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Ich sah ihm zu, wie er weiter in dem seltsamen Behälter aus Glas wühlte.

Viel zu zerbrechlich kam dieser mir vor, um im Bauch eines Schiffes unbeschadet eine solch weite Reise zu überstehen.

Unwillkürlich lehnte ich mich vor und besah mir dieses Glasgefäß genauer.

»Das ist ein Wardian Case«, erklärte Fortune. »Ein Dr. Ward in London ist zufällig darauf gekommen. Ein Arzt, der Naturkunde als Steckenpferd betreibt. Er wollte einen Schmetterling zum Schlüpfen bringen und gab die Puppe mit Laubmulch in ein Glas, das er verschloss. Der Schmetterling ist leider nicht geschlüpft – dafür keimte es im Glas. Verschiedene Gräser und erstaunlicherweise sogar einer der empfindlichen Farne wuchsen darin. Und das bemerkenswert prächtig.«

Ein Steckling nach dem anderen gesellte sich zu der Narzisse, von Fortune sorgsam in die Erde gebettet.

»Wir verstehen noch nicht ganz, was im Innern eines solchen Glases vor sich geht. Sicher ist nur, dass das Wasser den Tag über verdunstet, sich abends an den Wänden sammelt und dann wieder in der Erde versickert. Wir nehmen an, dass die Pflanzen innerhalb des Glases selbst beständig die Luft darin erneuern. Auch wenn wir den genauen Mechanismus noch nicht kennen.«

Er unterbrach seine Arbeit und legte die Hände auf den Rand des Behälters.

»Die größte Schwierigkeit dabei, Pflanzen aus aller Welt zu beschaffen, liegt darin, sie während der langen Reise am Leben zu halten. Unabhängig von Wind und Wetter, von Temperaturschwankungen und Luftfeuchtigkeit. Geschützt vor Salzwasser und vor hungrigen Ratten und Mäusen. Mit diesen Wardian Cases wagen wir ein Experiment: Pflanzen in ihrer eigenen kleinen Umwelt zu verschiffen. Wie in … in einer Blase. Sie müssen nur unterwegs genug Licht bekommen. Und der Kasten muss heil und luftdicht verschlossen bleiben.«

Nachdenklich spähte er in den Glaskasten.

»Wenn uns das jetzt gelingt«, fügte er leise hinzu, »wenn auch nur ein Teil der Pflanzen in solchen Cases wohlbehalten ankommt … Das würde ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Es wäre ein Meilenstein in der botanischen Forschung.«

Er verstummte und warf mir einen verlegenen Blick zu, bevor er sich wieder seinen Pflänzchen widmete. Wie entschuldigend, dass er so lange und viel geredet hatte.

Ich hatte nicht jedes einzelne Wort verstanden. Aber genug, um das Wesentliche zu erfassen.

Meine Fingerspitzen lagen auf dem Glas. Ich konnte mir vorstellen, wie es die Pflanzen auf ihrer weiten Reise vor allem Unbill beschützte. Dafür sorgte, dass es ihnen unterwegs an nichts mangelte. Auf eine seltsame Art taten sie mir trotzdem leid, auf diese Weise eingeschlossen zu sein. Die Sonne nur durch das Glas hindurch zu spüren. Ohne den Wind fühlen zu können und den Regen.

»Weißt du«, sagte Fortune nach einer Weile, »zu Hause habe ich gedacht: Wir halten unsere Frauen oft für so empfindliche Pflänzchen, dass wir sie in ein solches Glashaus setzen.«

Seine Stirn legte sich dabei in Falten, fast fragend. Als wunderte er sich selbst über diesen Gedanken.

Vor meinem inneren Auge entrollte sich die Form, in die mein Leben hätte gepresst werden sollen, erschreckend klein und eng. Begrenzt von den Mauern eines Hauses. Der Fläche eines Gärtchens. Der Ausdehnung eines Reisfeldes.

Eine Form, die sich nicht verändern ließ. Nur ein wenig dehnen. Durch meine äußere Erscheinung. Meine Tugendhaftigkeit. Die Fähigkeit, Söhne zu gebären.

Ich tat einen tiefen Atemzug. Wie um mich zu versichern, dass diese Last nicht mehr auf meinen Schultern lag. Ich diese Form wirklich und unwiderruflich gesprengt hatte.

»Bei uns ist es genauso«, flüsterte ich.

Fortune sah mich an, ein Zucken um den Mund, als ob er etwas erwidern wollte.

Dann senkte er jedoch den Kopf und grub schweigend weiter mit den Fingern in der Erde.

Es gefiel mir, wie sorgsam er die empfindlichen Pflanzen behandelte. Wie behutsam er sie anfasste und in seinen großen Händen barg, bevor er sie in die Erde bettete. Gut aufgehoben schienen sie, in diesen Händen. Ohne befürchten zu müssen, dass er ihnen unabsichtlich Schaden zufügte, weil er zu fest zupackte. Ohne dass sie ihm entglitten und zu Boden fielen, weil er sie zu zaghaft hielt. Er hatte ein Gefühl für ihre Lebendigkeit.

»Wolltest du immer nur das sein – ein … ein Mann des Gartens?«

Er nickte.

»Ich wollte schon immer mit Pflanzen arbeiten. Mit Blumen. Die Wunder der Pflanzenwelt haben nie aufgehört, mich zu faszinieren. Ich will immer noch mehr darüber lernen. Vielleicht mein eigenes Scherflein zum Wissen über diese Welt beitragen. Indem ich etwas Neues darin entdecke. Etwas noch Unbekanntes aufspüre. Zumindest wünsche ich mir das.«

Über seine Arbeit hinweg warf er mir einen schnellen Blick zu.

»Wolltest du schon immer ein Schwertmädchen sein?«

Seinen unvermutet leichtherzigen Tonfall wusste ich nicht einzuordnen; nicht, ob die Frage scherzhaft oder ernst gemeint war.

Ich dachte daran, wie viel Aufhebens er in Shanghai darum gemacht hatte, als es für die letzten zwei Nächte in der Herberge kein freies Zimmer mehr gegeben hatte, um mich darin unterzubringen.

Dabei hatte ich ihm doch versichert, dass es mir nichts ausmachte, auf dem Boden zu schlafen. Ebenso wenig, wie mir danach auf dem Schiff den winzigen Raum mit den beiden Männern zu teilen.

Obwohl Wang des Nachts grunzte wie ein Wildschwein.

Trotzdem genoss ich es, hier in Canton ein Kämmerchen für mich allein zu haben. So hoch oben, dass ich durch das Fenster aufs Dach klettern konnte. In der Stunde des Tigers, wenn es noch dunkel war, gehörten die Dächer der Stadt mir und meinem Schwert. Eingehüllt in Nacht und Stille, tanzte ich mit meiner Klinge unter Wolken und Sternen. Bis die Stunde des Hasen sich ihrem Ende zuneigte und die Stadt im ersten zarten Grau des Tages erwachte.

Ich war dankbar für diese Stunden der Nacht, ganz für mich allein.

»Ich wollte immer nur frei sein«, sagte ich leise.

Fortune unterbrach seine Tätigkeit.

»Frei«, wiederholte er murmelnd.

Verwundert wirkte er, wie er mit gerunzelter Stirn in die Ferne blickte. Als wäre Freiheit etwas ganz und gar Selbstverständliches. Oder etwas, über das er erst genauer nachdenken musste, weil es ihm fremd war.

Als er sich wieder in seine Arbeit vertiefte, verliehen seine zusammengezogenen Brauen, die Art, wie er seine Augen zusammenkniff, ihm etwas Grüblerisches, Angestrengtes.

Ich fragte mich, ob nicht die meisten Menschen in einem Haus aus Glas saßen. Mal größer und weitläufiger, mal beengter, Frauen wie Männer.

Ob vielleicht auch Fortune in einem lebte.

Und was nötig sein mochte, um es zu zerschmettern.

Hastig zog ich meine Hand zurück. Als hätte ich mich am Glas geschnitten.

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