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Ningbo, 6. Juli 1844
Herrlichstes Sommerwetter. Heiß, um die 80 Grad Fahrenheit.
Heute vor einem Jahr habe ich in Hongkong chinesischen Boden betreten.
Heute oder irgendwann in den nächsten Tagen hätte ich wieder in Hongkong sein sollen. In einem anderen Hafen, an Bord eines Schiffes unter englischer Flagge.
Stattdessen habe ich mich in die Hände des Schicksals begeben, mit ungewissem Ausgang.
AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE
Fortune konnte sich an keine Zeit erinnern, in dem er den Lauf seines Lebens nicht auf einem festen, unerschütterlichen Sockel wusste.
In seiner Kindheit, als der prosperierende Besitz des Grundherrn Meile um Meile weitere Hecken um die wachsenden Ländereien nötig machte. Jede Menge Arbeit für Fortune senior, die das Auskommen der Familie für viele Jahre sichern würde.
Seine eigene Lehrzeit in den herrschaftlichen Gärten, die sich ebenfalls ausdehnten, Raum für mehr Bäume und Sträucher boten, für anspruchsvollere, für seltenere Pflanzen.
Die Anstellung im Botanischen Garten von Edinburgh und danach in den Treibhäusern von Chiswick.
Solange der Boden fruchtbar blieb, solange Pflanzen Hege benötigten und die Welt auch nach Pflanzen verlangte, würden seine Hände immer Arbeit finden.
Ein klar definiertes, gesellschaftlich anerkanntes Raster sicherer Arbeit. Eines geregelten Lebens, das ihn immer umgeben, ihn beschützt hatte.
Als Sohn. Gärtner. Ehemann. Vater.
Selbst diese Reise nach China war diesem Muster gefolgt. Trotz aller Unwägbarkeiten, in all ihrer Abenteuerlichkeit: die Horticultural Society im Rücken, immer eine Grenze von dreißig Meilen und zwölf Monaten vor Augen.
Alles an Unsicherheiten und Zweifeln hatte es immer nur in ihm selbst gegeben. Im Abgleich zwischen dem, was jedermann von ihm zu erwarten schien, und was davon er aufzubieten hatte. Ein Zwiespalt, an dem er sich zu bestimmten Zeiten rieb, aus dem er jedoch irgendwann herauswuchs.
Dieses Verhältnis zwischen Innen und Außen, Sicherheit und Unsicherheit hatte sich umgekehrt.
Keinen Augenblick zweifelte er daran, dass es richtig gewesen war, zu bleiben. Obwohl die Umstände alles andere als sicher oder verlässlich waren.
Er wusste nicht, zu welchem Urteil die Society gelangen würde und mit welchen Folgen er für sein eigenmächtiges Handeln zu rechnen hätte. Noch wusste er, was ihn in Anhui erwartete und wie lange er dort bleiben würde. Geschweige denn, wie er überhaupt ungehindert dorthin gelangen sollte. Als Ausländer, der die ihm auferlegten Bestimmungen verletzte.
Wang hüllte sich dazu in Schweigen.
Er verriet weder, wie er Fortune dort hinzubringen gedachte, noch wann sie aufbrechen würden. Ob noch Zeit blieb, die Sommerblüte in Zhoushan zu sehen. Vielleicht sogar die Insel, von der er bei einem Blumenhändler auf dem Markt gehört hatte, die heilige Insel von Potosan.
(Pu-to-san? Puo-to-shan? Er kämpfte noch immer mit der fremden Sprache, der Übertragung ihrer Laute in Buchstaben, um sie sich bildlich vorstellen zu können.)
Mit Verschwörerblick tippte Wang sich nur immer wieder vielsagend an die Stirn, bevor er ganze Tage lang verschwand, um irgendwelche geheimnisvollen Erkundigungen einzuholen. Die Unterscheidung zwischen Herr und Diener, ohnehin nie sonderlich scharf, nie ganz glaubwürdig, gab es nicht mehr. Doch Fortune störte sich nicht daran; etwas anderes bereitete ihm Sorgen.
Die Pistole samt der noch vollständigen Munition hatte er für gutes Geld an einen chinesischen Schneider verkauft, der ein glühender Verehrer englischer Sprache und Lebensweise war, sogar das Porträt Queen Victorias in seinem Laden mit schmachtenden Blicken bedachte.
Neben der Flinte, die bestimmt mindestens genauso viel wert war wie die Pistole, blieb Fortune nun noch genug Geld, um fünf, vielleicht auch sechs Monate hier in China über die Runden zu kommen.
Keinen Monat darüber hinaus.
Vielleicht hatte er deshalb begonnen, fieberhaft die Reichtümer zu sammeln und zu horten, die die Gegend von Ningbo in diesem Sommer großzügig vor ihm ausbreitete.
Nicht nur eine atemberaubend schöne Azalea sinensis mit gelben Blütenwolken oder eine bezaubernde Daphne in Blasslila, die den Boden eines Tals hinter Ningbo bedeckte wie ein Teppich aus Flieder, nur ohne dessen Duft.
Fortune sammelte alles: Zweige des Reispapierbaums ebenso wie die des Talgbaumes. Erdnusspflanzen, verschiedene Kohlsorten, Salat und ein gefiedertes Lycopodium, ein zwergenhafter Abkömmling der Bärlappgewächse.
Doch nichts berauschte ihn in diesem Sommer wie die Rosen von Ningbo.
Rosa rugosa, die Kartoffel- oder Apfelrose, die hier wild ganze Hänge bekleidete, von äußerster Robustheit und in kräftigen Farben. Fortune konnte sich lebhaft vorstellen, welch prächtige Gartenrosen dabei herauskämen, sollte man sie mit in England heimischen Rosen kreuzen.
Oder mit der chinesischen Rose, Rosa sinensis, die gleich in mehreren Arten blühte, nach und nach, im Lauf des Sommers. In leuchtendem Rot und Rosa, sogar in dunkelstem Purpur.
Sein Herz gehörte jedoch der zarten weißen Rose, die sich scheu im Halbschatten hielt, mit ihren Blüten wie feinste, knittrige Seide.
Und es gehörte den Rosen, die ihn mit ihrem Strahlenkranz aus Staubblättern, den Farben ihrer Blütenblätter an besonders prächtige Anemonen erinnerten, manchmal wie eine entfernte Cousine der Päonie aussahen.
»Rosa anemoniflora«, murmelte er bewundernd, als er einen Zweig aus dem Strauch schnitt, der in starkem Pink erstrahlte.
Er sah hinüber zu Lian.
Nach wie vor hielt sie sich in seiner Nähe, wenn er Pflanzen sammelte, blieb dabei jedoch auf Abstand. In einem Schweigen, das seine Lebendigkeit verloren hatte. Ihn aussperrte.
Als hätte sich in Tiantung eine Tür zwischen ihnen geöffnet, um sich danach umso fester zu verschließen.
Nur in der Stunde vor Sonnenaufgang, bevor die Hitze des Tages herankroch, lebte sie wieder auf. Vor den Toren der Stadt, wenn sie gegeneinander kämpften, blitzte es in ihren Augen, zeigte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
Er lernte langsam, aber er lernte. Den Kampf mit dem Stock, dann mit den Fäusten, den Füßen. Fortune würde nie ein Krieger sein, aber sich zu verteidigen wissen, das nächste Mal. Auch wenn das zunächst bedeutete, dass er lernte, einzustecken. Lians Faust zwischen seinen Rippen. Ihr Fuß, der schmerzhaft seinen Oberschenkel traf. Als hegte sie einen leise schwelenden Zorn gegen ihn, ohne ihn ernsthaft verletzen zu wollen.
»Lian?«
Ihre Augen richteten sich auf ihn. Gleichgültig, fast feindselig.
Sicher war es ungeschickt, jetzt die Rede darauf zu bringen, nach zwei Monaten. Vielleicht war es sogar dumm.
»Vermisst du das Leben im Kloster manchmal?«
Desinteressiert senkte sie den Blick wieder und zuckte mit den Schultern.
Er gab nicht auf.
»Als ich noch sehr jung war … da habe ich etwas über Mönche im Süden Frankreichs gelesen. Über einen Klostergarten. Den hätte ich mir gern angesehen. Oft habe ich darüber nachgedacht, wie sehr mir ein solch zurückgezogenes Leben entsprechen würde, im gleichmäßigen Fluss der Tage. Irgendwo, ganz abgeschieden von der Welt, Pflanzen zu studieren und zu züchten.«
Nichts an Lian verriet ihm, ob sie ihm zuhörte.
»In Edinburgh dann … Ich mochte die Arbeit im Botanischen Garten. Ein sehr schöner Garten. Aber in der Stadt selbst habe ich mich nicht wohlgefühlt. Sie war mir zu groß. Zu kalt. Ich kannte ja auch kaum jemanden dort. Ich bin damals viel in die Kirche gegangen, um nachzudenken. Da habe ich mich wieder daran erinnert, an meinen Traum von einem Leben wie im Kloster. Aber dann traf ich Jane, und …«
Seine letzten Worte, unbedacht und wie im Reflex ausgesprochen, ließen ihn erstarren.
Lians Augen hatten sich auf ihn geheftet. Mit einem Aufglimmen von Neugierde, auf das er in diesem Moment lieber verzichtet hätte. Das Blut stieg ihm ins Gesicht.
»Meine Frau. Ich bin verheiratet.«
Unter Lians bohrendem Blick beugte er sich tiefer über die anemonenblühenden Rosen.