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Er stand da wie eine der übergroßen Puppen aus Gras, die im Hof des Klosters von Pfählen herabbaumelten, damit wir uns erst daran mit scharfen Klingen versuchen konnten, ehe es an einen Gegner aus Fleisch und Blut ging.

Jämmerlich wirkte er.

Schlag um Schlag teilte ich aus. Kontrollierte Hiebe und Tritte, die ihm wehtaten, ohne an Sehnen, Bändern, Muskeln, Knochen und Organen Schaden anzurichten, einen wichtigen Meridian zu treffen.

Er blieb reglos.

Was war er nur für ein Mann, dass er sich das gefallen ließ? Noch dazu von einer Frau, die viel kleiner und leichter war?

Meine Schläge kamen schneller, härter. Ohne nachzudenken, bellte ich die Kommandos meiner Meister.

Links. Rechts. Haltung. Blocken.

Ohne daran zu denken, ob Fortune mich verstand.

Das chi. Du vergisst dein chi! Wo ist deine Deckung? Was ist mit deinem Fuß? Nicht gut. Von vorne.

Mit jedem Schlag, jedem Wort traf mich die Erinnerung an Yun.

Sein Jungengesicht, das in meinem Beisein zu dem eines Mannes gereift war. Seine Augen, die unter dem rasierten Kopf mal schwarzen Seen glichen, mal mit ihrem spöttischen Funkeln kostbarem Onyx.

Mein Schwertbruder. An dem ich mich immer gemessen hatte, in Schnelligkeit, Geschicklichkeit, Treffsicherheit, den ich stets zu übertrumpfen suchte. Mein liebster Gegner in jedem Kampf.

Kämpfe, die sich wandelten, wie wir uns wandelten. Aus dem spielerischen Wettstreit zwischen Kindern, dem verbissenen Ringen um die Oberhand als Halbwüchsige wuchs ein Werben um den anderen. Scheu zuerst, dann kühner, jeder Schritt schon eine Ahnung des Spiels von Wolken und Regen. Jeder Blick. Jeder Schwung des Schwerts.

Bis ich den letzten Kampf verlor. Den wichtigsten, alles entscheidenden, ausgetragen auf dem haarfeinen Grat zwischen Ja und Nein.

Ich verlor Yun.

»Hör auf!«

Ich zuckte zusammen, als mich starke Hände an den Schultern packten. Fortunes Augen schlugen blaue Funken.

»Ich kann das nicht, verstehst du!«

Sein Blick wurde matt. Er ließ die Hände fallen und die Schultern hängen.

»Ich kann es einfach nicht.«

Hilflos stand dieser Riese vor mir, ein beschämtes Erröten auf dem Gesicht, eine Art von Aufbegehren in seinen Zügen. Ich spürte, wie ich weich wurde.

Nein, er konnte es wirklich nicht. Er war nicht in der Lage, die Hand gegen mich zu erheben. Gegen gar keine Frau.

Besänftigt war ich nicht.

Wie konnte er es wagen, an meine alten Wunden zu rühren. Mich an Yun zu erinnern. Meinen inneren Frieden zu stören, für den ich so weit gewandert war. Um mir danach den Rücken zu kehren und einfach wieder in seiner Welt zu verschwinden.

Dafür verwünschte ich diesen Engländer, so ungerecht das auch war. Versuch es wenigstens, hätte ich zu ihm sagen müssen. Ihn so lange bearbeiten und bis aufs Blut reizen, dass sein Widerstand in sich zusammenfiel. Wie es ein guter Meister getan hätte.

»Du verdienst es«, sagte ich stattdessen, »wenn sie dich in irgendeiner Gasse verprügeln und berauben, das nächste Mal.«

Ich klaubte meine Jacke und mein Schwert vom Boden auf und ging davon.

Ziellos wanderte ich über die Insel.

Unter einem Himmel, der sich ständig veränderte. In seinen Farben, seinem Licht, seinen Wolkenmustern.

Nach einem Meer aus Gras hielt ich Ausschau, um es mit meinem Schwert niederzumähen. Nach Baumschösslingen, die ich köpfen wollte. Einem Bambushain, den ich in Stücke schlagen konnte.

Auch wenn das bedeutete, dass ich die Nacht damit zubringen würde, die stumpfgehauene Klinge meines Schwerts wieder zu schärfen.

Ich gab mir alle Mühe, die Wärme seiner Hände auf meinen Schultern abzuschütteln. Den Druck seiner Finger, den ich noch lange danach spüren konnte.

Doch überall, wo ich hinkam, wurde ich an Fortune erinnert.

In all dem Grün. Den Gestalten der Bäume und Sträucher.

In diesen Blüten. So vielen Blüten.

Meine Schritte wurden leichter, mit jedem li, das ich zurücklegte.

Ein See aus Farben war die Insel, den ich staunend durchquerte, als sähe ich alles zum ersten Mal.

Konnte man darüber seinen Zorn vergessen? Seinen Kummer?

Zumindest spendete es mir Trost.

Ein Geschenk war es, das Fortune mir da gemacht hatte. Indem er mir die Augen öffnete für dieses Wunder. Etwas, das vielleicht bleiben würde, wenn er selbst schon längst fort war.

Wie mir auch so vieles, was Yun mich gelehrt, was ich durch ihn erfahren hatte, geblieben war.

Vielleicht blieb am Ende nicht immer nur das Schlechte übrig, sondern auch etwas Gutes. Ein Echo der Schönheit, die einmal gewesen war.

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