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Noch vor einigen Monaten hätte Fortune es dabei bewenden lassen.
Zwischen den Extremen Chinas jedoch waren Fragen in ihm aufgekeimt, hatten neue Gedanken ausgetrieben und manchen Zweifel an dem, was er stets für unverrückbar gehalten hatte, ausgesät.
In den Gärten, die er besucht hatte, die in ihrer Gestaltung einem hochentwickelten Sinn für Ästhetik folgten. Wo man aus dem lebendigen Material der Natur komplexe Kunstwerke schuf, die von einer langen Tradition zeugten.
Kleine Inseln vollkommener, von Menschenhand geformter Ordnung waren es, in diesem Land, das sich weiter und weiter vor Fortunes innerem Auge ausdehnte, je länger er sich darin aufhielt. Mal rauer als die Landschaften, die er von zu Hause kannte und erbarmungsloser, mal üppiger, von einer überbordenden, ungehemmten Fruchtbarkeit. Zu groß, zu wild schien ihm dieses Land, als dass es je gänzlich dem Menschen untertan sein könnte.
Und doch war China nur ein farbiger Klecks unter vielen anderen farbigen Klecksen auf dem gesamten Globus.
Als hätte er auf der britischen Insel die Natur immer nur durch die bleigefasste Scheibe eines Treibhauses wahrgenommen. Während er sie hier ungefiltert und überwältigend intensiv erlebte, in ihrer ganzen großartigen Urwüchsigkeit. Und gleichzeitig hatte er mit eigenen Augen gesehen, zu welcher Kunstfertigkeit der menschliche Erfindungsreichtum und die Arbeit geduldiger Hände fähig waren.
Der Geist schien in China einen besonderen Sinn für Schönheit zu besitzen, schwang sich zu künstlerischen Höhenflügen auf, neben denen sich der englische Geschmack plump und provinziell ausnahm. Und doch beließ derselbe menschliche Geist den größten Teil des Landes in barbarischen und unbarmherzigen Verhältnissen, in einer geradezu mittelalterlichen Lebensweise.
»Mein Glaube«, begann er langsam, seine Gedanken in Worte zu fassen, »die Kirche, der ich angehöre … Sie lehrt uns, dass der Herr im Himmel die Welt erschaffen hat und alles, was darin ist. Jedes Tier, jede Pflanze, jeden Stein. Überall auf dieser Welt. Nicht zuletzt den Menschen selbst. Als Besitzer dieser Welt, der über die Natur herrscht.«
»Glaubst du das nicht?«, wollte Lian wissen.
Als hätte sie die Unsicherheit gespürt, die sich bei ihm eingeschlichen hatte.
Er wünschte sich, er hätte auf diese Reise seine Bücher mitnehmen können, wenigstens eine Bibel. Um darin nachzulesen, was ihm durch den Kopf ging, gedanklichen Halt zu finden, Zweifel zu zerstreuen.
»Jeder Gärtner, jeder Bauer weiß, das ist nicht so einfach. Man kann nur versuchen, die Pflanzen zu züchten, die man haben will. Manchmal gelingt es, manchmal nicht. Man braucht einen langen Atem, weil man zuweilen erst nach Jahrzehnten das Ergebnis sieht. Und Pflanzen hängen vom Wetter ab, das niemand zähmen kann. Niemand kann Regen und Sonne und Wind seinen Willen aufzwingen. Den Elementen werden wir Menschen wohl immer ausgeliefert sein.«
So klein waren die Menschen, die in den Weiten dieser Welt lebten; so klein ihre Bemühungen, auf Feldern und Weiden der Erde das abzutrotzen, was sie nährte.
»Aber woran glaubst du?«
Glaube und Wissenschaft waren für Fortune nie im Widerspruch gestanden; die Botanik hatte sich längst von der Kirche emanzipiert, ohne mit ihr in Konflikt zu geraten.
Kein Gärtner fürchtete mehr den Zorn Gottes wie seinerzeit noch Thomas Fairchild, als er im vorangegangenen Jahrhundert mit einer Feder den Pollen einer Bartnelke auf eine Gartennelke übertrug und aus den Samen im nächsten Frühjahr eine neue Nelkenart wuchs: Fairchilds Maultier, die erste Hybride von Menschenhand. Ein Akt der Blasphemie, aus reiner Neugierde begangen, der Fairchilds Gewissen bis ans Ende seines Lebens gemartert hatte.
Trotzdem beschäftigte Fortune hier in China die Frage nach dem Ursprung der Pflanzenarten, nach ihrer Entwicklung im Lauf der Zeit. Inwieweit Boden und Klima nicht nur ihr Wachstum beeinflussten, sondern vielleicht auch ihre Gestalt und Lebensweise. Ob es zwischen den Pflanzen an weit entfernten Punkten auf dem Globus Verbindungen gab, die zu weit zurückreichten, als dass der Mensch davon wissen konnte, oder vielleicht noch zu sehr im Verborgenen lagen.
Gedanken, die nicht zu der Vorstellung passten, der allmächtige Mensch wäre die alleinige Triebfeder für jede Veränderung, jeden Fortschritt. Auch in der Natur, in der alles in absoluter Vollkommenheit erschaffen worden und seither unverändert geblieben war, Unterschiede und Gemeinsamkeiten allein dem Zufall zugeschrieben wurden.
Er seufzte.
»Ich bin kein Priester. Kein Philosoph. Noch nicht einmal ein Gelehrter, der sich mit dem Wesen der Dinge beschäftigt. Nur ein einfacher Gärtner. Und ich glaube an die Ordnung. An die Muster, die sichtbar werden, wenn wir alles, was uns in der Natur begegnet, in einem System ordnen. Die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten, die sich dann erkennen lassen, helfen uns vielleicht, manches zu verstehen. Über die Pflanzen, die immer und überall da sind und doch so wenige Spuren hinterlassen.«
Er senkte den Kopf.
»Ich schätze, das ist meine Art, zu glauben. An eine göttliche Ordnung. An einen Plan des Schöpfers für diese Welt.«
»Also glaubst du an Schicksal?«
»Schicksal? Nein. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich glaube daran, dass nichts in der Natur zufällig ist. In der Natur hat alles seinen Sinn. Immer. Daran glaube ich felsenfest.«
Gedankenverloren wühlte er mit den Händen in der Erde, zerkrümelte zwischen den Fingern Erdklümpchen, klaubte trockene Ästchen und Steine heraus.
»Wir glauben, dass zu Beginn Himmel und Erde eins waren«, hörte er Lian leise sagen. »Alles war ein schwarzes Chaos, in der Form eines riesigen Eis. Pangu, der Riese, schlief darin seinen ewigen Schlaf, und als er erwachte, glaubte er in diesem Ei zu ersticken. Er reckte sich und zerbrach es.«
Fortune unterbrach sein Tun, um ihr zuzuhören. Um die Worte, die er nicht kannte, aus Lians Mimik zu entschlüsseln, aus ihren Gesten.
Vom Strudel der Elemente erzählte sie, aus dem alles Lichte, Helle, nach oben stieg und den Himmel formte, während alles Schwere, Dunkle, nach unten sank und die Erde schuf. Wie Pangu den Himmel stützte und dabei wuchs, der Himmel sich ausdehnte, höher und höher, die Erde sich verdichtete, tiefer und tiefer. Als Pangus Kräfte erschöpft waren, starb er. Sein Atem formte sich zu Wind und Wolken, seine Stimme zu Donnerschlägen. Sein linkes Auge verwandelte sich in die Sonne, sein rechtes in den Mond. Aus Armen und Beinen wurden die Himmelsrichtungen und die heiligen Berge, sein Blut und seine Tränen zu Bächen und Flüssen, aus den Haaren seines Körpers wuchsen die Bäume und alle andere Pflanzen.
Fortune starrte vor sich hin, Lians Stimme noch in seinem Kopf, während sie für seine Ohren bereits verklungen war.
Zähne und Knochen eines märchenhaften Riesen als Metall und Fels der Erde. Sein Mark als Perlen und Jade, Schweiß als Regen, Haar und Bart als Sterne – diese Vorstellung einer Natur, die in ihrer Gesamtheit einem ganzen Organismus entsprach, gefiel ihm. Es entsprach seinem eigenen Verständnis der Welt, seinem Sinn für Ordnung.
Ja, es gefiel ihm.
Er nickte vor sich hin, wie zustimmend, und beugte sich dann wieder über sein Wardian Case.