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Ich kam niemals bis in den alten Seidenhafen von Zhanjiang. Nicht an die Küste der Walfische und der wilden Winde.
Ich ging vorher von Bord des Lastkahns. In Heunggong, das die Engländer Hongkong aussprachen.
Vielleicht aus einer Laune heraus. Vielleicht, weil der schwimmende Wald aus Schiffen vor der Küste meine Neugierde weckte. Ich war lange nicht mehr hier gewesen. Das letzte Mal vor ein paar Jahren, kurz vor dem Krieg.
Wie viele andere Menschen war ich vor dem Donner der Kanonen und ihrem tödlichen Feuer von der Küste geflohen; bereit, noch viel weiter in das Land hinein zu flüchten.
Damals war Heunggong nicht viel mehr als ein kleines Nest gewesen. Die Gewässer vor der Küste gehörten den Tanka, den Kindern der Seeschlange, die auf Booten wohnten und vom Fischfang lebten. Größere und kleinere Dörfer verteilten sich über die Insel, mit Fischern, Bauern, Arbeitern, die meisten davon Köhler, deren Meiler die Luft beizten.
Nur im Hafen war Heunggong geschäftig gewesen. Und auf dem Markt dahinter, der Ansammlung von Buden und Lädchen, zu denen sich kurz vor dem Krieg die Schuppen gesellten, in denen eine Handvoll fremder Barbaren ihre Handelswaren lagerte.
Jetzt erkannte ich Heunggong nicht wieder. Zwischen dem Meer und den Bergen, im weichen Licht wie aus dunkler Jade, war eine Stadt gewachsen. Eine fremdländische Stadt, mit großen, klobigen Häusern, über denen eine fremde Flagge wehte.
Eine Barbarenstadt, und voller Barbaren waren die Straßen.
Ein Schock war es, mit eigenen Augen zu sehen, dass die Insel jetzt ihnen gehörte, jedes Krümchen Erde, jeder Stein, jeder Tropfen Wasser. Zu sehen, dass sie nach China gekommen waren, um zu bleiben.
Ich vergaß, meinen Kopf gesenkt zu halten, zu gehen wie ein Mann. Mit aufgerissenen Augen wanderte ich durch diese neue, fremde, laute Stadt, die mich an das aufgerissene Maul eines Drachen erinnerte, gierig, angriffslustig, jederzeit willens, Feuer zu speien.
Bis es dunkel wurde irrte ich durch die Stadt.
Über dem Gestank von verrottendem Gemüse und ausgeleerten Nachttöpfen lockte mich der Geruch eines Stalls an. Über das niedrige Holztor spähte ich in das Dunkel des Verschlags, witterte den Geruch von Ziegen, hörte ihr nervöses Meckern.
Ich kletterte über das Tor und landete zwischen den Tieren, die aufgeregt durch den Stall sprangen. Murmelnd sprach ich auf sie ein, streichelte über Flanken, die mich streiften, kraulte das Fell zwischen den Hörnern, wenn mich eines der Tiere ängstlich beschnupperte, so lange, bis es sich wieder beruhigt hatte.
In einem Winkel des Verschlags bettete ich mich aufs Stroh und zog mir den Schwertgurt so zurecht, dass ich Long Yuan im Arm halten konnte, wie ich es gewohnt war. Lange lag ich so da und dachte an Fortune, bis meine Augen zufielen.
»Gut geschlafen?«
Ich fuhr hoch, blinzelte in das perlgraue Licht des Morgens.
Ein Mann grinste mich an, während er einer der Ziegen den Hals klopfte. Mit seinen übergroßen Ohren und dem wuchtigen Kiefer ähnelte er einem Marder. Schwer auf ein bestimmtes Alter zu schätzen war er, in diesem schwachen Licht; einen guten Kopf größer als ich, schien er sehnig, aber bereits füllig um die Hüften.
Mit einem Satz war ich auf den Beinen, rieb mir verstohlen den Schlaf aus den Augen.
»Habt Dank für das Nachtlager«, murmelte ich und wollte an ihm vorbeieilen.
»Nicht so schnell.«
Mit einer flinken Drehung auf dem Fußballen wich ich seiner Hand aus, meine Finger bereits um den Griff des Schwerts vor meiner Brust gelegt.
»Du schuldest mir was, Mädchen«, erklärte er in der weichen Mundart der Insel. »Für die Nacht hier.«
»Ich bin jianghu«, erklärte ich, steif vor Stolz. »Es ist Brauch, mir ein Lager für die Nacht zuzugestehen.«
»Mir ist gleich, von welchem Fluss oder von welchem See du kommst. Wenn ich eine dreckige Landstreicherin in meinem Stall schlafen lasse, will ich auch was dafür.«
Als ob ich seine Worte missverstehen könnte, unterstrich er sie mit einem auffordernden Griff in seinen Schritt.
Hinter mir drängten sich ängstlich die Ziegen zusammen, bockend und unter kläglichem Meckern; empfindsam, wie diese Tiere waren, spürten sie ebenso gut wie ich die Bedrohung, die erstickend auf ihrem sonst heimeligen Stall lastete.
Ich zog mein Schwert und ließ die Klinge von Long Yuan in ihrer ganzen Länge aufglänzen.
»Wag es nicht, mich anzufassen.«
»Pack den Zahnstocher weg, Mädchen. Sonst tust du dir noch weh. Ich versprech dir, dass du auch auf deine Kosten kommst.«
Er tat einen Schritt auf mich zu, und die Spitze von Long Yuan peitschte über sein Gesicht.
»Es ist mein Ernst. Bleib weg von mir.«
Er legte die Hand an seine Wange, nahm sie dann vom Gesicht und betrachtete das Blut darauf.
»Du Fotze«, raunte er heiser.
Ich konnte den Hass fühlen, der aus ihm hervorquoll, beißend wie die Schwaden von Essen, das schon verdorben war, bevor man es in der Pfanne verbrennen ließ.
In seiner anderen Hand blitzte etwas auf, Metall oder Glas, und sicher scharf.
Bilder flackerten vor meinen Augen vorüber, zogen als Empfindung durch meine Muskeln. Wie ich mein Schwert schwang, leicht und geschmeidig. Ein stählernes Rauchfähnchen, das durch die Luft glitt und durch den Leib dieses Mannes, durch Fleisch und Muskeln und Eingeweide schnitt.
Stattdessen steckte ich Long Yuan weg und zog es an seinem Gurt auf meinen Rücken. Tief sog ich die Luft im Stall ein, die nach Mist roch, nach Ziege und Stroh und Holz und gärendem Männerschweiß.
»Braves Mädchen.«
Eine Hand nach mir ausgestreckt, mit der anderen seine einfache Waffe angehoben, trat er einen Schritt auf mich zu.
Aus der Tiefe meines Körpers kam der Schrei, den ich ausstieß, dunkel und röhrend. Der mich von den Füßen hob und vorwärtsschleuderte, ihm entgegen. Mein Unterarm mit der geballten Faust schlug ihm die Waffe aus der Hand. Mein Ellbogen krachte in seinen Kiefer, während meine Ferse sein Knie zertrümmerte.
Es brauchte nur noch meinen Handballen, der mit aller Kraft gegen sein Brustbein prallte, seinen Atemfluss kappte, seine Nerven lähmte.
Schlaff und schwer schlug er auf dem Boden auf, rang mühevoll nach Atem, jedes Luftholen ein klägliches Stöhnen, ein Schluchzen.
Ich zog meinen Schwertgurt zurecht und stieg über ihn hinweg.
Bis in den Hafen kam ich noch, dann versagten meine Beine. Keinen einzigen Schritt konnte ich mehr gehen, ich ließ mich einfach zu Boden fallen.
Stunde um Stunde kauerte ich auf dem Kai und starrte auf das Meer hinaus. Während die Sonne ungerührt weiter ihre Bahn über den Himmel zog, landeten immer wieder Kupfermünzen klimpernd neben mir; jemand warf mir sogar mitleidig einen baozi, einen gedämpften Kloß, hin.
Ich war froh, dass ich ihn nicht getötet hatte. Nicht um seinetwillen. Um meinetwillen. Töten war nie leicht, gleich in welchem Kampf, gleich aus welchem Grund. Immer hinterließ es Spuren auf der Seele.
Da war der Schreiner in Meitan gewesen, der seine Frau und Kinder prügelte und mir in seiner Raserei selbst dann noch den Schädel mit einer eisernen Pfanne einschlagen wollte, als ich schon mit gezücktem Schwert vor ihm stand. Die drei widerlichen Gesellen in Jinan, die gerade dabei gewesen waren, über ein Bauernmädchen herzufallen. Nur zu gern ließen sie sich von mir herausfordern, glaubten sich mit ihren schweren Äxten meiner schmalen Klinge überlegen. Einer der wenigen Kämpfe seit meiner Zeit im Kloster, in denen auch ich Wunden davontrug, bevor sie alle drei in ihrem eigenen Blut lagen. Noch eine Spur ihres hässlichen Lachens, der Lust an der Gewalt trugen sie auf den Gesichtern, und ihre Augen standen offen, wie erstaunt, dass es ein Mädchen gewesen war, das sie getötet hatte. Schließlich dieser Bulle von einem Kerl, der auf der Straße nach Nanchang einen Händler um die Waren auf seinem Karren berauben wollte. Geschickt war er mit seinem dao, seinem breiten Schwert, das mich um Haaresbreite geköpft hätte. Hätte ich mich nicht schnell genug unter der Klinge weggeduckt und mit einem Streich von Long Yuan seine Leibesmitte aufgeschlitzt.
Fünf Leben, die ich genommen hatte. Jedes einzelne Mal als letztes Mittel in meinem Kampf für Gerechtigkeit.
Ich hatte nie gezählt, wie vielen Menschen ich geholfen hatte in diesen zehn Jahren. Indem ich ihren Leib und ihr Leben verteidigte, ihr Hab und Gut. Dem einen oder anderen Haus wirklich Glück und Segen brachte, nachdem man mir Obdach gegeben hatte und eine Mahlzeit, ein abgelegtes Hemd oder ein paar Kupfermünzen, wie es Brauch war.
Zufrieden hätte ich sein müssen, vielleicht sogar stolz.
Ich war keines von beidem.
Sinnlos kam mir mein Kampf für Gerechtigkeit vor. Obwohl ich doch wusste, dass jede gute Tat zählte, mochte sie auch nur ein Tröpfchen Wasser sein, das man in einen heißen Topf goss.
Ungerechtigkeit und Grausamkeit waren wie eine tausendarmige Krake: Schlug man einen Tentakel ab, wuchsen auf der Stelle fünf neue nach. Besonders in Jahren des Krieges, selbst wenn er weit entfernt war, in Zeiten der Veränderung, wie sie jetzt angebrochen waren.
Ich dachte an Väterchen Schnee, wie ich ihn genannt hatte. Wegen seines weißen Haares, das er zum Knoten gebunden trug, der Bart lang und spitz wie ein Eiszapfen. Schon als jianghu geboren, seine Waffe ein prachtvoller Degen aus der Zeit der Ming, gab er die alten Lieder und Legenden an mich weiter, während wir Seite an Seite über die kargen Felder von Guizhou wanderten. Fliegender Spatz, so rief er mich zu dieser Zeit, in der wir durch die dunklen Wälder der Wasserfälle zogen, durch die Steindörfer und über die Berge der vier Jahreszeiten. Fast alles, was ich über die Geschichte von jianghu wusste, hatte ich von ihm gelernt.
Mit Große Schwester hatte ich die Frau angeredet, die mich am Fluss der Neun Windungen fand, als ich in einem Fieber lag. Breitschultrig wie ein Mann, das Gesicht narbenübersät, und angewelkt wie eine überreife Zitrone, holte sie mich mit dem Sud von Kräutern und Wurzeln ins Leben zurück, den sie auf dem Lagerfeuer braute. Kleine Iris war der Name, den sie mir damals gab, weil mein Gesicht unter dem Fieber genauso weiß, fast bläulich, gewesen war. Ich bedankte mich, in dem ich ihr beibrachte, die Klinge ihres massigen dadao nicht nur mit Kraft, sondern auch mit Schnelligkeit und Eleganz zu führen.
Ich fragte mich, was aus den beiden wohl geworden war. Aus den anderen jianghu, die meinen Weg über die Jahre gekreuzt hatten. Es war lange her, dass ich einem von meiner Sorte begegnet war; stattdessen schien es mehr und mehr vom gleichen Schlag wie Älterer Bruder zu geben.
In diesem Land, das ich nicht mehr wiedererkannte. In dem der Begriff jianghu nach und nach die Ehre verlor, die er einmal in sich getragen hatte. Keinen Respekt mehr heraufbeschwor. Mein Schwert mich nur noch beschützte, wenn ich es zog.
Ich war müde. Des Kämpfens müde. Dieses Lebens müde.
Fortune hatte mich weich gemacht und schwach, doch ich hegte keinen Groll. Ich schätzte das, was er mir dafür gegeben hatte: ein Auge für Schönheit. Einblicke in die Welt der fremden Barbaren und ihre Sprache. Eine neue Sicht auf mein eigenes Land. Die Erfahrung, dass es noch Menschlichkeit gab und Güte, sogar unter den Barbaren. Dass ich noch etwas empfinden und vertrauen konnte.
Auch wenn ich nicht wusste, was ich jetzt damit anfangen sollte.
Mein Weg, der nie ein Ziel gehabt, den ich jedoch immer klar vor mir gesehen hatte, wohin der Wind mich auch trug, war verweht.