72

Ungewohnt schweigsam stand Wang neben ihm an Deck.

Vielleicht, weil er ebenso ergriffen war von der hoheitsvollen Schönheit, die der Yangtsekiang Tag für Tag vor ihnen ausbreitete, stets neu, immer zeitlos. Vielleicht aber auch, weil ihm hier bewusst wurde, dass er seine Heimat einige Zeit nicht wiedersehen würde.

»Du vergisst mich doch nicht«, sagte Wang nach einiger Zeit, erstaunlich leise, erstaunlich kleinlaut, »wenn du wieder im Land der Barbaren bist?«

Fortune kniff die Augen zusammen, während sein Blick einem Delfin folgte, der zwischen den Wellen aufglänzte und dann wieder abtauchte.

»Als ob ich jemanden wie dich jemals vergessen könnte.« Ruppig ausgesprochen, verströmten seine Worte doch eine gewisse Wärme.

Wang gab sein meckerndes Lachen von sich, und auch um Fortunes Mund zuckte es.

»Du erzählst immer noch nichts von den Bergen von Huang. Von Lian.«

Wie ein scharfer Schnitt fuhr es durch Fortune hindurch, nahm ihm die Luft zum Atmen; so musste sich ein Schwerthieb anfühlen, der einen hinterrücks traf. Es war eine Sache, an sie zu denken; eine andere, ihren Namen ausgesprochen zu hören.

Getrennte Wege, das war seine schlichte Antwort auf die Fragen im Hause Wang gewesen, bei seiner Rückkehr. Die Wahrheit. Und doch fehlte darin alles, was diese Wahrheit ausmachte.

»Nein.«

Wang seufzte tief auf.

»Vielleicht führt dich die nächste Reise nach Indien? Indien hat die schönsten Mädchen der ganzen Welt.«

Fortune warf ihm einen zweifelnden Blick zu. »Woher willst du das wissen? Du warst doch noch nie dort.«

Wangs Brauen hoben sich. »Aber, Fu-Chung. Das weiß doch jeder!«

Die Nacht hatte sich über den Yangtsekiang gesenkt. Die Laternen der Schiffe, die über den Fluss dahinglitten, glommen in der Finsternis wie Glühwürmchen.

Fortune hatte sich einmal mehr davon überzeugt, dass die Kisten mit den Pflanzen an Deck unversehrt und ausreichend gesichert waren. Obwohl der tung-chia zum wiederholten Mal beteuert hatte, dass kein Sturm in der Luft lag.

Er war unruhig, seit sie vor ein paar Tagen an Nanjing vorbeigesegelt waren, diese Stadt hatte ihn aufgewühlt. Nicht allein, weil sie noch einmal die Wunder dieses Teils der Welt vor ihm ausgebreitet hatte, wie ihre gewaltige Festungsmauer und die Pagode aus Porzellan, die im Licht der Sonne glänzte.

Bis nach Nanjing waren britische Truppen im Krieg vorgedrungen und hatten die Stadt besetzt. Hier war der Vertrag unterzeichnet worden, der dem Westen eine Tür in das bisher verschlossene Reich der Mitte geöffnet hatte. Diese Tür, durch die Fortune eingetreten war und sich dann weiter und weiter in dieses Land hineingewagt hatte. Von Nanjing aus war es nicht mehr allzu weit nach Shanghai, keine zweihundert Meilen mehr – ab hier folgte er wieder den Fußstapfen, die seine Landsleute hinterlassen hatten.

Im Lampenschein der engen Kabine kniete Fortune vor den Paketen mit Saatgut und überprüfte erneut, ob das gewachste Papier auch gewiss keine Feuchtigkeit abbekommen hatte.

»Das war ein feiner Zug von dir«, hörte er Wang behutsam sagen. »Mit den Pflanzen.«

Fortune blinzelte; seltsam, dass Wang es erst jetzt erwähnte, nach der langen Fahrt auf dem Ochsenkarren, nach den vielen Tagen hier auf dem Fluss.

Seine Hand strich über das Wachspapier.

Tränen waren in den Augen von Vater Wang gestanden, als er ihm unter vier Augen ein gutes Dutzend Setzlinge und ein Päckchen mit Saatgut aus Ling Chuan Yuan überreicht hatte. Sein Abschiedsgeschenk. Sein Dank für die Gastfreundschaft, die er in diesem Haus erfahren hatte.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, wehrte er schroff ab.

»Ich habe sie gesehen, Fu-Chung«, blieb Wang beharrlich, einen Ton diebisch vergnügter Listigkeit in der Stimme. »Auf unserem Feld. Sie sehen anders aus als die Teepflanzen in der Gegend.«

Fortune zuckte mit den Schultern und zwängte sich in die enge Koje.

»Danke, Fu-Chung«, flüsterte Wang, unvermutet weich, fast bewegt. »Mein Vater wird sie hegen wie seine eigenen Kinder. Sie werden das Schicksal unserer Familie zum Guten wenden.«

Als Fortune stumm blieb, verfiel auch Wang in Schweigen.

Eine Zeit lang war es still; noch stiller im sanften Glucksen des Flusswassers an den Rumpf der Dschunke.

Gebrüll schreckte sie auf und Polterschläge an Deck, die sich bis in den Leib der Dschunke fortpflanzten.

»hai dao!«, schrie Wang, sprang aus der Koje und stürzte aus der Kabine. »hai dao!«

Fortunes Herzschlag geriet ins Stolpern, galoppierte dann an, bis in seine Kehle hinauf.

Wang stürmte wieder herein und warf ein dunkles Stoffbündel in Fortunes Schoß. Mit zitternden Händen zog er es auseinander: ein Hemd und eine Hose, löchrig und dreckverschmiert.

»Zieh an, schnell! Wenn wir aussehen wie Bettler, lassen sie vielleicht Gnade walten.«

Dies konnte nicht wahr sein. Ein Albtraum war es. Es musste ein Albtraum sein; es war zu bizarr, zu absurd, um wirklich zu sein.

Fortune schleuderte die Lumpen von sich, suchte mechanisch eines seiner englischen Hemden hervor, stieg in seine alten Hosen, seine groben Stiefel, stopfte sich die Taschen mit Patronen voll.

Weich fühlten sich seine Eingeweide an, seine Knie hingegen steif, als er durch den Laderaum ging. Bei fast jedem Schritt traf ihn ein Ellbogen, die Ecke einer Kiste, rannte jemand in ihn hinein: In größter Hast versuchten die Seeleute alles an Hab und Gut irgendwo zu verstecken, kleinere Güter unter losen Planken zu verbergen.

Fortune packte die Flinte fester und stieg an Deck.

In den ätzenden Gestank von Pulverqualm, mitten in das vielstimmige Kreischen, das vom Fluss herüberschrillte. In das gespenstische Zwielicht, in dem er nur graue Schemen ausmachen konnte: Seeleute, die durcheinander rannten und dem Dämonengeheul auf dem Fluss etwas entgegenschleuderten, das aussah wie Steine.

Die scharfen Schläge von Schüssen zerrissen die Nacht, hallten von den Berghängen wider. Fortune duckte sich, als etwas über seinen Kopf hinwegjaulte, irgendwo hinter ihm krachend einschlug.

»Runter mit euch!«, brüllte er. »Runter! Hinlegen! Auf den Boden!«

Die Decksplanken bebten unter ihm, als sich ein Seemann nach dem anderen hinwarf.

Fortune verwünschte seine zitternden Muskeln, die ihm nur widerwillig gehorchten, während er tief gebückt vorwärtskroch, sich an der Reling schließlich auf die Knie fallen ließ.

Über den Lauf der Flinte hinweg spähte er in die Nacht, die neblig war vom Pulverqualm und den Laternenschein der Dschunke zu einem fahlen Lichthauch zerstreute. Außer den Funkenschlägen irgendwo dort draußen, in der Finsternis, war nichts zu erkennen.

Es war sinnlos. Er konnte weder die Entfernung einschätzen noch ein Ziel ins Auge fassen.

Sein Glück, sein unverschämtes, immer zuverlässiges Glück war aufgebraucht. Jetzt, kurz vor dem Ende dieser langen, unwägbaren Reise. Er würde sterben, heute Nacht noch, hier auf dem Yangtsekiang. Spätestens, wenn ihn die hai dao in die Finger bekamen.

Ein Rucken, fast ein Stoß, jagte durch ihn hindurch, aufbegehrend und wie zornig. Als ob Lian hinter ihm stünde, gegen seine Schulter boxte, ihn anherrschte und antrieb.

Er legte die Flinte an und zielte wahllos zwischen die Feuerfunken, drückte ab und dann gleich ein zweites Mal.

Nur entfernt nahm er den Schmerz in der Schulter wahr, und wie die Dämonenschreie auf der anderen Seite ins Grelle kippten, sich überschlugen. Kalt und klar war sein Kopf, wie Kristall, während er nachlud und feuerte. Nachladen und feuern. Nachladen und feuern. Eine schier endlose Schleife zunehmend routinierter Bewegungen, ohne nachzudenken, ohne etwas zu empfinden, seine Adern wie von Eis durchzogen.

»Sie drehen ab!«

»Bei allen Göttern – sie drehen ab!«

Etwas warf sich von hinten auf Fortune, sodass er schmerzhaft mit dem Kinn gegen die Reling schlug; jemand hieb ihm auf den Rücken, quetschte ihm die Schultern, schüttelte ihn.

»Du bist ein Held! Er ist ein Held! Er da – mein Herr! Mein Herr ist ein Held! Mein Herr ist das!«

Erst später setzte der Schock ein.

Nachdem der tung-chia und seine Männer die Flinte priesen wie einen geheiligten Gegenstand. Sie unter Hochrufen einen Reisschnaps nach dem anderen auf Xinghua tranken und Fortune nichts anderes übrigblieb, als mitzutrinken; dieses Gebräu, das so scharf war, dass allein schon sein Dunst die Augen tränen ließ.

Viel später, nachdem er in schlingerndem Gang und Arm in Arm mit Wang in die Kabine zurückkehrte und sich mehr schlecht als recht in die Koje bugsierte. Als der Rausch nachgelassen hatte, von Schnaps und Pulverdampf, von Anspannung und Erlösung und unter dem abebbenden Pochen in Schulter und Kinn. Der Rausch, von der dunklen Schwinge des Todes gestreift und gerade noch unter ihr hindurchgetaucht zu sein.

Der Schock kam in der Stunde, in der die Nacht am dunkelsten ist, und wie ein Fieber packte er ihn, mit kaltem Schweiß und Zittern.

Schwärze umschlang ihn und zog ihn in ihre Tiefe hinab. Bis auf den Grund hinunter, in Nebelwelten hinein, die ihm fremd und doch seltsam vertraut waren. Diese farbenprächtigen Blütenfelder, deren Duft er trinken konnte wie schweren, süßen Wein und der ihn mit einem quälenden Durst zurückließ. Dieser Fluss, durch den es ihn trieb, gegen seinen Willen; unfähig, zurückzurudern, das rettende Ufer zu erreichen, kämpfte er verzweifelt darum, nicht darin unterzugehen. In diesem Gefühl eines unerfüllbaren Sehnens, eines unwiederbringlichen Verlusts.

Als hätte er jenen Lastkahn niemals verlassen. Damals, im Südchinesischen Meer, irgendwo zwischen Hongkong und Amoy.

Zwischen zwei Leben schwebte er, in dieser Koje, dieser Nacht. Zwischen zwei Welten.

Jenseits von Gestern, Heute und Morgen, in einem Moment der Unendlichkeit.

Irgendwo zwischen Wirklichkeit und Traum.

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