Es ist ein erhellender Moment, als Jane begreift, dass die lateinischen Bezeichnungen für Pflanzen nicht dazu eingeführt sind, damit sich Botaniker den Normalsterblichen überlegen fühlen können.
Im Gegenteil: Diese Namen sollen die Verständigung über Pflanzen vereinfachen und erleichtern. Vokabeln einer eigenen Sprache sind es, die von allen Pflanzeninteressierten gesprochen wird: von Botanikern und Sammlern aus der reinen Freude an Blumen. Von Gärtnern, Forschungsreisenden, Ärzten und Apothekern.
Jeder Name beschreibt jeweils eine einzige Pflanze, ohne Mehrdeutigkeit und ohne jeden Zweifel. Während sie sonst im Volksmund überall anders heißt, bildliche Beschreibungen rasch ausufern.
Was die Bauern Schafslorbeer nennen, Lammtöter oder Kalbsmörder, Schweinelorbeer oder Schafsgift, wäre in ausführlicher Schreibweise der Immergrüne Zwerglorbeer mit länglichen Blätterbündeln, die einander gegenüberstehen, und mit Blüten zwischen Karmin und Pink. Stattdessen gibt man ihm den Namen seiner Familie (Kalmia) und einen Vornamen (angustifolia), der ihn näher beschreibt, vielleicht noch mit dem Zusatz einer bestimmten Eigenart versehen.
Ganz ähnlich wie in Swinton jedermann weiß, wer die Pennys sind, und deren drei Töchter kennt: Mary (deren Mann gern einen über den Durst trinkt), Anne (deren Mann kein Händchen für die Schweinezucht hat) und Jane (die als Strohwitwe in England lebt, seitdem ihr Mann nach China gegangen ist).
Ein logisches und bestechend einfaches System, das umso nötiger geworden war, je mehr Pflanzen es zu benennen gab, feinere und genauere Beschreibungen notwendig machten. Sechstausend Pflanzenarten hatte schon Linnaeus beschrieben, Sir Joseph Banks hatte von seiner Reise um die Welt tausendvierhundert weitere mitgebracht – ungleich viele, viele mehr sind es, von denen man heute weiß.
Jane verspürt eine ganz neue Art von Stolz, dass Robert sein Scherflein zu dieser stetig und rasant wachsenden Ansammlung von Wissen beitragen wird. Nicht nur um seiner selbst willen, nicht nur, um etwas für seine Familie zu erreichen – sondern auch für die Nachwelt.
Jane hat viele solcher erhellenden Momente in diesem eisigen Winter, der kaum Schnee bringt. Während sie für Mr Lindley nicht nur Briefe, sondern auch seine Listen und Notizen ins Reine schreibt. Während sie sich nach und nach durch die Bibliothek der Lindleys liest. Zaghaft und scheu zuerst, dann mutiger. Gierig geradezu.
Manchmal vergisst sie darüber, dass die Kinder ja irgendwo im Haus sind.
In glühendem Schuldbewusstsein springt sie dann auf, mitten in einem noch zu schreibenden Brief oder mit einem Finger zwischen den Seiten eines Buches, und macht sich auf die Suche.
Immer findet sie sie wohlbehalten vor. John mit Milchbart und einem angebissenen Keks in der Hand, während Helen in der Schüssel mit Teig rühren darf.
Im Atelier von Miss Lindley und Miss Drake, wo die beiden Kinder misslungene und für den Papierkorb bestimmte Skizzen mit Farbstiften umgestalten oder auf dem Boden mit den beiden Katzen spielen.
Im Salon, wo John sich zum Schlafen in einem Sessel zusammengerollt hat und Helen, die Zunge angestrengt im Mundwinkel, Buchstaben aus der Fibel abmalt.
Es rührt Jane, wenn sie die beiden bei Mrs Lindley vorfindet. Wenn die Kinder mit großen Augen dem Märchen lauschen, das die Hausherrin ihnen erzählt. Wenn Helen unter deren Anleitung mit Wollresten das Häkeln lernt, während John sich von einer Kiste alter Spielsachen der Lindley-Kinder verzaubern lässt.
Unerwartet selbstständig sind die beiden geworden, mit noch nicht einmal fünf und gerade drei Jahren.
Bei aller Erleichterung, die Kinder aufgehoben zu wissen, plagt Jane manchmal so etwas wie Eifersucht. Vor allem plagt sie ein Gefühl der Schuld.
Sie vernachlässigt die Kinder, so kommt es ihr vor, für eine so geringe Tätigkeit, die sie für die Lindleys ausübt. Eine Arbeit, die sie nicht zwingend braucht; die Kinder und sie haben doch auch so genug zum Leben und ein Dach über dem Kopf.
Alles nur für eine Art von Wissen, eine neue Weise des Denkens, die ihr im Alltag nichts nützt. Ihr manchmal geradezu luxuriös vorkommt, wie der Ballen Seide aus China, der nach wie vor im Dunkel des Kleiderschranks vor sich hin schlummert.
Für ein Stückchen Freiheit, das ihr gewagt vorkommt, ungeheuer ichbezogen und rücksichtslos.
Die Tätigkeit im Haus der Lindleys gibt sie trotzdem nicht auf, sie ist ihr zu wichtig geworden.