Immer noch trauert Jane Roberts Brief nach.

Diesem Brief, den sie in einem Zorn, der ihr nicht einmal bewusst gewesen war, zusammengeknüllt und dann so achtlos fallen gelassen hatte.

Nirgends konnte sie ihn mehr finden.

Vermutlich hat ihn eines der Kinder entdeckt und an sich genommen. Wahrscheinlich John, der mit Buchstaben noch nichts anfangen kann, während sie Helen bereits das ABC beibringt.

Doch auch nachdem sie das ganze Zimmer durchsucht, alle Kissen und Decken ausgeschüttelt, die Schränke auf den Kopf gestellt und alle Kisten mit Spielsachen geleert hat, bleibt der Brief verschwunden.

Es war doch nur ein Brief, versucht sie sich zu sagen. In dem nicht viel anderes stand, als Mr Lindley ihr mitgeteilt hat, soweit sie sich daran erinnert, etwas über eine besondere Kamelie.

Ergänzt darum, dass Robert sie um Verzeihung bat und um Verständnis.

Ein Brief, der auf unzähligen dunklen Wegen hätte verlorengehen können, auf dieser weiten Reise zu ihr.

Doch er hat sie unbeschadet erreicht, und in einem Moment der Nachlässigkeit, der trotzigen Gleichgültigkeit hat sie ihn verloren.

Die Möglichkeit hat sie verschenkt, ihn aufmerksam zu lesen. Gründlich, Wort für Wort. Roberts Stimme darin zu hören, die in ihrer Erinnerung so leise, so schwach geworden ist.

Sie hat doch nur diese Briefe.

Wie ein schlechtes Omen kommt es ihr vor, dass sie diesen Brief verloren hat, in ihren sicheren, kleinen vier Wänden.

Zwei andere Briefe kommen an, fast am selben Tag. In diesem goldenen September, der fast noch Sommer ist, keine Spur von Herbst in sich trägt.

Ein Brief stammt aus dem März, der andere aus dem Februar. Jane wiegt letzteren in der Hand und fragt sich, welche Irrwege er wohl genommen hat, auf See und über Land, dass er ein halbes Jahr brauchte, bis er den Weg zu ihr gefunden hat.

Ein Brief vom chinesischen Neujahrsfest ist es. Der andere erzählt vom Frühling auf einer blühenden Insel. Jane ist gerührt, dass Robert sie bei sich wünscht. Ihr an jenen Tagen das zeigen wollte, was er dort zu sehen bekam.

Trotzdem sind diese Briefe wie ein Schattenspiel. Flache Umrisse, schwarz auf weiß, die sie kaum mit Farbe, mit Leben füllen kann, weil sie nur Vergleiche zu dem ziehen kann, was sie kennt.

Robert hingegen lebt diese ganze Fülle, erfährt sie mit seinen Sinnen, nimmt sie in sein Gedächtnis auf.

Während nichts in seinen Briefen anklingen lässt, ob ihre Briefe ihn erreicht haben.

Als ob Jane am falschen Ende eines Teleskops sitzt, von Roberts Seite nur einen winzigen, kaum erkennbaren Ausschnitt zu sehen bekommt.

Ein Teleskop, das länger und länger wird, mit jedem Monat, der verstreicht.

Sie liest den Kindern aus diesen Briefen vor, brav hören sie zu.

Kurz blitzt auch Neugierde auf ihren Gesichtern auf und in ihren Augen, bevor sie wieder erlischt. All die kleinen und größeren Dinge in ihrem Kinderleben verdrängen Robert langsam aus Helens Gedächtnis, und John hat ohnehin keine Erinnerung an ihn.

Wie eine Witwe fühlt sich Jane.

Eine Witwe, die das Andenken an ihren Mann verzweifelt lebendig zu halten versucht. Nicht einmal mehr die Jacken, die er zurückgelassen hat, riechen noch nach ihm. Unter dem Geruch von Stoff, der regelmäßig gelüftet wird, und dem Lavendelduft des Kleiderschranks ist nichts übrig geblieben von Roberts Geruch nach Pflanzensaft, Erde und dem Schweiß ehrlicher Arbeit.

Sie weiß nicht, was sie jetzt tun soll. In dieser Zeit ohne Robert, die fast schon hätte vorbei sein sollen und sich jetzt in die Unendlichkeit erstreckt.

Obwohl sie nicht sein will wie die alten Weiber früher im Dorf mit ihren Schauergeschichten, muss sie an Feen denken, die Kinder aus ihren Bettchen entführen und ein Feenbalg an seiner statt hineinlegen. An Kelpies, die kräftigen und machtvollen Pferdegeister, die Menschen in die Tiefen von Flüssen und Seen ziehen, und an Ungeheuer wie Mhorag, das Jagd auf Menschen macht, die sich in seine Gewässer wagen.

China hat ihren Mann verschlungen, das kann sie fühlen.

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