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Die Brauen gerunzelt, widmete Fortune sich wieder den Rosen.
Einsam war es jetzt hier, ohne Lian, selbst in Gesellschaft von Rosa anemoniflora. Trotzdem atmete er innerlich auf; fürs Erste blieben ihm weitere Worte erspart. Blicke, die ihm unangenehm auf der Haut juckten. Die Unsicherheit, wie er sich am besten verhielt.
Einsamkeit war ihm oft ein sicherer Hafen, fernab vom unruhigen Meer menschlicher Beziehungen. In Zhoushan hatte Lian ihn gefragt, warum ihn Pflanzen faszinierten. Einen Aspekt hatte er bei seiner Antwort ausgelassen.
Seine bedächtige Wesensart entsprach der Lebensweise der Pflanzen, die ohne Worte auskam. Die Kommunikation mit Pflanzen war einfach, verglichen mit Tieren oder Menschen. Subtil vermittelten sie in der Farbe und Textur ihrer Blätter ihre Bedürfnisse nach mehr Wasser oder Licht und bedankten sich für ihre Hege mit frischen Trieben, kräftigen Blüten. Sie nahmen es nicht einmal übel, wenn man ihnen Zweige abschnitt, empfanden es meist sogar als Befreiung.
Tote Objekte wie Gesteinsformationen oder Fossilien übten keinen Reiz auf ihn aus. Pflanzen waren lebendig und blieben es auch, wenn man sich ihrer auf wissenschaftliche Weise annahm. Er hätte es nicht fertiggebracht, schillernde Käfer oder fröhlich umherflatternde Schmetterlinge zu Studienzwecken aufzuspießen. Er hatte es versucht, als kleiner Junge. Wie es alle Jungen taten, wohlwollend ermutigt von den Erwachsenen, sich auf diese Weise mit der Natur zu beschäftigen. Er hatte es sofort bereut, mit einer brennenden Scham, einem heißen Gefühl des Unglücks an die Zigarrenkiste mit den Insekten unter dem Bett gedacht. Ein Gefühl, das ihn immer wieder einholte; die Kiste wegzuwerfen wäre eine Geringschätzung der kleinen Leben gewesen, die er mutwillig ausgelöscht hatte.
Fortune wusste, dass ihn dieser Wesenszug zu einem Sonderling machte. Deshalb fühlte er sich in Gesellschaft anderer Gärtner, anderer Botaniker gut aufgehoben, die dieselbe Sprache sprachen, die gleiche Leidenschaft teilten. Eine Sicht auf sich selbst, an der er umso störrischer festhielt, je unnachgiebiger China ihm seine Mängel aufzeigte. Seine Schwächen und eine unmännliche Empfindsamkeit.
Wie Lian es zuweilen tat, bestimmt ohne es zu wollen.
Lian und China waren für ihn eins geworden.
Bei beiden gab es keine vollkommene Sicherheit, immer eine Mehrdeutigkeit, eine Fülle von Extremen. In China schlossen die Dinge immer ein Mysterium mit ein, begründet im tiefsten Herzen eben dieser Dinge. Wie bei Lian.
Bei Jane war immer alles ganz einfach gewesen. Wohltuend geradlinig, geordnet und geerdet.
Ihre Augen waren es, die ihm am stärksten im Gedächtnis geblieben waren.
Diese Augen, die er eher zufällig bemerkt hatte, als er im Botanischen Garten den Spaten ansetzte, um ein neues Beet anzulegen.
Augen, die ihm wieder und wieder begegneten: In den Kirchenbänken von St. Mary’s. Wenn er mit Säge und Hacke sein Tagwerk verrichtete. Manchmal sogar auf der Straße.
Als ob sie ihm überallhin folgten, diese Augen.
Mit einer unziemlichen Direktheit. Einem gar nicht mädchenhaften Verlangen darin, das unter gesenkten Lidern verschwand, wenn er diesen Blick erwiderte. Lügen gestraft von der Röte, die dann auf dem schmalen, eher herben und zurückhaltenden Gesicht aufschien.
Augen, die ihn verwirrten. Manchmal sah er verstohlen an sich herunter, ob auf seiner Hose nicht irgendein hässlicher Fleck prangte. Diese Art der Aufmerksamkeit war ihm fremd. Noch nie war er das Ziel weiblicher Sehnsüchte gewesen.
Nicht, wie er ungelenk auf seinen langen Beinen durch das Leben schritt. Unbeholfen im Umgang mit Menschen, den Kopf stets in den Wolken botanischer Bezeichnungen, Blütenfarben und Wachstumsbedingungen.
Er grüßte irgendwann, weil es sich gehörte. Mit einem Nicken. Indem er den Hut auf der Straße zog. Ihr einen guten Tag wünschte.
Bei ihrer schüchternen, aber augenstrahlenden Antwort horchte er auf. Sie kam aus Swinton, kaum zu glauben. Jane Penny, die sich mutig vom Land in die große Stadt aufgemacht hatte, weil sie mehr vom Leben wollte.
Es war eine Erleichterung, jemandem zu begegnen, der das Leben genauso nüchtern betrachtete wie er selbst und trotzdem zu träumen verstand. Kleine, bescheidene Träume, die nie außer Reichweite, nie unmöglich schienen. Träume, die mal den seinen glichen, mal ineinander griffen wie Zahnräder.
Eine junge Frau lernte er kennen, die keinen Hang zur Romantik besaß. Einen solchen vielleicht auch vor langer Zeit schon abgelegt hatte, weil ihr Wesen zu vernünftig dafür war, zu praktisch veranlagt. Wie eine Erlösung empfand er es, ein weibliches Gegenüber zu haben, das keinen Sinn für dieses Spiel von Koketterie und Liebeswerben hatte, dessen Grundzüge allein ihm schon unverständlich und unsinnig vorkamen.
Genauso vernünftig, genauso praktisch sprachen sie über die Zukunft, über das Heiraten. Warum auch nicht, es war das Naheliegendste. Obwohl eine Entscheidung von solchem Gewicht, solcher Bedeutung wohl überlegt und sorgsam abgewogen sein wollte.
Fortunes Welt war eine Welt der Ordnung. Der Systematik. Als Kind hatte er in Gedanken eine Liste seiner wenigen Spielsachen geführt. Später schrieb er Listen der Bücher, die er las, und Listen mit den Namen seiner Kollegen im Botanischen Garten, nach Aufgaben, Verantwortungsbereich und Entscheidungsgewalt geordnet.
Auch bei Jane erstellte er eine Liste. Mit zwei Spalten: was für und was gegen eine Heirat sprach. Die Seite mit den Argumenten dafür fiel eindeutig länger aus.
Also fragte er sie, ob sie seine Frau werden wollte, wie es von ihm erwartet wurde.
Manchmal, wenn Wang die halbe Nacht fortblieb, um Geld unter die Singsong-Mädchen der Stadt zu bringen, rief Fortune die Erinnerung an Jane wach.
Wie die Landschaft Berwickshires war Jane: weite Ebenen hinter den Salzmarschen, zwischen sanften Hügeln und Tälern und manchmal schroffen Winkeln, unverstellt, offen und ehrlich. Weicher geworden war sie jetzt, nach den beiden Kindern, lieblicher, wie das Weideland um Chiswick.
Getröstet fühlte er sich jedes Mal danach, aber auch beschämt.
So beschämt wie bei den Bildern von Lian und Yun, die sich ihm ungebeten aufdrängten. In Fortunes mangelhafter Vorstellungskraft trug Yun die feinen Züge eines Hoshang Bo, ergänzt um glutvolle Augen. Sehnig und muskulös, flog dieser erdachte Yun durch die Lüfte wie ein Raubtier im Sprung und eroberte Frauenherzen mal mit seinem herrischen Wesen, mal mit maskulinem Charme.
Fortunes Kiefermuskeln spannten sich an, und unwillkürlich zerrte er an den Zweigen der Rosen, fast schon grob.
Ein Schatten lag auf Lian, seit Tiantung. Der Schatten der Erinnerung an ihr Kloster, wie Fortune vermutete. An eine verbotene, zur Gänze ausgekostete und verlorene Liebe. Die Erinnerung an eine Leidenschaft, die so hoch aufloderte, dass sie sich selbst verzehrte und nichts als Rauch und Asche übrig ließ.
Etwas, das ihm selbst fremd war, und dieses eine Mal war er froh um einen solchen Mangel. Zu unberechenbar erschien ihm ein solcher Gefühlssturm. Wirklichkeitsfremd und geradezu zerstörerisch, am Rande des Wahnsinns. Dankbar war er, aus einem anderen, nüchterneren Holz geschnitzt zu sein.
Lians Lachen kam ihm in den Sinn, auf jener Lichtung in Zhoushan.
Dieses Lachen, das mit einer unvermuteten Fröhlichkeit, einer unerwarteten Lebenslust aus ihr hervorbrach, sodass er gar nicht anders konnte, als mitzulachen. Über diese aus der Ferne so merkwürdig anmutende Vorstellungen, die man in seiner Heimat pflegte. Genauso merkwürdig wie vieles, was ihm in China begegnet war, an das er sich schließlich gewöhnt hatte, bis er es irgendwann gar nicht mehr als merkwürdig empfand.
Ein Lachen, das aus ihrem Gesicht eine strahlende Sonne machte, sie auch dann noch leuchtend zurückließ, als ihr Lachen längst verstummt war. Ein Glanz, der das burschikose, amazonenhafte Mädchen mit der Sinnlichkeit einer erwachsenen Frau überblendete, die Augen schimmernd wie dunkle Perlen.
Fortune erinnerte sich lebhaft an Lians Hand in seiner, in Tiantung, am Ufer des Sees.
Das Lächeln auf seinem Gesicht erlosch, wich Unbehagen. Schuldgefühle durchfluteten ihn, dabei hatte er doch nichts Schändliches getan, noch nicht einmal etwas Verwerfliches gedacht.
Trotzdem haderte er damit, dass er Lian von Jane erzählt hatte. Oder nicht früher von ihr erzählt hatte.
Mit seinem Brief an Jane haderte er, dessen Worte ihm im Rückblick ungenügend vorkamen. Er konnte nur hoffen, sie würde verstehen, warum er noch bleiben musste. Gewiss würde sie das; Jane war stark, sie kam zurecht ohne ihn, sonst wäre er niemals nach China aufgebrochen.
Mit hochgezogenen Schultern bückte Fortune sich tiefer über die Rosensträucher. In dem elenden Gefühl gefangen, gleich zwei Frauen verletzt zu haben. Beiden untreu geworden zu sein.
Jane schon in den Augenblicken, in denen er das Angebot der Society annahm, seine Angelegenheiten regelte und seine Siebensachen packte. Lian hingegen in all den Monaten, in denen er sie sich vertraut machte, ohne böse Absicht, noch nicht einmal mit Hintergedanken.
Er zwang sich an Jane zu denken. An Jane und die Kinder, der Anker, der ihn an sein Zuhause band, an England. Länger und länger war das Tau dieses Ankers im Lauf der Zeit geworden, und anstatt sich straff zu spannen, schien es nachzugeben, schlaff zu werden.
Doch noch hielt es.
Noch.