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Montag, 12. Februar 1844

Viel Regen, aber mild. Maximum: 65 Grad Fahrenheit. Minimum: sogar noch 54!

Allein schon um der Kälte Shanghais zu entfliehen, hat sich die weite Reise nach Canton (chin. Guangzhou) gelohnt. Mein kurzer Abstecher unterwegs hat mich insofern beruhigt, dass ich in Zhoushan/Chusan unterdessen nichts verpasse. Auch dort fährt der Wind noch schneidend über die kahlen Hügel, auf denen weit und breit kein Frühling in Sicht ist.

Die 800 Meilen zwischen Shanghai und Canton bedeuten nicht nur einen Wechsel in eine angenehmere Klimazone. Soweit ich das nach den zwei Tagen hier beurteilen kann, scheint mir Canton offener und freundlicher zu sein. Und das nicht nur, weil die Bewohner gerade ihre Stadt kisten- und körbeweise mit Blumen für das bevorstehende Neujahrsfest füllen.

Ich hoffe, es gelingt mir, morgen Zutritt zu einem der berühmten Gärten hier zu erhalten.

AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE

Wang warf die Hände in die Luft.

»hai-yah! Eine Frau, Fu-Chung! Eine Frau!«

Fortune fing das Grinsen des chinesischen Fährmanns auf, der sie flussaufwärts ruderte, und unterdrückte ein Seufzen.

So ging es, seitdem er Lian am Abend jenes Januartages in die Herberge mitgebracht hatte. Während er in der Kammer dort seine Siebensachen zusammenpackte und die Zeche beglich. Über die ganzen achthundert Meilen, die sie auf einem Lastkahn voller Baumwolle zurücklegten; er dankte dem Himmel, dass ein günstiger Wind sie wesentlich schneller in den Süden schleuste als im vergangenen Jahr, auf dem umgekehrten Weg von Shenhu nach Zhoushan hinauf. Sogar die sonst tückischen Schwarzen Wasser von Formosa hatten dieses Mal Milde walten lassen.

Auch nach der Ankunft in Canton gab Wang keine Ruhe und stimmte stets aufs Neue seine Klage an. Sogar jetzt noch, während sie in einem Boot über den Fluss schaukelten: eine der unzähligen Verästelungen, mit denen der Perlfluss die Küste überzog wie Venen die Hand eines alten Mannes. Wangs Empörung schien genauso unerschöpflich wie die Wasser des Flussdeltas um Canton.

»Eine jianghu! Eine Gesetzlose!«

Fortune fühlte sich an die Waschweiber von Edrom erinnert, die immer etwas fanden, über das sie sich die Mäuler zerreißen konnten.

»Sie hat ein Schwert und kann damit umgehen«, erklärte er, nicht zum ersten Mal.

Er warf einen Blick zu Lian hinüber, die sich halb abgewandt hatte, die Arme auf dem Rand des Bootes verschränkt. Die auf sie gemünzten Spitzen Wangs schienen einfach an ihr abzuprallen, während sie mit ihren Blicken die Kähne voller knospender Äste von Pfirsich und Pflaume verfolgte, die ihnen entgegenkamen.

»Wang auch gut mit Schwert!«, versicherte Wang mit treuherzigem Blick. »Fu-Chung muss nur eines kaufen gehen!«

Der schnelle Seitenblick, den Lian Wang zuwarf, die Art, wie sie dabei die Mundwinkel spöttisch anspannte, sprachen Bände. Einsilbig war sie geworden, gleich bei ihrem allerersten Zusammentreffen mit Wang. Wie eine Muschel, die sich einen Spalt breit geöffnet hatte, um dann wieder zuzuschnappen.

Es gab Momente, in denen Fortune glaubte, sie würde es sich doch wieder anders überlegen. Noch aber blieb sie. So still und in sich zurückgezogen, dass es sie oft beinahe unsichtbar machte, selbst wenn sie sich unmittelbar in seiner Nähe befand. Immer wieder musste er sich mit Blicken Gewissheit verschaffen, dass sie noch da war.

»Eine jianghu zieht Fu-Chung Wang vor! Hat Wang nicht immer alles getan für Fu-Chung? Für Gutgehen und Leib und Leben?«

Er klang wirklich wie ein sprichwörtliches Waschweib. Zu gern hätte er Wang an den Vorfall unter der Pagode von Shenhu erinnert, als der das Weite gesucht hatte. Allerdings hatte er in jener Shanghaier Gasse am eigenen Leib erfahren, dass auch er nicht gerade aus Heldenmaterial geschnitzt war.

»Ich ziehe sie dir nicht vor«, murmelte er, halb abgelenkt von einem Kahn mit Kamelien und Enkianthus quinqueflorus, den wächsernen Prachtglocken in Weiß und Pink.

»Warum Fu-Chung nicht gesagt, dass nicht zufrieden? Wenn entlassen aus Dienst, Wang nicht weiß, wie Frau und Kinder satt kriegen!«

Verblüfft starrte Fortune ihn an. Nichts an Wangs Äußerungen oder seinem Verhalten hatte ihn bisher vermuten lassen, dass er einen Ehemann und Vater vor sich hatte.

»Wie viele Kinder hast du denn?«

»Viele!«

»Wie viele genau? Zwei? Drei?« Er zögerte. »Fünf?«

Wang öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Mehrmals.

»Bald«, gab er schließlich kleinlaut zur Antwort, mit einem Anflug von Trotz. »Mit Geld von Fu-Chung kann endlich heiraten. Kinder satt

bekommen. Viele Söhne! Vielleicht einmal sogar zweite Frau!«

Ein kleines Geräusch, auf halbem Weg zwischen einem Glucksen und einem Prusten, kam von Lians Seite des Bootes; vielleicht war es auch nur eine Welle gewesen, die von außen gegen den Rumpf schlug.

Erneut unterdrückte Fortune ein Seufzen.

»Ein knappes Jahr war ausgemacht, Wang. Zehn Monate, ab September. Bis ich im Juli wieder das Land verlasse. Ich halte mein Wort.«

Das Strahlen auf Wangs Gesicht wetteiferte mit den gelben Nebenkronen der Narzissen, die in einem Boot an ihnen vorbeizogen. Doch Fortunes Hoffnung, er würde es damit endlich gut sein lassen, erfüllte sich nicht.

»Aber eine Frau, Fu-Chung! Was denken Leute, wenn Frau Fu-Chung Schutz gibt und nicht Wang? hai-yah! Wang Gesicht verloren!«

Fortunes äußerst langer Geduldsfaden war an seinem Ende angelangt.

»Genug jetzt!«

Er fuhr hoch, hatte für den Moment jedoch vergessen, dass er in einer Nussschale von Boot saß, die sogleich ins Schlingern geriet. Noch bevor er den warnenden Ruf des Fährmanns hörte, ließ er sich wieder zurückfallen, was das Boot noch kräftiger ausschlagen und gefährlich krängen ließ.

Die Verärgerung über seine Unbedachtheit entlud sich über Wang.

»Ich habe hier das Sagen. Ich – und nicht du! Lian kommt mit, ob dir das gefällt oder nicht!«

Während er sich mit einer Hand am Rand des Bootes festklammerte, stieß er mit dem hochgereckten Zeigefinger der anderen Hand in die Luft vor Wangs Gesicht.

»Und jetzt will ich nichts mehr davon hören. Kein einziges Wort!«

Wang starrte ihn an, ebenso ungläubig wie vorwurfsvoll. Dann sog er Luft in die Nase, überkreuzte die Arme und wandte sich ab.

Fortune atmete tief durch.

Sein Blick kreuzte sich mit dem Lians. Sie lächelte. Ein kleines, kaum sichtbares Lächeln. So still und zurückhaltend, wie sie selbst in den letzten Wochen gewesen war. Nichtsdestoweniger eines, das auf ihn übersprang. Rasch wandte er sich ab und konzentrierte sich auf eine Ladung Hahnenkämme, die an ihm vorübertrieb. Üppige Blütenköpfe, die den Windungen des Gehirns ähnelten. Wie Meeresschwämme, vom dunklen Grund eines Ozeans heraufgeholt, die mit ihren Feuerfarben erstaunten.

Canton schien wirklich die Stadt der Blumen zu sein.

Rosen. Kamelien. Orangenbäume.

Fortune wanderte durch den groß angelegten Garten, geschätzte drei Meilen außerhalb der Stadt. Zwischen allen erdenklichen Arten von Azaleen hindurch, mit Blüten wie zerknitterte Seide. Azalea indica alba, lateritia, variegata – in einer solchen Mannigfaltigkeit, einer Sattheit, dass sich die vielbeachtete Ausstellung der Horticultural Society in Chiswick vor zwei Jahren kümmerlich dagegen ausnahm.

Hier schien es von allem mehr zu geben. Mehr als überall sonst.

Strauchpäonien in Abstufungen von Rosa und Pink. Fast durchscheinend weiß. In der Farbe von Aprikosen. Korallenrosa und purpurdunkel, die Blüten manchmal so groß wie Kinderköpfe.

Ein Meer aus Blüten, Farbe und Duft, durch das Fortune sich treiben ließ.

Der Pfirsichduft von Olea fragrans. Das Bananenaroma von Magnolia fuscata. Der fein-süße Geruch von Aglaia odorata und der tropischschwüle von Murraya exotica.

Düfte, die manchmal nur als Hauch in der Luft lagen, dann wieder reich die Lungen füllten, aber niemals erschlugen. Ein Fest für alle Sinne.

Ausgiebig bewunderte er die Zwergenbäumchen. Besonders die Mandarinorange, die überproportional große Früchte an ihren Ästchen trug, wie goldene Kugeln aus einem Märchen.

Lange blieb er vor der Fingerzitrone stehen und badete in ihrem kräftigen, frischen Duft. Ihre Früchte sahen wirklich wie Hände aus, mal mit geziert geöffneten, mal mit geschlossenen schlanken Fingern. Wie die Hände der Buddhastatuen in Ning-po.

»Und, Fu-Chung – hat Wang zu viel versprochen?«

Auch ohne hinzusehen, wusste Fortune um das triumphierende Grinsen auf Wangs Gesicht; er konnte es aus seiner Stimme heraushören.

Er schüttelte den Kopf. Gewiss, in diesem Garten war an Blumenarten nichts ausgestellt, wovon man in England nicht schon wusste, zumindest einmal davon gehört hatte. Dennoch war hier eine Vielfalt und Fülle ausgebreitet, eine Pracht und Schönheit versammelt, wie es sie in der gesamten westlichen Hemisphäre nirgendwo gab.

Dieser Garten trug sein Namen zu Recht: Land der Blumen.

Vor allem die Chrysanthemen faszinierten ihn.

Sternförmig oder wie ein Pompon. Einer Anemone ähnlich oder dem Maßliebchen. Mal von verschwenderischer Sattheit, dann wieder mit filigran gekräuselten Zungen. In Form geschnitten, als Fächer oder in Kaskaden und in allen Farben des Regenbogens.

Eine Blume, für die man in China offenbar nicht nur eine besondere Vorliebe hegte, sondern auch ein besonderes Wissen besaß, eine besondere Kunstfertigkeit.

»Warum hast du mir nicht schon früher gesagt, dass es in Canton einen solchen Garten gibt?«, murmelte er.

Die Art, wie Wang neben ihm tief Luft holte, verriet seine Genugtuung.

»Fu-Chung hat nicht gefragt!«

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