten. Die dennoch miteinander verbunden waren: durch den Tee. Die Gier nach Silber.

»Dein Volk ist es, das die Menschen hier mit Opium vergiftet.«

Die Bewegungen von Fortunes Händen gerieten aus dem Takt, büßten an Geschmeidigkeit ein. Als müsste er sich Mühe geben, die Stecklinge nicht zu fest anzupacken in seinem Zorn. Diese zarten, verwundbaren Pflänzchen.

»Wir sind so klein, wir Menschen«, flüsterte ich.

Er hielt inne. »Ja, das sind wir.«

»Und immer wieder glauben wir trotzdem, wir könnten etwas ausrichten. Einen Stein herausschlagen aus dem großen, gewaltigen Gefüge der Welt. Damit etwas in Gang setzen. Etwas verändern.«

Lange hatte ich das auch geglaubt.

»Jeder noch so große und alte Baum war einmal ein kleiner Schössling«, erwiderte Fortune. Er richtete seinen Blick auf eine der Fensteröffnungen.

»Ich weiß nicht, ob wir überhaupt eine Chance haben, selbst Tee anzubauen. Je mehr ich darüber lerne, desto schwieriger kommt mir dieses Unterfangen vor. Vielleicht ist es nicht möglich, wenn man nicht über Jahrhunderte der Erfahrung verfügt. Falls es uns gelingen sollte …«

Sein verhärtetes Gesicht geriet in Bewegung.

»Ich bin mir bewusst, dass englischer Tee viel verändern wird. Für dein Land ebenso wie für meines. Aber ich glaube daran, dass gute Dinge für alle zugänglich sein sollten. Nicht von einem, der sie in seinem Besitz hat, eifersüchtig verteidigt werden dürfen. Und ich glaube daran, dass es für beide Länder besser ist, wenn sie in einen fairen Wettstreit treten. Anstatt gegenseitig ihre Macht auszuspielen. Mit Tee. Mit Opium. Mit Waffen.«

Er hob eine erdverschmierte Hand und betrachtete sie, verrieb die feuchten Krümel zwischen den Fingerspitzen.

»Hast du dich deshalb heimlich davongemacht? Um mir nicht mehr unter die Augen treten zu müssen, nachdem du die Kiste beschädigt hattest?«

Ich schwieg.

»Ohne ein Wort? Ein einziges Wort? Nicht einmal Lebwohl?«

Er wusste zu kämpfen, mit Worten statt mit den Fäusten.

»So bin ich eben. Eine Tochter des Windes – erinnerst du dich?«

Fortune schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht so.«

Ich lächelte. »Nein. Du bist ein großer Baum. Mit langen Wurzeln und so stark, dass selbst ein Sturm dir nichts anhaben kann.«

Um seinen Mund zuckte es, bevor er die Stirn runzelte. »Wie lange wirst du diesmal bleiben?«

Ohne dass ich es bemerkt hatte, hatte er mich in eine Ecke getrieben; ich konnte die Wände spüren, die sich um mich zusammenzogen.

So leicht wäre es gewesen, für immer zu sagen. Oder solange du hier bist. Aber ich gab nie Versprechen, die ich nicht halten konnte.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte ich.

Er nickte nur und beugte sich über den Tontopf, grub weiter in der Erde.

Etwas an seinem Schweigen, an der Art, wie er die Schultern hochzog, beunruhigte mich. Als ob sich die Kluft zwischen uns verbreiterte, die ersten Grate eines Gebirges sich daraus hervorschoben.

Unglücklich sah er aus, und darum bemüht, es in sich einzuschließen.

»Fortune …«

Es war wie im Kampf, wenn man die Klinge des Gegners auf sich zufliegen sieht. Man will sich vielleicht ducken, riskiert aber dabei, dass sie einen im Nacken trifft oder zwischen den Schultern.

Man kann nur eines tun: vorwärtsstürmen, mit allem Mut, aller Kraft.

»Ich bin auch deshalb gegangen, weil du ein verheirateter Mann bist.«

Er blinzelte, und eine leichte Röte zog über seine Wangen. »Deshalb«, sagte er rau, »war ich manchmal erleichtert, dass du nicht mehr da warst.«

Wäre ich eine andere Frau gewesen, hätte ich jetzt vielleicht meine Arme um ihn geschlungen oder wenigstens meine Hand auf seine Schulter gelegt.

Stattdessen verschränkte ich die Finger wie zu einem kleinen Korb, einer Schale.

Als könnte ich seine Worte, diese kostbaren Worte und das, was darin mitschwang, darin aufbewahren.

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