36

Geradezu nackt kam ich mir vor, ohne mein Schwert.

Während ich durch das feuchte Gras ging, dachte ich voller Sehnsucht an Long Yuan, wie es in meiner Kammer auf der zusammengefalteten Decke lag. Neben meiner Jacke, unweit meiner Stiefel.

Mein Respekt vor der Lebensweise der Mönche hatte mich dazu bewogen, es dort zu lassen. Nicht nur, solange ich mich innerhalb des Klosterbaus aufhielt, sondern auch in seiner unmittelbaren Nähe. Auf dem Grund, auf dem die Mönche von Tiantung lebten, ihrem Tagwerk nachgingen und beteten.

Ich gestand es mir nicht gern ein, aber auf eine seltsame Art fühlte ich mich befreit dadurch. Wie ein Atemschöpfen war es, diesen einen Tag lang ohne Pflichten zu sein.

Fortune war in aller Frühe in die Wälder hinausgezogen, einen Imbiss aus der Klosterküche im Gepäck, wie mir die Mönche am Morgentisch erzählt hatten. Begleitet von seiner Feuerwaffe, die ihn in Tiantung zum Helden gemacht hatte.

Ein Tag war mir geschenkt worden, an dem ich nichts weiter tun musste, als zu sein. Nicht beständig auf dem Sprung, nicht fortwährend auf der Hut.

In diesem Kloster, in dem man mir mit nichts als Freundlichkeit begegnete. Dafür sorgte, dass ich gut schlief, reichlich zu essen hatte und dass es immer frisches Wasser in meiner Kammer gab. In dem ich frei durch alle Räume, alle Hallen streifen konnte, durch die Gärten und über die Wiesen, ohne Gefahr wittern zu müssen.

Die Hälfte dieses Tages hatte ich im Gebet verbracht.

Die bloßen Füße auf kühlem Stein, im Schatten eines geschwungenen Daches. Erst in langsamen und kraftvollen Bewegungen, fließend wie das Murmeln des Flusses neben dem Pavillon. Dann schwungvoller, schneller, mit einer Kraft wie Sturm und Blitz und Donner. Mein Atem, mein Herzschlag im festen, antreibenden Rhythmus von Trommelschlägen, im Kampf der leeren Hände.

Im Pavillon am Fluss waren sie bei mir, all die Kinder aus dem Kloster der Alten Haine und Jungen Bäume. Wie sie es zehn Jahre lang gewesen waren, vor mir, hinter mir, neben mir, in unserer Aufstellung im Klosterhof. Hundert Arme, die in perfekter Harmonie durch die Luft schwangen, hundert Beine, die in vollkommenem Einklang zum Himmel hinauf kickten. Ein Leib, ein Atem, eine Stimme, deren Laute die Kraft in uns vervielfachten.

Es war die Kraft der Gemeinschaft, die man mitnahm und in sich trug, wenn es in den Kampf ging.

Auch viele Jahre später noch, vielleicht für immer.

Ich spreizte die Zehen, grub sie tiefer zwischen die glatten Grashalme und schaute auf den See, zu den blauen Rücken der Berge dahinter.

Still war es in mir. Still und friedlich.

Wachsam blieb ich dennoch.

Hinter mir raschelte es. Das Gewicht bereits auf meinem Standbein, meine Armmuskeln angespannt, fuhr ich herum.

Eingefroren in seiner Bewegung starrte mich ein Mönch an, der gerade dabei gewesen war, auf Zehenspitzen durch das Gras zu schleichen, ein Bündel in seinen Armen.

»Ich bitte um Verzeihung, Frau Lian. Ich wollte Euch nicht in Eurer Andacht stören. Und noch viel weniger wollte ich Euch erschrecken.«

Er war nicht mehr jung. In losen Falten hing die Haut an seinem Gesicht und verwarf sich an seinem Hals zu tiefen Gräben.

Ich verneigte mich vor ihm. »Ich bitte Euch um Verzeihung, Sifu, dass ich so heftig reagiert habe. Das war nicht angemessen für diesen Ort.«

Unter den schweren Lidern blinzelten seine Augen kurzsichtig.

»Nicht Sifu, Frau Lian. Ich bin kein Meister. Nur ein einfacher Mönch. Hoshang Qin.«

»Seid gegrüßt, Hoshang Qin.”

Ein Leuchten glitt über sein Gesicht. »Ihr seid vom Tempel der Alten Haine und Jungen Bäume.«

Ich folgte seinem Blick.

Nicht nur meine Worte an ihn waren im Reflex erfolgt, sondern auch die Haltung meiner Hände: die Rechte zur Faust geballt, die Linke wie das Dach eines Hauses daran gelehnt.

Der Gruß eines Kämpfers, der in Frieden kam.

Der Gruß meines Klosters.

»Von welchem Berg kommt Ihr?«

Ich ließ meine Hände sinken. »Songshan.«

In seinen Augen glänzte es auf.

»Der erste aller Tempel der Alten Haine und Jungen Bäume. Von Bodhidharma gegründet. Zur Zeit der Kämpfe zwischen den nördlichen und südlichen Dynastien. Ich habe davon in den Schriften gelesen.«

»Ich habe das Kloster vor langer Zeit verlassen.«

»Aber Ihr kennt es.« Sein Bündel an sich gepresst, tat er ein paar zaghafte Schritte auf mich zu. »Viel Wundersames habe ich darüber gelesen. Davon gehört.«

Ich dachte an all die Geschichten, die es über unser Kloster gab. Von den wenigen Mönchen, die die Gemetzel der Mandschu überlebt hatten, an ihre Schüler überliefert und von diesen wieder an ihre eigenen Schüler. Bis unsere Meister sie an uns weitergaben. Wenn Hoshang Qin auch nur einen Bruchteil davon kannte, mussten sie ihm vorkommen wie aus einer fremden, magischen Welt.

Aus einer reichlich frevelhaften Welt noch dazu.

»Gewiss hat euch manches davon befremdet, Hoshang Qin. Ein Tempel, der Gold von Kaiser und Edelleuten erhielt. Mönche, die als Soldaten unter den Feldherrn der Ming in den Krieg zogen. Die sogar Fleisch aßen und Mädchen als ihresgleichen in ihr Kloster aufnahmen.«

Erstaunt blickte er mich an. »Wem stünde es zu, darüber ein Urteil zu fällen? Buddha selbst hat tausend Gesichter. Warum sollte es dann nicht auch tausend Wege geben, ihm zu folgen?«

Er tat einen weiteren Schritt auf mich zu.

»Stimmt es, dass die Mönche dort mit ihrer Geisteskraft alle Grenzen des menschlichen Leibes überwinden und fliegen können?«

Ich lächelte.

»Der Geist muss wirklich alle seine Grenzen sprengen und Flügel bekommen – aber letztlich ist es nichts anderes als Körperkraft. Nichts als Schnelligkeit und die richtige Technik, über Jahre hinweg geübt.«

»Und Mönche, die über das Wasser gehen?«

»Auf dünnen Planken, die lose auf dem Wasser schwimmen.«

Eine Übung, die kaum jemand über fünfzig Schritte hinaus meisterte, weil sie nicht nur hohe Geschwindigkeit, sondern fast übermenschliche Körperbeherrschung erforderte. Doch wer sich wieder und wieder daran versuchte, lernte, noch auf dem schmalsten Vorsprung zu balancieren, auf dem schlüpfrigsten Dachfirst.

Hoshang Qin wirkte enttäuscht. Sein Blick wanderte über den See, während er darüber nachsann.

Als er sich mir wieder zuwandte, blitzte es in seinen Augen auf, wie anerkennend.

»Aber dennoch …«

»Ja. Dennoch.«

Wir tauschten ein kleines Lächeln.

»Ich bewundere Euch, Frau Lian«, sagte er dann, »dass Ihr Euch entschieden habt, den Weg Buddhas allein zu gehen. Ohne den Halt einer Gemeinschaft. Ich hätte nie den Mut dazu gehabt. Ich wäre zu schwach dazu gewesen, allein.«

Ich blinzelte in die Sonne.

»Ich weiß nicht, ob ich noch immer den Weg Buddhas gehe«, murmelte ich.

Hoshang Qin legte den Kopf schief und zwinkerte mir zu.

»Nun … immerhin habt Ihr den Weg hierher gefunden, oder nicht?« Ich lächelte. Wie sehr ich diese Art von Gesprächen vermisst hatte in all den Jahren.

Ich wies auf das Gras zu unseren Füßen.

»Wollt Ihr Euch nicht setzen?«

Hoshang Qin lachte vergnügt, ein halb zahnloses Lachen.

»Wenn ich mich jetzt hier niederlasse, komme ich so schnell nicht wieder in die Höhe.« Er hob kurz sein Bündel an. »Außerdem wartet Hoshang Ping auf seine Wildkräuter. Euer Freund kann es kaum abwarten, von unserem Himmelseintopf zu kosten.«

Er musste Wang meinen, den ich den ganzen Tag noch nicht gesehen hatte. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er in der Klosterküche herumlungerte, in alle Töpfe spähte, daraus naschte und vermutlich mit guten Ratschlägen aufwartete.

Hoshang Qin nickte zum See hinunter. »Ich glaube, auf Euch wartet auch jemand.«

Die hochgewachsene Gestalt Fortunes kauerte am Ufer und blickte uns entgegen.

Jetzt zog er rasch den Kopf ein, beugte sich über das Wasser, um aus der hohlen Hand zu trinken, bevor er sich ins Gras setzte und sich mit seinen Utensilien beschäftigte.

Leichtfüßig lief ich den Abhang hinunter, ging neben Fortune in die Hocke.

»Hattest du Erfolg?«

»Sehr.«

Er langte in seine Trommel, die er im Arm hielt, und brachte einen Zweig mit dunkelgrünen Blättern zum Vorschein, die glänzten wie lackiert. Üppig wie eine edle Rose war die Blüte, von der ein berauschender Duft ausging.

»Eine Gardenie«, erklärte Fortune, als er sie mir hinhielt. »Ich habe ihr meinen Namen gegeben. Gardenia fortunei.«

Von reinstem, makellosem Weiß war sie. Die Farbe, die ich so sehr hasste.

»Bei euch die Farbe von Tod und Trauer, ich weiß. Das habe ich nicht vergessen. Ich dachte nur …«

Er kam mit der Blüte etwas näher zu mir heran.

»Ich habe trotzdem eine mehr davon geschnitten und mitgebracht. Für dich.«

Eine schüchterne Bitte zeichnete sich auf Fortunes Gesicht ab. Eine vorsichtige Hoffnung.

Was sollte ich damit? Ich war nie die Sorte Mädchen gewesen, die sich eine Blume ins Haar steckte oder sich auf andere Art damit schmückte und parfümierte. Ein höchst unpraktisches Geschenk für jemanden wie mich, die ich mit nur dem Nötigsten durch die Lande zog. Eine solche Blume war zu nichts nütze. Unaufhaltsam welken würde sie und ihren Duft verlieren, schließlich verrotten.

Wie alles Leben auf dieser Welt. Alles war vergänglich.

Geduldig bot Fortune mir weiter die Blüte dar. Abwartend, geradezu unsicher.

Es schien ihm etwas zu bedeuten, sie mir zu geben.

Langsam und wie gegen einen Widerstand öffneten sich meine Finger und schlossen sich dann um den Zweig.

»Sie ist schön«, murmelte ich.

Sie war wirklich schön, sogar in dieser grausamen Farbe.

Fortunes Augen leuchteten auf, ein Sonnenstrahl, der durch Wolken bricht und ein Stück blauen Himmels enthüllt, bevor er rasch den Blick wieder abwandte und auf den See richtete.

Lange saßen wir nebeneinander, während die Sonne Kurs auf den Abend nahm. Unter den Rufen der Wasservögel, ihrem Flügelschlagen.

Ich irgendwann auf meiner Kehrseite, die Beine von mir gestreckt, im langsam verwehenden Duft der Blume in meiner Hand.

Dann und wann richtete Fortune sich auf und lehnte sich vor, um seinen Durst mit Wasser aus dem See zu stillen, bevor er sich wieder zurückfallen ließ und Mund und Kinn mit dem Handrücken abwischte.

Gelöst wirkte er, wie mit sich und der Welt im Reinen.

Ein starker Geruch ging von ihm aus. Schwer wie von der weißen Blüte, nur schärfer, erinnerte er mich an den Geruch eines Reisfelds neben einem frisch gepflügten Acker und ein bisschen auch an warmes Tierfell. Seine Haut hatte eine kräftigere Farbe angenommen, war nicht mehr bleich und nur ein bisschen rot. Von einem blassen Braun, das seine Augen leuchten ließ wie das Meer.

Die Ärmel seines Hemdes hatte er hochgekrempelt, den Kragen weit geöffnet; einzelne dunkle Haare lugten daraus hervor.

Er räusperte sich, und ich neigte mich über die Blüte, wie ertappt.

»Ich bin heute im Wald beinahe gestürzt. In ein Loch, das mit Blattwerk abgedeckt war. Ich konnte mich gerade noch an einer Baumwurzel festklammern. Ein riesiges Loch war das, und unglaublich tief. Ich glaube nicht, dass ich da jemals wieder herausgekommen wäre.«

Es entsprach ihm, auf diese Weise durch den Wald zu wandern, blind für alles außer Blumen und vielleicht Moosen.

»Das war eine Fallgrube. Für die Wildschweine.«

»Ach so.«

Der Anflug eines Schmunzelns zog über sein Gesicht, bevor er wieder ernst wurde.

»Ich mag mir nicht vorstellen, wie es sein muss, in einer solchen Grube sein Ende zu finden. Wie Douglas.«

Fragend sah ich ihn an.

»David Douglas. Botaniker wie ich. Auch aus Schottland. Mit einem ganz ähnlichen Lebensweg. Nur …«

Er legte die Unterarme auf die angezogenen Knie und verschränkte die Hände.

»Ein Pech wie Douglas haben – das ist ein geflügeltes Wort unter Botanikern. Douglas war ein fleißiger Sammler. Ein unerschrockener Abenteurer, der die halbe Welt nach Pflanzen abgegrast hat. Und der stets vom Unglück verfolgt war, so weit er auch ging. Mehr als einmal erlitt er Schiffbruch und verlor seine ganzen Habseligkeiten. Alles, was er bereits gesammelt hatte. Ist oft auf seiner Suche verunglückt, hat sich alles an Fiebern eingefangen, was es auf dieser Welt gibt, und schneeblind war er am Ende auch. Auf den Sandwich-Inseln schließlich fiel er in eine solche Grube, und wenig später muss dann ein wildes Tier ebenfalls hineingestürzt sein. Ein Keiler vermutlich, der ihn zerschmetterte und mit den Hauern durchbohrte. Während ich …«

Mit zusammengekniffenen Augen zog er mit dem Stiefelabsatz eine Furche in die Erde.

»Mein ganzes Leben lang habe ich mich vom Glück begünstigt gefühlt. Nicht, dass mir irgendetwas in den Schoß gefallen wäre. Ich habe hart dafür gearbeitet. Wie ich mir neben der Schule alles über Pflanzen beigebracht habe, was ich wissen wollte. Als Gärtner. Und trotzdem war da immer dieses gewisse Quäntchen Glück. Wie diese Reise hierher. Oder jetzt die Teepflanzen …«

Er schwieg einige Herzschläge lang.

»Vielleicht kommt es mir nur so vor. Wegen meines Namens, weißt du? Fortune – Glück. Wohlstand. Erfolg. Noch dazu auf Robert getauft – was bedeutet: in glänzendem Ruhm. Mein Erbe, so hat mein Vater es wieder und wieder betont. Meine Pflicht. Meine Eltern … Sie hatten nie viel, außer einem reichen Kindersegen. Und große Hoffnungen. Für uns alle. Besonders für uns Jungs. Nach einem Dach über dem Kopf und Essen im Bauch war das Wichtigste bei uns zu Hause immer die Bildung. Damit aus uns allen einmal etwas wird. Es war immer klar, dass ich es zu etwas bringen würde. Zu etwas bringen sollte. Als Schotte. Als Fortune. Als ältester Sohn. In dieser Reihenfolge.«

»Hast du das nicht?«

»Ich denke schon«, kam es zweifelnd von ihm. »Vermutlich.«

Wie gut ich ihn verstand.

Ich kannte diesen Ehrgeiz, mit dem Eltern ihren Kindern Fesseln anlegten. Sie nach ihrem Willen formten, nach ihren Wünschen zurechtbogen. Ich wusste um den Schmerz, der damit einherging, wenn diese Fesseln ins Fleisch schnitten. In die Seele.

Ich kannte auch das eigene Sehnen nach mehr als dem, was das Leben einem zugeteilt hatte. Eine Meisterin hatte ich werden wollen, in die Fußstapfen treten von Ng Mui, der Ahnfrau aller kämpfenden Frauen.

Früher einmal, bevor ich töricht genug gewesen war, mein Ziel aus den Augen zu verlieren. Bevor ich das Leben, das ich gehabt hatte, wegwarf, in einer Schwäche des Herzens.

Ich wusste, wie leicht Illusionen zersplitterten, unter dem Druck des eigenen Willens. Wie schnell man sich daran schnitt, bis auf den Knochen hinunter.

»Den Ruhm eines Berges«, sagte ich leise, »macht nicht seine Höhe aus. Sondern die Götter, die auf ihm wohnen.«

Meister Qiang hatte mir das oft gesagt, wenn ich zornige Tränen weinte, weil ich immer noch besser, noch schneller sein wollte. Im Faustkampf. Mit dem Stock. Mit Lanze und Schwert.

Den Blick auf den See geheftet, murmelte Fortune diese alte Weisheit wieder und wieder in sich hinein, nickte dabei vor sich hin.

Lange blieb er danach still, den Blick auf den See geheftet.

»Hier im Kloster«, begann er dann langsam, »und auch schon in Zhoushan, zwischen all diesen Blüten … und heute, als ich durch den Wald ging … da war das alles nicht mehr wichtig. Da habe ich kaum daran gedacht. Ich war zufrieden damit, einfach umherzustreifen.

Zufrieden mit dem, was ich unterwegs fand. Ich habe nicht einmal groß überlegt, welche Bedeutung es wohl daheim in England haben würde.«

Seine Hand strich über den Ausblick vor uns. »Wenn ich das hier sehe … dann bin ich einfach zufrieden. Zufrieden, dies zu erleben. Etwas dazuzulernen, jeden einzelnen Tag. Einfach … zu sein.«

Beinahe beschämt klang er, bevor er verstummte. Als ob er zu viel über sich preisgegeben, einmal nicht vorab seine Worte sorgfältig ausgewählt und abgewogen hatte.

Gemeinsam schauten wir auf den See hinaus. Auf das Grün der Bäume. Die indigoblauen Silhouetten der Berge.

»In den Bergen«, sagte ich leise, »da ist man den Göttern ganz nah. Die Seele kann atmen. Kann wachsen. In dieser Stille. Dieser Einsamkeit. Und der Geist findet Ruhe und Klarheit.«

Fortune nickte. »So muss es wohl sein.«

Mit dem Kinn rieb er über seine Hemdschulter, sah mich dabei vorsichtig von der Seite her an.

»Du fühlst dich hier nicht wohl.«

Ich hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.

»Dieses Kloster … Es erinnert mich an das Kloster, in dem ich aufgewachsen bin.«

»Schlechte Erinnerungen?«

Bedächtig wiegte ich den Kopf. »Nicht nur.«

So gut ich es konnte, erzählte ich Fortune von dem Kloster der Alten Haine und Jungen Bäume.

Am südlichen Ufer des Gelben Flusses, in den heiligen Bergen von Song, mit ihren sieben Gipfeln. Berge von ebenso wilder wie sanfter Schönheit. Wo man dem Himmel so nah war, dass man oft zwischen den Wolken lebte.

Die Wälder des Shaoshi hatten dem Tempel einst seinen Namen gegeben, und an seinem Fuß hatten die Mönche einen Wald aus Pagoden errichtet. Mehr als zweihundert waren es, als ich zuletzt dort gewesen war, große und kleine, einfache Säulen und aufwendige Skulpturen mit geschwungenen Dächern, aus dem grauen Stein der Berge und oft nebelverhüllt. Grabmäler bedeutender Mönche und großer Äbte des Klosters. In ihrer Vielgestalt ein Abbild der langen Geschichte des Klosters wie des Reiches.

Ein Zeugnis vergangener Zeiten und untergegangener Dynastien, das sogar die Horden der Mandschu unangetastet gelassen hatten.

Von meinen Meistern erzählte ich ihm, die mich die alte Kunst des Kampfes lehrten.

Und von den vielen Kindern dort.

Kinder, die durch die Gänge und Hallen sprangen und rannten, in lebenssprühender Ausgelassenheit. Deren Rufe, deren Lachen von den altehrwürdigen Mauern widerhallten.

Kinder, die nach der Aufmerksamkeit und dem Lob ihrer Meister gierten. Hungrig danach, es den vielen Mönchen und Nonnen recht zu machen, vielleicht ein Fitzelchen Zuneigung zu erhaschen: ein warmes Wort. Ein Streicheln über den Kopf. Einen Leckerbissen oder auch nur einen liebevollen Blick.

Denn obwohl jedes Kind seine eigene Geschichte hatte, war es doch immer die gleiche: Keines von ihnen hatte noch eine Familie. Niemand in der Welt außerhalb des Klosters hatte sie gewollt.

Kinder, die in diesem Kloster ein neues Leben begannen, unter einem neuen Namen. Begierig waren diese Kinder, Freundschaften zu schließen.

»Da war … ein Junge. Yun. Ein bisschen älter als ich, aber schon viel länger im Kloster. So lange, dass er sich an kein anderes Zuhause erinnern konnte.«

Um meinen Mund zuckte es, als ich an Yuns weit auseinanderstehende Augen dachte, in seinem breiten, noch kindlich weichen Gesicht. An seine magere, schlaksige Gestalt.

»Als Kind sah er aus wie ein freches Äffchen. Genauso behände konnte er klettern, und genauso viel Unfug hatte er im Kopf. Es verging kein Tag, an dem er nicht irgendjemandem einen Streich spielte. Den anderen Kindern. Den Mönchen. Manchmal sogar unseren Meistern. Aber sobald er kämpfte… Ah.« Hingerissen war ich, immer noch, bei der Erinnerung an seine Kraft und Eleganz. »Geschmeidig und stark wie ein Leopard war Yun. Eine Naturgewalt, im Kampf. Die alles hinfort fegte, was sich ihm in den Weg stellte. Man konnte sich nur von ihm mitreißen lassen oder aber untergehen.«

Ich schloss die Hände eng um den Blütenzweig. »So waren wir. Als Kinder.«

Zwei Seelen, von den Göttern bei der Geburt mit einem roten Faden verbunden, der niemals durchtrennt werden konnte. Damals glaubte ich noch daran.

»Wir wurden älter. Waren fast erwachsen.«

Blicklos starrte ich vor mich hin, während Yuns Kindergesicht in meiner Erinnerung zu dem eines Mannes reifte. Mit einem starken Kinn, Wangenknochen scharf wie Messerklingen und unergründlichen Augen.

»Er … ich …«

Ich fand keine Worte für das, was wir gewesen waren. Einander bedeutet hatten.

Ich löste die Hände und klopfte mit einer davon auf mein Brustbein, in einer kleinen, flatternden Bewegung, unmittelbar über dem Herzen.

»Hier. Alles.«

Alles waren wir einander gewesen.

»Aber wir durften nicht. Verboten, für Brüder und Schwestern im Kloster.«

Alles hatten wir einander gegeben.

In einsamen, verborgenen Winkeln des Klosters. In gestohlenen Stunden.

»Sie überraschten uns eines Nachts. Zerrten uns vor die Meister und den Abt. Einen Tag gaben sie uns Zeit. Einen Tag, in einer Zelle, jeder für sich. Unser Gewissen zu prüfen und zu wählen. Wir beide oder das Kloster.«

Nicht den geringsten Zweifel hatte es für mich gegeben. Kein Zaudern.

»Ich hatte meine Wahl sofort getroffen. Lange bevor sie am Abend zu mir kamen. Ich erhielt Kleidung, ein paar Kupfermünzen und etwas zu essen, und mein Meister schenkte mir zum Abschied mein Schwert. Nach Sonnenuntergang schloss sich das Tor hinter mir, und ich wartete auf Yun.«

Es war kalt gewesen, oben in den Bergen, bitterkalt.

In jener Nacht, die finster und endlos war.

Und doch viel zu kurz.

»Bis die Sonne aufging, wartete ich.«

Yun hatte das Kloster gewählt.

Fortunes Hand legte sich um meine.

Es machte mir nichts aus, dass er mich so sah. Mit meinem alten Kummer, verwundet, klein und schwach. Dieser fremde Engländer, der schon bald wieder in sein Land zurückkehren würde. Bei ihm war mein Geheimnis gut aufgehoben.

Ich war gut aufgehoben, während er mich in seiner Hand hielt.

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