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Ich war es nicht gewohnt, jemandem so nahe zu sein. Jemandes Haare und Haut unter meinen Händen zu haben.

Schon gar nicht die Fortunes. Des Engländers von der anderen Seite der Welt.

Ich verfluchte Wang, dass er mir diese Arbeit aufgebürdet hatte.

Dickes, starkes Haar hatte Fortune. Viel davon und recht lang, wie das Haar einer Ziege im Winter; er war wohl einige Zeit nicht beim Barbier gewesen. Schade war es darum, dachte ich, während es Strähne um Strähne unter der Messerklinge fiel, in wolligen Bündeln herabsegelte.

Ich erinnerte mich noch gut daran, wie es war, als mein Kinderzopf fiel, im Kloster der Alten Haine und Jungen Bäume, unter den Händen eines Mönchs. Zum Weinen war mir zumute gewesen, aber ich hatte tapfer alle Tränen hinuntergeschluckt. Obwohl ich noch so klein gewesen war, hatte ich gespürt, dass das Rasieren des Kopfes etwas Besonderes war. Der Preis, den ich dafür zu zahlen hatte, dass ich ab jetzt in Sicherheit war. Für das neue Leben, das mir im Kloster geschenkt wurde.

Manchmal fehlte mir dieses Gefühl der Leichtigkeit, der Frische am Kopf, besonders in den Sommern. Und doch war der lange Frauenzopf, der in diesen zehn Jahren neu gewachsen war, das Zeichen meiner zweiten Wiedergeburt.

Kaum merklich zuckte Fortune zusammen, als ich die Klinge auf seiner seifennassen Haut ansetzte, um ihn bis zu der neuen Haarlinie hinter den Ohren kahlzuscheren. Es war beinahe eine Erleichterung, dass er mir nicht vollkommen traute. Umso schlechter fühlte ich mich, als sich gleich darauf seine Muskeln lockerten. Er sich gänzlich in meine Hände fallen ließ.

So schlecht, wie ich mich fühlte, wenn er abends über unserem provisorischen Eintopf mit glänzenden Augen seine Hoffnungen äußerte, wie die Ankunft seiner Pflanzen in England aufgenommen würde. Besonders die der Teesetzlinge.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, seine Haut unter meinen Händen zu haben; ich merkte, wie mein Herz dabei klopfte. Als würde ich ihn mit jeder Partie, die ich abrasierte, entkleiden, nach und nach. Auf eine Weise, die nicht intimer hätte sein können, hätte ich ihm sein Hemd und seine Hose ausgezogen.

Ich atmete tief durch und spülte das Messer kurz in der Waschschüssel ab.

Die Klinge glitt weiter über seinen Schädel, hinter die Ohren und in den Nacken hinunter, und ich musste mich bücken.

Viele Männer hatten einen hässlichen Nacken. Plump und mit dicken Hautfalten, wie bei einem Ochsen. Wang zum Beispiel.

Fortunes Nacken war kräftig und doch schlank. Mein Gesicht war keine Handbreit davon entfernt, und ich wollte meinen Mund in diesen Nacken drücken. Den Duft seiner Haut atmen.

Ich hielt inne, eine plötzliche Unsicherheit in den Fingern.

»Ist nicht schlimm, wenn du mich aus Versehen schneidest.«

»Ich schneide niemanden aus Versehen«, gab ich barsch zurück. »Wenn, dann mit voller Absicht.«

Ich säuberte die Klinge und spülte seine Kopfhaut mit einer Handvoll Wasser nach der anderen ab, rieb ihn mit dem Tuch um seine Schultern trocken.

Das Pferdehaar, gewaschen und getrocknet, hatte ich geteilt. Es war zu viel für einen Mann, vielleicht würde er die andere Hälfte später noch brauchen, sollte er den Zopf einmal verlieren.

Ich verflocht die Enden, die ich teils mit Zwirn umwickelt hatte, mit seinen eigenen Haaren und vernähte Männerhaar mit Pferdeschweif, so gut ich konnte.

Meine Finger glitten zwischen die langen Strähnen, begannen sie zu flechten. Ein schöner, dicker Zopf war es, um den ihn viele Mädchen beneidet hätten.

Den bestimmt viele Frauen anziehend fanden.

Meine Hände erstarrten in der Bewegung.

Fortune, der glaubte, ich sei fertig, wollte aufstehen.

»Noch nicht«, fuhr ich ihn an und hielt ihn an der Schulter zurück.

Sein Hemd war feucht. Ich konnte den harten Muskelstrang der Schulter unter meiner Hand fühlen und eine Ahnung von Haut, die unter meiner Hand glühte. Wie mein Gesicht zu glühen begann, als ich den Wunsch verspürte, meine Hand unter den Kragen gleiten zu lassen, über die Haut darunter zu streichen.

Ich begriff, warum ich mich schuldig fühlte, seit ich den Glaskasten beschädigt hatte. Warum mein Herz einen Sprung gemacht hatte, als er erklärte, er werde länger in China bleiben.

Warum es wie ein Schlag vor die Brust gewesen war, von seiner Frau zu hören.

Nur mit Mühe löste ich meine Hand von seiner Schulter, setzte mein Werk mit unsteten Fingern fort. Ich umwickelte das Ende des Zopfes mit dem Rest Zwirn und ließ die Hände sinken.

»Fertig?«

»Ja.«

Er erhob sich und fuhr prüfend über die kahle Hälfte seines Kopfes. Über das übriggebliebene Haar und den Zopf, drehte sich dann um.

Ein Fremder stand vor mir.

Hart wirkte sein Gesicht mit dem langen Kinn, einer Ahnung von kräftigen Wangenknochen. Die beiden Falze über den Mundwinkeln verliehen ihm etwas Strenges, das einen misstrauisch werden ließ, was seine geschwungenen Lippen als Nächstes formulieren würden.

Von einer seltsamen, fremdartigen Schönheit war er.

Aus einer Welt, die man nur aus Geschichten kannte, aus alten Liedern: vom Himmelssee oder dem Berg der Fünf Finger Buddhas. Aus dem endlosen Meer aus Sand oder von den bunten Feldern von Dongchuan, die sich auf den Hügeln stapelten wie aufeinandergelegte Scheiben leuchtender Edelsteine.

Ein Fremder, der Fortune war und doch ein anderer Mann. Eine verwirrende Erscheinung, weil ich diese Veränderung ebenso bedauerte wie mich sein Anblick – teils chinesisch, teils englisch, teils vertraut, teils neu und fremd – betörte.

Der durchdringende Blick seiner schmalen, schrägen Augen flackerte, ließ den alten Fortune hervorblitzen.

»Nicht gut?«

Ich schlug die Augen nieder und griff nach der Schüssel.

»Wie ein Mongole.«

Draußen stellte ich die geleerte Schüssel ab und stützte mich auf den Rand des Brunnens.

Schwach war ich auf den Beinen, unruhig im Herzen.

Ich hatte nicht geglaubt, jemals wieder so etwas zu empfinden. Nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet.

Nicht nach Yun.

Ein grenzenloses Staunen füllte mich aus, über das, was mit mir passiert war, irgendwann in den letzten Wochen, den vergangenen Monaten. Eine fast vergessene Art von Glück. Durchfärbt mit den Schattierungen von Traurigkeit, einem Gefühl von Vergeblichkeit.

Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte.

Aus der Ferne sah ich Wang heranwatscheln, ein Huhn am schlaffen Hals in der Hand schlenkernd.

Ich winkte ihm zu, winkte ihn dann zu mir heran.

»Wie ist Fu-Chung als Chinamann?«, begrüßte er mich mit einem breiten Grinsen, mit einem Blick zum Haus hin. »Gut?«

Ich packte Wang beim Ärmel und zog ihn in den Schatten hinter der Hausecke.

Sein Grinsen vertiefte sich, bekam etwas Anzügliches. »Aber, Lian … Gleich so stürmisch?«

Ich versetzte ihm einen Schlag auf die Schulter, den er mit einem gekränkten Gesichtsausdruck quittierte.

»Wann brecht ihr nach Putuoshan auf?«

Östlich von Zhoushan gelegen, nur ein paar Stunden mit dem Boot davon entfernt, war Putuoshan eine Insel der Tempel und Mönche. Einer der vier Heiligen Berge Buddhas, und der einzige, der für mich als Frau verboten war.

»Sobald ich weiß, ob diese Tarnung etwas taugt. Ob Fu-Chung sich glaubhaft als Mann von der Großen Mauer ausgeben kann. In den nächsten Tagen, nehme ich an.«

Ein großer Teil seiner Lächerlichkeit fiel von ihm ab, sobald er in unsere gemeinsame Sprache überwechselte und in ganzen Sätzen sprach. Als hätte er sich dazu noch eine Maske vom Gesicht gerissen, wirkten seine Züge auch gleich weniger grotesk.

Ich zögerte ein, zwei Herzschläge lang. Obwohl ich meine Wahl doch bereits getroffen hatte.

»Wenn ihr danach zurückkommt, werde ich nicht mehr hier sein.«

Wangs Brauen schnellten nach oben. »Du kommst nicht mit nach Anhui? Ich habe es vielleicht nicht eigens erwähnt … aber du kannst gerne mitkommen. Du bist im Heim meiner Familie ebenso willkommen wie Fu-Chung.«

Als ich den Kopf schüttelte, blitzte es in seinen Augen auf.

»Haben sie ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt – damals in Anhui?«

Ich wusste nicht, wann ich in Wangs Gegenwart offenbar in den Zungenschlag meiner Kindheit zurückgefallen war; es überraschte mich, dass es ihm aufgefallen war.

»Nein.«

»Du wirst dich aber von Fu-Chung verabschieden.«

»Auch das nicht.«

Er sah zum Haus hin und verzog das Gesicht. »Das wird Fu-Chung aber ganz und gar nicht gefallen … Was soll ich ihm denn sagen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich ehrlich.

Wangs Augen richteten sich auf mich, still und mit einer unvermuteten Tiefe. Als ob er begriff.

Trotzig hielt ich seinem Blick stand. Bereit, ihm sofort über den Mund zu fahren, sollte ihm eine derbe Bemerkung dazu einfallen oder ein dummer Scherz.

Er blieb stumm, ein Schimmern in den Augen, das mitfühlend wirkte, beinahe weich.

Möglich, dass ich mich in ihm getäuscht hatte. Vielleicht war er von wacherem Geist, schärferem Verstand als gedacht, wohl verborgen hinter seiner zur Schau gestellten Trotteligkeit, seiner halsstarrigen Überheblichkeit.

Seine eigene listige Tarnung. Sein Schwert, um sich durch dieses Leben zu kämpfen.

»Wohin wirst du gehen?«

Ich blinzelte in den Himmel, zuckte mit den Schultern.

»Falls du es dir anders überlegst …«

»Werde ich nicht.«

Er kniff ein Auge zusammen, sah mich schelmisch mit dem anderen an.

»In Jiangnan. Keine zwei li vom Sungloshan entfernt. Vergiss das nicht. – Dann schaue ich mir mal meinen neuen Herrn an.«

Noch auf der Schwelle stieß er einen Schrei des Entzückens aus.

Vielleicht war es Absicht, vielleicht eine Nachlässigkeit, dass er die Tür aufließ und ich das Geschnatter in Pidgin hören konnte, mit dem er Fortune überschüttete.

Braucht neuer Name, für neuen Fu-Chung. Besserer Name. Muss sein wie … Ah, Wang hat! Herr muss Xinghua heißen!

Sing … wah, versuchte Fortune ihn nachzuahmen.

Leuchtende Blume.

Ich schüttelte den Kopf und lächelte in mich hinein.

»Xingyun«, murmelte ich, ein wehes Gefühl im Herzen.

Glück.

Wind kam auf, wie so oft hier draußen, gegen Abend.

Ich hielt das Gesicht in diesen Wind, der nach der Weite der Reisfelder roch und nach dem Stein der Berge. Nach Freiheit und Einsamkeit roch er und kitzelte verlangend in meinem Bauch.

Ich war viel zu lange geblieben.

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