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Sonntag, 8. Oktober 1843

Morgens dunstig bis neblig, gegen Mittag aufklarend. Maximum: 73 Grad Fahrenheit. Minimum: 66 Grad.

Ankunft in Chusan, nach 10 Tagen auf dem Schiff – und hoch erfreut über die Veränderung der Landschaft. Der erste Blick auf die Vegetation hat mich überzeugt: Hier befindet sich mein zukünftiges Betätigungsfeld! Keine kahlen, öden Hügel wie in Hongkong oder Chimoo, sondern entweder kultiviert oder von kräftigem Gras, Bäumen und Sträuchern bewachsen.

Würde unsere Insel von Hongkong die naturgegebenen Vorzüge und Schönheiten Chusans besitzen – welch prächtigen Ort könnten unsere geschäftstüchtigen englischen Händler in nur wenigen Jahren daraus machen!

Ich hege keine Zweifel, dass meine Mission sich hier in Chusan zum Erfolg führen lässt.

AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE

Chusan war nicht der Garten Eden. Aber fast.

Schön. Robert Fortune fiel kein besseres, kein originelleres Wort dafür ein; wieder und wieder kam es ihm in den Sinn.

Schön war der Ausblick auf die vielen Inseln des Archipels im leuchtend blauen Meer. Auf die rauchblauen Silhouetten der Bergketten in der Ferne. Die fruchtbaren Täler, die sich zum Ozean hinab entrollten und in denen klare Bäche sprudelten, waren schön. Das Gras, das die Hügel bekleidete, die Bäume und das Unterholz. Die Reisfelder.

Zwanzig Meilen lang und etwas über zehn Meilen breit, war Chusan ein Schatzkästchen der Natur. In dem wilde Rosen wuchsen und Geißblatt, Palmen, Zypressen und Wacholder. Myrten- und Heidekrautgewächse, der Kampferlorbeer und Thea viridis, der Strauch des grünen Tees.

Wenn er durch die Täler Chusans wanderte, über Hügel und Bergpässe und durch Schluchten, die ihn an die schottischen Highlands erinnerten, kam Fortune sich vor wie im Paradies.

Wenn auch kein gänzlich unberührtes: Englische Soldaten hatten während des Krieges hier ihre Fußabdrücke hinterlassen. Englische Einsprengsel würzten das Stimmengewirr genauso selbstverständlich wie die im Lauf der Zeit angespülten Körnchen von Portugiesisch, Malaiisch, Bengalisch und Hindustani. Die Geschäfte im Hafenstädtchen Tinghae wurden nicht in Käsch oder Tael gemacht: In der internationalen Währung des Dollars wurden die Preise kreuz und quer durch die Gassen gebrüllt, um ein Schaf (drei Dollar) oder einen Ochsen (acht bis zehn Dollar) an den Mann zu bringen. Sogar das Brot in den Läden war nach englischem Rezept gebacken.

Englisch war das Gütesiegel in Tinghae und versprach hohes Ansehen und wirtschaftlichen Erfolg.

Wer auf sich hielt und ehrgeizig war, gab sich englisch – und pinselte sich ein fantasievolles Schild dazu.

Dominie Dobbs – Königlicher Gemischtwarenhändler.

Squire Sam – Porzellanhändler und Hoflieferant der Queen.

BUKCMASTER – Schneider Ihrer Allergnädigsten Durchlauchtesten Majestät Queen Victoria und Seiner Königlichen Hoheit Prinz Albert. Uniformenallerartundform.

Zehn Tagesreisen mit dem Schiff von Chimoo entfernt, erlebte Fortune ein vollkommen anderes China.

»Wang wartet hier?«

Der Chinese deutete auf die Stelle, an der sich der Weg gabelte.

Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit. Immer noch.

Obwohl ihre Tage hier in Chusan inzwischen einer eingespielten Routine folgten.

»Ja, warte hier.«

Als hätte er eine Last von seinen Schultern geworfen, ließ sich der Chinese mit einem Stoßseufzer in die Hocke fallen; selbst kürzere Fußmärsche schienen ihm enorme Kraft abzuverlangen.

Ein zähes diplomatisches Ringen war es gewesen, nach dem Vorfall unter der Pagode von Chimoo. Um Wangs Feigheit. Fortunes Starrsinn. Darum, dass sie beide in diesem Überfall das Gesicht verloren hätten. Ein Konzept, das Fortune an die Regeln von Anstand und gesellschaftlicher Anerkennung zu Hause in England erinnerte. Nur schien ihm dieses hier in China ungleich komplizierter und lebensnotwendiger, mit Feinheiten, die er nicht kannte und auch nicht nachvollziehen konnte.

Ein Streitgespräch nach dem anderen hatte Wang angezettelt. An den letzten Tagen in und um Amoy. Während der Schiffspassage nach Norden, durch die strudelnden Schwarzen Wasser der Meerenge von Formosa.

Bis sie diesen Kompromiss aushandelten und jeden Morgen gemeinsam in Tinghae aufbrachen, Fortune jedoch allein weiterzog, sobald sie die Hafenstadt hinter sich gelassen hatten.

»Fu-Chung aufpassen, ja?«, gab Wang sich gönnerhaft.

Fortune klopfte gegen die Ausbuchtung an seiner Hüfte.

Die Pistole war nicht geladen; er traute diesen Feuerwaffen nicht. Schon gar nicht, wenn er sie am Körper trug, während er zwischen Felsen herumkletterte, sich nach Gräsern bückte oder auf dem Boden kauerte, um in der Erde zu wühlen.

Trotzdem würde sie vielleicht zur Abschreckung taugen, beim nächsten Mal; vor allem diente sie jedoch dazu, Wang zu beruhigen. Dessen Gesicht zu wahren.

Fortune zögerte noch, sich auf den Weg zu machen.

Dies war einer der seltenen Momente, in denen Wang nicht in der Herberge von Tinghae nahtlos von herzhaftem Gähnen zu Schnarchen überging – aber auch keinen seiner endlosen Monologe über Gesehenes, Gehörtes, Erlebtes anstimmte. Durchsetzt mit alten Weisheiten, die – halb auf Englisch, halb auf Chinesisch – für Fortune nie einen Sinn ergaben.

Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte.

Es war eine Sache, die meteorologischen Gegebenheiten zu untersuchen und in seinen Notizen zu dokumentieren. Sich mit anderen Gärtnern über den späten Frühling, Dauerregen und Nachtfrost zu unterhalten. Das war ihr Metier. Ihre gemeinsame Sprache, die selbst der einsiedlerischste, wortkargste Gärtner gerne sprach.

Aber mit Wang eine Unterhaltung über das Wetter anzustrengen, nur damit irgendetwas gesagt war? Zumal der Blick, den Wang über seine Schulter warf, verriet, dass er mit seinen Gedanken in Tinghae war.

»Also dann«, murmelte Fortune halbherzig, eine plötzliche Ungeduld in den Beinen, und marschierte bergan.

Jeden Morgen, an dem er sich aufmachte, Chusan zu erkunden, überkam ihn Bedauern, dass er erst so spät im Jahreslauf hierhergefunden hatte.

Im Frühling musste es hier atemberaubend sein, das verhießen die dichten Laubwolken der Azaleen an den Berghängen. Sobald ihre Knospen in den ersten warmen Monaten des Jahres aufbrachen, würde die Insel wie mit den Farben des Regenbogens übergossen sein – wahrhaftig das blühende Land, das er sich erhofft hatte.

Ihm graute vor dem Winter, in dem wohl auch hier kaum etwas grünte oder gar blühte. Vielleicht würde er in Shanghai überwintern. Seine leeren Tage damit verbringen, alle Gärtner der Stadt abzuklap-pern und jedes feine Haus. In der Hoffnung, auch die Chinesen holten sich in der kalten Jahreszeit den Sommer mit Topfpflanzen in ihr Heim.

Er musste ganz einfach im Frühjahr noch einmal herkommen.

Bis dahin dehnte er seine Streifzüge über die Insel von Chusan so weit aus, wie er nur konnte, um aus der noch warmen und hellen Jahreszeit alles herauszuholen.

Auf diese Weise war er zuletzt als Junge durch die Natur gewandert; manchmal hatte er dafür sogar die Schule geschwänzt. Ein zielloses Umherstromern, allein, in einem Gefühl unendlicher Freiheit. Nicht auf der Suche nach etwas Bestimmtem. Sondern mit offenen Sinnen nach dem Ausschau haltend, was sich finden ließ. Als ob der Sinn des Lebens in dieser Art des Suchens, des Findens lag.

Seitdem er hier in Chusan unterwegs war, konnte Fortune die allgemeine Euphorie nicht mehr nachvollziehen, mit der man Hongkong eine glänzende Zukunft als Handelsplatz prophezeite; zu unsicher erschien ihm die Lage, zu mörderisch das Klima.

Aber schließlich war er nur ein Gärtner. Der sich lieber Gedanken darüber machte, wie sich jenes feindselige Eiland zu einem besseren Ort umgestalten ließe.

In Gedanken überzog er die kargen Berghänge Hongkongs mit dichtem Buschwerk. Vielleicht mit den scharlachroten Blütenbällen der Ixora coccinea, die steinigen Untergrund liebte, oder mit der immergrünen und weißblühenden Polyspora axillaris. Den noch provisorischen Straßen würde er mit den ausladenden Kronen des Ficus nitida Schatten verschaffen und den Häusern mit schnell wachsendem Bambus …

Irgendwo unter ihm leuchtete etwas auf. Er blieb stehen und reckte sich, spähte zu dem kleinen Flusslauf hinunter.

Azurblau strahlten ihm tausende von Blütensternen entgegen. Ein dichter Saum entlang des Flussbetts, dessen Wasser daneben zu einem faden Grau verblasste.

Fortune kämpfte sich durch das Dickicht aus Brennnesseln, konnte nicht schnell genug die Böschung hinabschlittern. Um sich dann langsam hinzuknien. Fast andächtig und wie zum Gebet.

»Hallo, meine Schöne«, murmelte er.

Eine Staudenclematis. Mit anmutig gewellten Blütenblättern in diesem vibrierenden Blau, das filigrane Staubgefäß weiß und gelb und purpur.

Er zog Maßband und Notizbuch hervor.

Clematis lanuginosa. Max. Wuchshöhe 4 Fuß. Ranken holzig, Zweige undeutlich 6-eckig mit flachgedrücktem Flaumhaar. Blattstiele 1-3 Inch. Blätter: schmales Oval bis herzförmig und Apex zugespitzt, 2-4 Inch x 1-2 Inch, papierartig, abaxial mit dichtem grauem Flaum, adaxial spärlich behaart. Einzelblüten, 3-5 Inch Durchmesser, Pedicellus dicht behaart. Kelchblätter …

Die Atmosphäre über dem Flüsschen war umgeschlagen. Eine Spannung knisterte in der Luft und ließ ihn aufblicken.

Jemand beobachtete ihn. Jemand, der sich zwischen den Clematis am anderen Ufer zusammenkauerte.

Ein Mädchen.

Soweit er dies durch Blätter und Blüten hindurch einschätzen konnte.

Er fuhr zusammen, als das Mädchen aufsprang, durch die Clematis stolperte und davonrannte.

Es war nicht die Art, wie ihr Zopf durch die Luft fegte oder wie das Schwert auf ihrem Rücken dabei tanzte. Es war ihr Gesicht. Nicht vertraut, nicht unbekannt.

Wo doch alle chinesischen Gesichter für ihn so ähnlich aussahen, dass er wohl nicht einmal Wang erkannt hätte, würde er ihm unerwartet auf der Straße begegnen.

Er erinnerte sich an dieses Gesicht, aus dem Tumult unter der Pagode von Chimoo. Das Gesicht über der gezückten Klinge. Auf den Felsen, im Schlaglicht der Sonne, eine seltsame Mischung aus Aufruhr und innerem Frieden auf den Zügen.

Mit einer Falte über der Nasenwurzel starrte Robert Fortune verwirrt auf die Stelle zwischen den Clematisblüten.

Noch lange, nachdem das Mädchen verschwunden war.

Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, welche Bedeutung man der Clematis zu Hause in England zuschrieb.

Beim besten Willen wollte es ihm nicht einfallen.

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