26

Fortune hatte es sich nicht nehmen lassen, sich im Morgengrauen noch einmal in den Hafen zu begeben.

Mit eigenen Augen wollte er sich vergewissern, dass das Wardian Case mitsamt seiner kostbaren Fracht auf dem Oberdeck verstaut worden war und dort genug Licht erhalten würde. So gut gesichert, dass es eine reelle Chance hatte, auch rauen Seegang und Stürme zu überstehen.

Mit einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit sah er vom Kai aus zu, wie das Schiff mit geblähten Segeln ablegte und aus dem Hafen hinaussteuerte. Auf die Meerenge der Bocca Tigris zu, den Tigerschlund, bevor es zwischen Hongkong auf der einen Seite und Macao auf der anderen hindurch Kurs auf das offene Meer nehmen würde.

»Jetzt feiern, ja? Gut essen! Trinken! Hat Wang verdient!«

Fortune zuckte zusammen, als Wang ihm auf den Rücken schlug.

»Und Fu-Chung auch!«

Unterwegs in den Gassen beäugte Wang jedoch abschätzig die Auslagen der Fleischer und der Fischhändler, die die Luft mit dem metallischen Geruch von Blut und Seetang sättigten. Kaum gemildert vom erdigen, grünen Duft des Gemüses, der süßen Frische von Obst.

»hng. Cantonesen wirklich alles essen, was schwimmt, fliegt oder vier Beine hat. Nur keine Boote, Papierdrachen und Tische.«

Widerstrebend musste Fortune ihm recht geben.

Was hier an ganzen Tieren oder Teilen davon auf windschiefen Klapptischen ausgebreitet lag, Kisten und Körbe füllte oder an Schnüren von der Decke baumelte, entzog sich oft einer weiteren zoologischen Bestimmung.

Manchmal wollte er es auch lieber gar nicht genauer wissen. Wie beispielsweise bei den sorgsam aufgestapelten rosigen Fleischtuben mit paarweisen Öffnungen, die sich erst auf den dritten Blick als abgetrennte Schweineschnauzen entpuppten.

Fortune richtete seine Aufmerksamkeit lieber auf die Pyramiden von Orangen, Zuckerrohr, Feigen, Mangos und Pomelos und von hellgrünen Citrus maxima. Auf Körbe von Litchi sinensis (Lizhi? Liechee? Lychee?), aus der Familie der Seifenbaumgewächse, und ihrer Verwandten, Dimocarpus longan.

Sofern er überhaupt einen kurzen Blick auf diese Fülle an botanischen Besonderheiten erhaschen konnte. Die ganze Stadt schien auf den Beinen, um sich mit Leckerbissen für das Neujahrsfest einzudecken, hastete und drängelte sich durch die Gassen, sammelte sich vor den Ständen und Buden, schnatternd, johlend, lärmend.

Ein Umstand, der Wang ungnädig stimmte; er schreckte nicht davor zurück, jemanden beiseitezuschubsen, der ihm die Sicht auf mögliche Köstlichkeiten versperrte, und im Zweifel sein Recht darauf mit lautstarken Beschimpfungen zu verteidigen.

Die zweifellos frisch vom Baum gepflückte Psidium guajava ließ Fortune grübeln, auf welchen Handelswegen die in Südamerika beheimatete Guave wohl ihren Weg nach China gefunden und hier Wurzeln geschlagen haben mochte. Oder handelte es sich um eine Laune der Natur, die diese Gewächse, unabhängig voneinander, an den Antipoden hervorgebracht hatte?

Lange betrachtete er die gelben Trauben, die wohl wam-pee genannt wurden, wie er dem Redefluss des Händlers zu entnehmen glaubte, der sie ihm in einem begeisterten Schwall Cantonesisch anpries. Bis er sie zu seiner Freude anhand ihres Laubes als eine Art von Cookia klassifizieren konnte.

Fortune warf einen Blick über die Schulter. Wie ein Schatten folgte Lian ihm im Gedränge. Es war ihm unangenehm gewesen, ihr in Shanghai keine ordentliche Schlafstatt bieten zu können, geschweige denn ein Zimmer für sie allein. Seine Entschuldigungen und seine Überlegungen zur Verteilung der beiden Betten waren unter Lians verständnislosem Blick abgeebbt und schließlich verstummt.

Das schlechte Gewissen blieb. Er hatte sich gewünscht, es gäbe ein Handbuch, in dem beschrieben war, wie man sich in einer solchen Situation angemessen verhielt.

Auf dem Schiff waren sie zwar gleichgestellt gewesen, in der engen Kabine mit gleich vier Kojen. Doch seit er sein Elternhaus verlassen hatte, in dem die neun Brüder und Schwestern Fortunes sich eine Kammer teilten, hatte er nur mit einer Frau jemals im selben Zimmer seine Nächte verbracht: mit Jane, als Mann und Frau.

Es war eine Erleichterung, dass er hier in Canton für ein paar Käsch extra das Kämmerchen unter dem Dach bekommen hatte. Von dieser erzwungenen Intimität befreit, die ihm Unbehagen verursacht hatte.

Und doch lag er auch jetzt noch manchmal wach, wie zuletzt auf dem Schiff, stocksteif unter den Laken. In dieser feuchten Luft Cantons, vor der es nirgendwo ein Entkommen gab. In der jeder Inch Stoff auf der Haut klebte.

Er vermisste Lians sanfte, gleichmäßige Atemzüge neben dem Schnarchen Wangs. Die kleinen Seufzer, die sie manchmal im Schlaf von sich gab. Ihre leisen Bewegungen, wenn sie sich vor Tagesanbruch erhob, zeitiger noch als er, der Frühaufsteher.

Er hatte sie nie gefragt, wohin es sie dann zog, fast noch in der Nacht. Hatte nie gewagt, ihr nachzugehen.

Lian fing seinen Blick auf, sah dann zu Wang hinüber, der sich gerade in ein flammendes Streitgespräch verstrickt hatte. Die Mundwinkel spöttisch gekräuselt, verdrehte sie die Augen.

Fortune antwortete mit einem Heben der Brauen, einem Schmunzeln, bevor er sich wieder den Merkwürdigkeiten der cantonesischen Küche zuwandte.

Schlangen. Eine Art von Gürteltier. Frösche.

Ein Verwandter des Octopus, der in seiner grotesken Gestalt einem Fiebertraum entsprungen schien.

Etwas, das aussah wie ein flechtenüberkrusteter Stein, bis Fortune es als den Kopf eines Alligators erkannte.

In die nur selten appetitlichen Gerüche aus den Garküchen zog ein anderer, ein krautiger Geruch; herb war er, gleichzeitig trocken und frisch. Nicht unvertraut, obwohl Fortune ihn nicht sogleich zuzuordnen wusste. Schnuppernd ging er diesem Geruch nach. Verlor die Fährte, um sie ein paar Schritte weiter wieder aufzunehmen, intensiver dieses Mal, geradezu betäubend.

Fortune musterte die Schriftzeichen über der schmalen Türöffnung, spähte in den Laden dahinter, eng und dunkel wie eine Höhle. Die Quelle dieses Geruchs.

»Was gibt es hier zu kaufen?«

»Ist Laden von Tee«, erklärte Wang, der pflichtbewusst an Fortunes Seite zurückgekehrt war.

Fortune zögerte kurz, dann zog er den Kopf ein und trat über die Schwelle.

Wie in einem Heuschober roch es hier. Nach sonnengetrockneten Gräsern, versetzt mit einer pfeffrigen Würze, einem Hauch von Blüten.

Fortunes Augen wanderten über die Reihen von aufgestapelten Holzkistchen, von flinker Künstlerhand mit den extravaganten Ornamenten der chinesischen Schriftzeichen versehen.

Die Preise für chinesischen Tee schwankten in England stark, je nach Jahreszeit, Sorte und Qualität. Kurz vor und während des Krieges, als nur noch wenig Tee in den Westen gelangte, waren sie in astronomische Höhen geschnellt; seitdem wieder größere Mengen importiert werden konnten, war Tee erschwinglicher. Trotzdem schätzte Fortune, dass in diesem winzigen Raum Tee im Wert von Tausenden Pfund Sterling lagerte.

Bei ihrem Eintreten hatte Wang sogleich den Teehändler angeblafft und ihm mit gebieterischen Gesten bedeutet, seinem Herrn ja nicht zu Leibe zu rücken. Nun wartete der Händler geduldig hinter dem Ladentisch, die Finger auf eine Art verschränkt, die gleichermaßen gelassen wie aufmerksam wirkte, bis Fortune sich in aller Ruhe umgesehen hätte.

Fortune trat an den Tisch und besah sich die Teehäufchen, die als Proben in Porzellanschälchen ausgestellt waren. Dass man den Tee hier anders trank – das hatte er bereits festgestellt. Nicht so kräftig, pur und meistens grün, während man daheim in England überwiegend schwarzen Tee bevorzugte. Doch die Teeblätter hier sahen anders aus als die, die er von zu Hause kannte, rochen auch anders.

Die Blätter des Schwarzen Tees, Thea bohea, waren hier nicht satt tintendunkel, fast bläulich, sondern von mattem Braun, je nach Sorte mal rötlich, kupfern oder goldgesprenkelt. Thea viridis, der Grüne Tee, war hier heller, von weniger kräftiger Farbe. Nicht grün wie Gras, sondern eher wie getrocknetes Moos.

Kein einziger der hier präsentierten Tees glich dem, was man in England als chinesischen Tee trank.

Ohne jemals genauer darüber nachgedacht zu haben, war Fortune ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass der Tee, der nach England exportiert wurde, mehr oder weniger der gleiche war, den es auch in China gab. Eine nach ländertypischen Vorlieben getroffene Auswahl aus einer reichhaltigen Palette an Sorten, an Stärkegraden und Geschmäckern.

Der himmelweite Unterschied zwischen chinesischem Tee in England und chinesischem Tee in China gab ihm Rätsel auf. Zumal er sich nicht erinnern konnte, jemals etwas darüber gelesen oder gehört zu haben, wie Tee in China angebaut und verarbeitet wurde.

»Wang – frag ihn bitte, woher dieser Tee kommt.«

»Ha, muss nicht fragen«, erwiderte Wang mit stolzgeschwellter Brust. »Wang weiß! Tee hier kommt von überall. Canton, Fukien, Chekiang. Ganz China Teeland! Wang weiß alles über Tee. Kommt aus Teefamilie. Von Anhui, von Sung Lo!«

»Ist es weit bis zu den nächsten Teefeldern hier?«

»Ja!«, rief Wang aus, halb bedauernd, halb merkwürdig vergnügt. »Sehr weit!«

»Weiter als dreißig Meilen? Fünfzig li

Wang legte den Kopf schräg, während er nachdachte.

»Kann sein«, gab er schließlich zur Antwort. »Aber auch nicht.«

Fortune starrte auf die Teesorten, die vor ihm ausgebreitet lagen.

Das Risiko, außerhalb der ihm erlaubten Zone von dreißig Meilen aufgegriffen zu werden, erschien ihm zu groß. Gleich, ob er dafür eine Geldbuße oder eine Gefängnisstrafe bekäme, vielleicht sogar des Landes verwiesen würde – das war dieses Wagnis nicht wert. Nicht einmal, um mit eigenen Augen zu sehen, wo der Tee aus China herkam.

»In der Provinz Chekiang ist es nicht so weit zum Tee«, hörte er Lians leise Stimme. »Bei Ningbo wächst Tee. Vielleicht zwanzig li von Ningbo?«

»Aber zu früh!«, empörte sich Wang. »Wenn Fu-Chung sehen will Tee und lernen Tee – dann muss warten. Auf Erntezeit an Küste. In Monat von Silberregen. Wochen noch … so viele.«

Wang hob beide Hände mit gespreizten Fingern.

Fortune ließ den Atem ausströmen, den er unwillkürlich angehalten hatte.

Im März die blühenden Hügel von Zhoushan.

Im April Teefelder irgendwo hinter Ningbo.

Es sah ganz danach aus, als würde sich das lange Warten auf den Frühling gelohnt haben.

Das Neujahrsfest kam wie ein Rausch über Canton.

Festlich und farbenfroh gekleidet, strömten die Menschen in Scharen durch die Straßen und riefen nach allen Seiten Neujahrsglückwünsche – gung hei faat choi und juk neih houwahn –, die auch gwai-los wie Fortune mit einschlossen. Rufe, die sich mit scheppernder Musik und dem Krachen und Knattern von Böllern zu einem ohrenbetäubenden Lärm aufpeitschten.

Die Stadt quoll über vor Blumen und Seidenbannern, und aus den Flüssen wurden schwimmende Gärten, die Boote darauf schwer von ihrer Blütenlast. Vergnügungsfahrten waren es, wie zu Hause in Richmond oder Hampton Court. Sogar die sonst unsichtbaren Frauen der Stadt waren zu sehen, in feinster, verschwenderisch gemusterter und bestickter Seide und eleganter Haltung, ihre Gesichter wie gemalte Kunstwerke. Empfindlichen und kapriziösen Treibhauspflanzen gleich, die nur einmal im Jahr blühten, drei Tage und drei Nächte lang.

Nur mit halbem Ohr hörte Fortune zu, wie ein aufgekratzter Wang ihm erklärte, warum dieses Jahr des Holzdrachen ein solch besonderes, Glück verheißendes war.

Er befand sich in einem anderen Rausch.

Während sich unter Donnerschlägen glitzernde Schlangen über den Nachthimmel wanden, schillernde Drachen Feuer spien und sich bunte Chrysanthemen entfalteten, wiederholte er aus dem Gedächtnis die Namen der Teesorten, die Lian in jenem Laden für ihn übersetzt hatte.

Goldblatt. Jadeblume.

Jadeblatt des Ewigen Frühlings.

Drache in den Wolken. Feiner Silberschössling.

Lerchenzunge. Spiegelfelsen.

Fels der drei Mönche.

Namen wie aus einer anderen, einer magischen Welt.

Trunken war er von der Vorstellung, dem Tee bald so nahe zu sein. Vielleicht der erste Mann aus dem Westen zu sein, der sah, wo Tee wuchs. Wie er angebaut und wie er verarbeitet wurde.

Die »fließende Jade«. Das grüne Gold.

Das kostbarste und begehrteste Gut Chinas. Auf der ganzen Welt, aber besonders in England; denn nur wer Tee trank, konnte sich wie ein richtiger Engländer fühlen.

Dafür war England sogar in den Krieg gezogen.

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