Jane ist noch nie am Meer gewesen.

Nicht so, nicht nur für einen halben oder ganzen Tag. Sondern für volle zwei Wochen.

Sommerfrische nennt man das. Ein Wort, das sie zwar kannte, aber jetzt erst Teil ihres eigenen Wortschatzes geworden ist.

Es ist das zweite Mal in diesem Jahr, dass sie mit den Kindern weggefahren ist, nachdem sie über Ostern schon in Schottland war.

Es war schön, in ihre Heimat zurückzukehren, besonders nach der langen Zeit. Ihre Eltern zu sehen und die Schwiegereltern, ihre Schwestern und alten Freundinnen, Roberts Geschwister.

Den Kindern hat es gefallen, die vielen Tiere auf den Besitzungen der Grundherren und natürlich die Aufmerksamkeit, mit der Großeltern, Onkel und Tanten sie überschütteten. Die Zeit, die sie mit Cousins und Cousinen im Spiel verbrachten.

Und doch war Jane froh gewesen, als sie nach den paar Tagen wieder in die Kutsche steigen und nach Hause fahren konnten.

Fremd hat sie sich in der alten Heimat gefühlt; sie gehört dort nicht mehr hin.

Während sie auf der ausgebreiteten Decke im Sand sitzt, ein Buch in der Hand, das sie noch nicht einmal aufgeschlagen hat, plagt sie einmal mehr das schlechte Gewissen.

Obwohl Mr Lindley ihr versichert hat, sie könne ruhig fahren, zwei Wochen würde er es auch ohne sie schaffen. Dabei erhält er gerade viel Post, seine Meinung ist gefragt: Nach diesem nassen, kühlen Sommer hat sich auf dem Kontinent die Kartoffelfäule ausgebreitet. Vermutlich würde es auch England treffen, und für Irland, das von der Kartoffel abhängt, sieht es besonders schlecht aus.

Auch das hat Jane gelernt: Die Botanik forscht nicht nur, um immer weiteres Wissen anzuhäufen. Um stets noch schönere, noch prächtigere und kostbarere Blütenpflanzen zu finden und hervorzubringen.

Die Botanik hat auch einen praktischen Wert. Ebenso ist sie nämlich die Wissenschaft vom täglichen Brot der Menschen.

Noch ein erhellender Moment für Jane.

Genau wie diese Momente, in denen sie auf das Meer hinausblickt und versucht, ihr schlechtes Gewissen vom Wind davontragen zu lassen.

Ich habe es verdient, sagt sie sich dann. Ich habe dafür gearbeitet, ich habe es einfach verdient.

Es macht nichts, dass sie sich hier in Dorset von dem Geld, das die Arbeit bei den Lindleys ihr eingebracht hat, nur ein Zimmerchen leisten kann, in dem sie zu dritt in einem Bett schlafen.

Sie genießt es, die Kinder beim Einschlafen im Arm zu halten. Ihre Bewegungen im Schlaf zu spüren, morgens von ihnen geweckt zu werden. Sie werden viel zu schnell groß; Helen wird am Ende des Sommers schon zur Schule gehen.

Es macht auch nichts, dass es oft kühl ist und viel regnet.

Gestern waren sie in Lyme Regis und haben sich die Stadt angeschaut. Das Fossiliendepot von Mary Anning haben sie besucht, wo Jane den Kindern versteinerte Schneckenhäuser kaufte. Vor allem John hat dieser Laden fasziniert, mit großen Augen und offenem Mund hat er die Steine und Skelette bestaunt.

Jane hatte ihm vorlesen müssen, was auf den Schildchen stand.

Ichthyosaurus. Plesiosaurus. Pterosaurus.

Meeresdrachen. Vor Ewigkeiten einmal durch die Wellen vor der Küste geschwommen oder durch den Sand gekrochen, seit vielen weiteren Ewigkeiten in Stein eingeschlossen.

Eine Vorstellung, die Jane tief berührt.

Seither denkt Jane viel über Mary Anning nach, die sich als ganz einfache Frau immer schon mit Fossilien beschäftigte. Unzählige Schätze hat sie hier an der Küste gehoben und sich darüber sogar mit bedeutenden Forschern angelegt.

Sie selbst hätte dafür nicht den Mut und die Kraft aufgebracht, das weiß sie. Zumal sie weder eine außergewöhnliche Begabung besitzt noch für etwas wirkliche Leidenschaft empfindet.

Trotzdem fühlt sie sich bestärkt, wenn sie an Mary Anning denkt. Bestärkt in ihrem eigenen kleinen Leben, den neuen Wegen, die sie sich darin gebahnt hat.

Sie schaut zu den Kindern hinüber.

Die schweren Wolken am Himmel, der kalte Wind scheinen sie nicht zu stören. Gut eingepackt in ihre Mäntel, spielen sie mit den anderen Kindern am Strand, stapfen in ihren festen Schuhen durch den feuchten Sand und suchen nach Muscheln und Steinen.

Vielleicht wird Helen sich einmal auf einem bestimmten Gebiet auszeichnen. Eine besondere Leidenschaft entwickeln und sich durch keine noch so großen Widerstände davon abhalten lassen, sie auszuleben. Rousseau einmal Lügen strafen und damit aufräumen, dass Frauen sich nicht theoretischeren und abstrakten Aspekten der Botanik aussetzen sollten, weil sie nicht die notwendigen Fähigkeiten für exakte Wissenschaften besäßen, nicht belastbar genug wären.

Und wenn nicht Helen, dann vielleicht deren Tochter oder Enkelin.

Jane muss an einen Baum denken, der irgendwann blüht, irgendwann Früchte trägt, alles zu seiner eigenen Zeit.

Als Jane einen Blick auf sich gerichtet spürt, wendet sie den Kopf.

Ein Spaziergänger ist es, der sie lächelnd beobachtet. Kein junger Mann mehr, mit seinen angegrauten Schläfen, aber auch noch nicht wirklich alt und solide gekleidet.

Jane runzelt die Brauen und duckt sich unter ihre Hutkrempe, streicht unwillkürlich den Rock über den Beinen glatt. Als sie kurz darauf den Blick wieder hebt, sieht er im Gehen immer noch zu ihr hin, tippt jetzt an seinen Hut. Gut sieht er aus, auf eine stämmige, etwas eckige Art.

Jane wird rot. Mit knapper Höflichkeit nickt sie und schlägt betont brüsk ihr Buch auf. Ihr Herz klopft trotzdem, wie freudig.

Es geht nicht um diesen Fremden. Nicht darum, dass sie gesehen wird. Als Person, als Frau.

Sondern darum, dass sie sich selbst so empfindet.

Plain Jane. Die sich durch eine Wildnis von Gedanken und widerstreitenden Gefühlen gekämpft und darin ein Land des Geistes entdeckt hat, das ihr unbekannt gewesen war. Die Welt in ihrem Innern ist größer geworden. Reich und blühend, scheint diese Innenwelt immer wieder durch. In Janes Auftreten. Einem Blick von ihr. In den Worten, die sie äußert. In ihrem alltäglichen Handeln, mag dieses auch noch so banal, so gewöhnlich sein.

Sie ist jemand, in ihrem eigenen kleinen Leben.

Auch ohne Robert.

Ein Sonnenstrahl bricht durch den Wolkenteppich und lässt den schmalen Goldreif an ihrem Finger aufleuchten.

Natürlich denkt sie an Robert. Viel und oft.

Obwohl seine Züge in ihrem Gedächtnis von der Zeit etwas ausgewaschen sind. Die in den Kindern immer wieder aufschimmern und gleich wieder davongleiten. Seine Stimme, all die kleinen Gesten, die ihr vertraut waren.

Der Mensch aus Fleisch und Blut ist zu einer abstrakten Idee geworden.

Robert. Mein Mann. In China.

Jane ist bang, dass er nie wieder zu ihr zurückkehren wird.

Ihr ist bang, wie es sein wird, wenn er zurückkehrt.

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