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Ich fand keinen Schlaf.

Ruhelos wanderten meine Blicke durch das Kämmerchen in der Herberge. Ich hatte sogar vergessen, das Licht zu löschen.

Meine Gedanken kreisten um die Setzlinge in Fortunes Kammer.

Ein Geschenk wie für einen Kaiser.

Ein verbotenes Geschenk, das uns alle den Kopf kosten konnte.

Wie naiv mussten die Mönche von Tiantung sein, um keinen Gedanken daran zu verschwenden, dass Fortune, der fremde Barbar, die Pflänzchen sicherlich mit in seine Heimat nehmen würde. Wie weltfremd, dass sie offenbar nicht wussten, welche Strafe darauf stand, Teepflanzen außer Landes zu bringen.

Den ganzen Weg zurück nach Ningbo waren meine Sinne geschärft gewesen wie die Klinge von Long Yuan, meine Muskeln gespannt wie die Sehne eines Bogens. Hinter jedem Strauch und jedem Baum, hinter jedem Fels und an jeder Wegbiegung witterte ich bewaffnete Männer, die die Falle zuschnappen lassen würden.

Doch niemand war uns gefolgt. Niemand hatte uns behelligt.

Denkbar, dass die Mönche eigene Ziele mit diesem Geschenk verfolgten.

Wie jeder fremde oder unsichere Herrscher wähnte auch der jeweilige Himmelssohn überall Nester von Unruhe, Widerstand und Umsturz. Besonders dort, wo sich Menschen anderen Glaubens zusammenfanden.

Die Welt der Mandschus ruhte auf den Lehren von Kung Fu Tse, der die Anbetung von Himmel, Kaiser, Ahnen und Eltern über alles stellte. Für die Lehre des Dao, die Verehrung Buddhas oder gar Allahs, wie es sie an den Rändern des Reiches gab, hatten sie nichts als Geringschätzung übrig. Und wenn sie die Zeit dafür fanden und die Lust dazu sie überkam, ließen sie ihre Streitkräfte ausschwärmen, um jeden anderen Glauben auszumerzen.

Das Kloster, in dem ich groß geworden war, war nicht das einzige, das unter den Mandschu gelitten und einen hohen Blutzoll entrichtet hatte; viele, viele mehr hatte es gegeben.

Mit den Geschichten darüber hatten unsere Meister ihre Schüler auf Treue eingeschworen, zu Buddha und dem Kloster. Uns Stolz gelehrt, auf die Aufgabe, die man uns anvertraute.

Aber kein Kloster hatten die Mandschu stärker bluten lassen als das Kloster der Alten Haine und Jungen Bäume. Für die Treue der Mönche zu den gestürzten Ming. Für das Gold und das Silber, das diese Treue dem Kloster eingebracht hatte. Denn Gold und Silber liebten die Mandschu ebenso sehr wie die Macht.

Und allzu leicht witterten die Mandschu die Saat von Unruhe und Verrat in den Klöstern, mochten sie auch noch so klein und entlegen sein, die Mönche noch so friedliebend wirken.

Möglich, dass die Mönche von Tiantung ihren kleinen Beitrag leisten wollten, die Mandschu zu Fall zu bringen. Indem sie sich daranmachten, eine der Säulen zu zertrümmern, auf denen die Herrschaft der Mandschu ruhte.

Die Säule des grünen Goldes.

Gerade jetzt, nachdem der Krieg Berge von Silber und Gold verschlungen hatte und China dazu noch an die fremden Barbaren viele Millionen Silberstücke zahlen musste.

Tee war das Gut, das das meiste Silber in die Schatullen des Reiches spülte. Das Gut, das die Menschen des Westens am stärksten anzog, so wie ein Licht die Nachtfalter. Auch Fortune.

Ich konnte nicht einschätzen, ob er um die Bedeutung des Tees für unser Land wusste. Ob er wusste, wie heilig uns die Geheimnisse des Tees waren, deren Verrat mit dem Tode bestraft wurde.

Ich schob mich aus dem Bett, stieg in meine Stiefel und hängte mein Schwert um, auch wenn ich nur ein paar Schritte ging.

Das Talglicht in der Hand, klopfte ich an Fortunes Tür. Schob sie dann langsam auf und leuchtete mir einen Weg durch die Kammer. Männergeruch stand in der Luft, ledern und halb salzig, halb schweflig.

Der Lichtschein glitt über Holzkisten und Fortunes Botanisiertrommel auf dem Boden. Über die Tasche, die er sonst immer dabei hatte, und sein größeres Reisebündel, aus dem Hemdzipfel quollen und Socken. Meine Hand strich über den dicken, abgeschabten Stoff von Fortunes Winterjacke, die über dem Stuhl hing.

Die Kiste aus Glas stand in einer Ecke, halb verborgen neben dem Tisch mit Fortunes Papieren. Ich ging vor ihr in die Knie, leuchtete hinein.

Wie ganz gewöhnliche Pflänzchen sahen sie in meinen Augen aus. Genauso gut hätte es sich um Gemüse handeln können. Um Orangensetzlinge. Oder um die Ableger eines Strauchs, den man allein deshalb pflanzte, weil er besonders schöne Blüten trug.

Gewiss würden auch die Arbeiter morgen im Hafen so darüber denken. Sofern sie dem Inhalt der Kiste überhaupt einen zweiten Blick schenkten. Niemand würde Verdacht schöpfen, was Fortune da auf die Reise schickte.

Erleichterung wollte sich bei mir dennoch keine einstellen.

Ich stellte das Licht auf dem Boden ab, legte die Hände gegen das Glas und besah mir die Pflänzchen genauer. Kaum vorstellbar, dass sie so viel wert waren. Ein Zigfaches ihres Gewichts in Silber. So viel Silber, dass die fremden Teufel es nicht bezahlen wollten und uns zwangen, Opium für den Gegenwert des Tees anzunehmen.

Opium, das eigentlich bei uns verboten war. Von dem die fremden Teufel im indischen Teil ihres Reiches aber mehr als genug hatten und noch nicht einmal etwas dafür ausgeben mussten, um darüber zu verfügen. Und als die kaiserlichen Mandarine sich weigerten, weiter Opium im Tausch gegen Tee ins Land zu lassen, waren die Fremden mit ihren Feuerwaffen gekommen.

Was würde geschehen, wenn sie ihren eigenen Tee hätten? Nicht heute, nicht morgen, aber übermorgen?

Ich hatte gesehen, was Opium mit den Menschen machte. Nicht nur mit den Reichen, die ihr Opium genossen wie Seide und Juwelen. Jeder konnte es sehen, in den Straßen der Städte, an den Handwerkern und Hafenarbeitern. An den Bauern, die versuchten, mit Opium die drückende Last ihres Jochs zu erleichtern, in noch so entlegenen Landstrichen. Diese ausgemergelten, geisterhaften Gestalten, in deren Augen keine Seele mehr war.

Es könnte Gutes daraus erwachsen, hätten die Barbaren ihren eigenen Tee. Wenn sie unseren nicht mehr brauchten, nicht mehr wollten, würden sie vielleicht aufhören, unserem Land ihr Opium aufzuzwingen.

Doch was würde dann aus den Teebauern?

Ich dachte an die Teefelder, die ich auf meinen Wanderungen gesehen hatte. Viele waren es gewesen, li um li. Was würde aus ihnen, wenn die fremden Barbaren nur noch wenig von diesem Tee kauften – oder gar keinen mehr? Wenn ihr Tee überall, wo auf der Welt Tee getrunken wurde, den unseren verdrängte, weil er besser war oder schlicht billiger?

Die Mandschu würden nicht wegen des Tees stürzen, das sah ich ein, dafür wäre wesentlich mehr nötig. Und die Reichen würden reich bleiben, das war schon immer so gewesen.

Die kleinen Leute würden es sein, die darunter zu leiden hatten. All die vielen, vielen Menschen, die den Tee im Land hegten und ernteten, verarbeiteten und auf seinen Weg brachten und so die Reisschüsseln ihrer Familien füllten.

Ein Gedanke, der bitter schmeckte.

Je länger ich darüber nachdachte, desto elender wurde mir zumute.

Nicht zuletzt, weil mir die Konsequenzen, die aus der kleinen Glaskiste unter meinen Händen entstanden, so gewaltig, so weitreichend erschienen. So unwägbar.

Unruhig wanderten meine Hände über den Holzrahmen. Wurden fündig, ohne dass ich danach gesucht hätte: ein Stückchen abgeplatzter Lack unter meinem Daumen. Dort, wo die Kanten des Holzrahmens aneinandergefügt waren.

Vielleicht würde schon morgen ein anderer Barbar Teepflanzen aus China herausschmuggeln. Im nächsten Jahr oder in zehn Jahren. Pflanzen, die das ferne, reiche und mächtige Land der Engländer noch reicher und mächtiger machen würden.

Es spielte keine Rolle. Ich, Lian, war heute hier. Bei diesen Pflänzchen.

Ich langte an meinen Stiefel und zog mein Messer, schälte es aus der Lederhülle. Klein war es, dafür umso schärfer und spitz. Gut, um Fleisch damit zu schneiden und Rüben, vielleicht ein Seil zu durchtrennen. Alles, wofür mir die Klinge meines Schwerts zu kostbar war. Wie etwa Holz.

Ich dachte an Fortune.

An das überwältigende Glück auf seinem Gesicht, während er den Sack mit den Setzlingen so vorsichtig in den Armen hielt wie einen Säugling, den ganzen Weg von den Bergen zurück nach Ningbo. An den Glanz in seinen Augen dachte ich.

Aber auch an das ungute Gefühl, das mich auf diesem Weg im Nacken gepackt hielt. Die Angst, mich in Fortune getäuscht zu haben. Von ihm getäuscht worden zu sein, weil er die ganze Zeit doch nur eines im Sinn gehabt hatte: unseren Tee zu stehlen.

Unsere flüssige Jade.

Unseren Stolz, seit Tausenden von Jahren.

Dieser fremde Barbar, der bereits mit einem Bein wieder auf dem Schiff stand, das ihn nach Hause bringen würde. Während wir hier zurückblieben mit den Folgen, die sein Handeln für uns hatte.

Verzeih mir, Fortune, bat ich stumm, als ich die Spitze des Messers ansetzte.

An der Kante, an dieser Wunde im Lack, übte ich leichten Druck aus, bewegte die Klinge erst sanft, dann kräftiger auf und ab. Es knirschte, und ich hörte Luft entweichen, wie ein erleichtertes Seufzen.

Mit der Hand fegte ich die feinen Lackspäne unter den Tisch, verteilte sie dort großzügig zwischen Staub und Erdkrümeln.

Ich hob das Talglicht vom Boden auf, betrachtete in seinem Schein mein Werk. Niemand, der nicht ganz genau hinsah, würde bemerken, was ich getan hatte. Vielleicht aber würde es genügen, damit die Pflänzchen niemals lebend ihr Ziel erreichten.

In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Auch dann nicht, nachdem ich vor meiner Tür Fortunes feste Schritte gehört hatte, Wangs Stimme und sein Gelächter verstummt waren.

Ich hatte das Richtige getan für die Menschen meines Landes, das wusste ich. Aber ich wusste nicht, wie ich Fortune morgen noch in die Augen schauen sollte. Oder übermorgen.

Und an allen anderen Tagen, die noch blieben.

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