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Kloster von Tiantung, 7. Mai 1844

Zwei volle Tage auf den Teefeldern verbracht.

Es erscheint mir fast zu simpel, um wahr zu sein – aber sämtliche Teepflanzen, die ich begutachten konnte, lassen sich zweifelsfrei der bereits von Linnaeus beschriebenen Camellia sinensis zuordnen. Wenn auch in leichten Abweichungen – es scheint tatsächlich mehrere Varietäten davon zu geben, sowohl wild als auch kultiviert.

Camellia sinensis kann offenbar bis zu 30 Fuß hoch werden (einer der Mönche sprach sogar von 100 Fuß), wird aber meist auf eine max. Höhe von 3 Fuß zurückgestutzt, um die Ernte zu erleichtern.

Junge Zweige gräulich-gelb, die frischen Zweige des jeweiligen Jahres purpurähnlich bis rötlich, mit feinem weißen Flaum, abschließende Blattknospe seidenhaarig, silbriggrau.

Blätter: Petiolus 1/5 Inch, fein behaart. Blattspreite elliptisch, länglichelliptisch oder länglich, 2-5 x 1-3 Inch. Ledrig, abaxial blassgrün und glatt oder fein behaart, adaxial dunkelgrün, glatt und glänzend, erhabene Blattadern auf beiden Seiten. Blüte (Herbst bis Ende Winter) wurde mir als weiß beschrieben, einzeln oder bis zu drei nebeneinander. 1 Inch (?) Durchmesser, 6-8 (?) Blütenblätter.

Die Vorgehensweise bei der Teeherstellung scheint mir ein sehr einfaches Prinzip. Sofern ich alles richtig verstanden habe, erfordert sie jedoch ein enormes Fachwissen und große Erfahrung, weil viele veränderliche Faktoren resp. deren Zusammenspiel den Ausgang des Prozesses und damit die Qualität bestimmen.

Ähnlich scheint es mit dem Anbau zu sein, der offenbar ein rechtes Maß jeweils an Sonne und Regen erfordert, an bestimmten Temperaturen und eine gewisse Bodenbeschaffenheit. Auch die Höhenlage scheint eine nicht unwichtige Rolle zu spielen.

Fast jede Antwort, die ich erhielt, zog eine ganze Reihe an weiteren Fragen nach sich. Aber ich stehe dabei ja auch erst ganz am Anfang.

Heute Nacht soll ich Wildschweine jagen. Ein Anliegen des hiesigen Abtes, das ich nach der überaus großzügigen Gastfreundschaft, die uns mir zuteilwurde, unglücklicherweise nicht ablehnen kann.

AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE

Die geladene Flinte im Arm, kniete Fortune auf dem Waldboden, der Stoff seiner Hose bereits vollgesogen mit der Nässe des letzten Regenschauers.

Sein Versuch, diesem Abenteuer zu entgehen, indem er die Waffe an das Kloster auslieh, war kläglich gescheitert. Zwar hatten die Augen von Abt Shanyuan geglänzt, als er ihm die Flinte entgegenhielt. Mit betrübter Miene hatte er dann jedoch erklärt, dass wohl keiner seiner Mönche den Mut hätte, eine solch gefährliche und ohrenbetäubend laute Waffe anzufassen. Keiner besäße Erfahrung im Umgang damit – und überhaupt sei es ihnen durch ihren Glauben leider, leider verboten, eine Waffe in die Hand zu nehmen.

Mittlerweile hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Trotzdem glich alles, was er ausmachen konnte, flüchtigen Schatten und Wirbeln in einem Meer aus Tinte. Immer wieder zuckte er zusammen, wenn er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Meist ein langer Grashalm, von einem kaum wahrnehmbaren Luftzug ins Schwingen versetzt.

Ein Blatt, das von irgendwo herüberwehte und Nachtfalter. Eine Fledermaus, groß wie eine Möwe, in schwungvollem Wendemanöver.

Ein Mönch, der geduckt vorüberhastete, unmittelbar vor dem Lauf der Flinte, sie beinahe streifte.

»Ich werde aus Versehen noch einen der Mönche erschießen.«

Wang gab sein meckerndes Lachen von sich.

»Lieber Wildschwein. Bekommen wir drei nämlich auf Tisch, wenn Fu-Chung geschossen.«

Er verpasste Fortune einen kräftigen Hieb auf die Schulter. Fortune hörte ihn durch das Gras kriechen und wie er kurz darauf mit der Feuerkraft der Waffe prahlte, die sein Herr besaß.

Fast ein Dutzend Mönche hatte Fortune im Rücken, hörbar aufgeregt. Kreuz und quer schnatterten, gackerten und kicherten sie, bezogen Wang in ihre Faxen mit ein.

»Das Wildschwein ist hoffentlich taub«, knurrte er vor sich hin. »Sonst warten wir hier gänzlich umsonst.«

Hinter ihm gluckste Lian in sich hinein.

Ihn beschlich der Verdacht, dieser sogenannte Jagdausflug diente allein zur Unterhaltung der Mönche. Ein Nervenkitzel, der eine abenteuerliche Abwechslung im geregelten Alltag des Klosterlebens versprach.

Dabei war ihm der Radau der Mönche nicht unlieb. Sobald deren Stimmen, deren aufgekratztes Gelächter kurz aussetzte, drangen andere Geräusche an sein Ohr.

Emsiges Rascheln und Knistern wie von einer Invasion monströser Insekten. Ein trauriges Seufzen. Ein gequältes Knarzen. Ein sachtes, hohles tock tock, das Klopfen von Geisterfingern an einer Tür.

Nur Bambus, durch den der Wind strich, sagte er sich wieder und wieder. Dennoch rieselte ihm jedes Mal ein Schauder über den Rücken.

Dieser Wald war bei Nacht eine finstere Kreatur, die auf der Lauer lag. Die darauf wartete, ihre schwarzen Fangarme auszustrecken und ihn zu verschlingen.

Nervös rieb Fortune über seine Hosenbeine; seine Handflächen waren feucht, in seiner Magengegend rumorte es.

Er schulterte die Flinte, spähte probeweise über den doppelten Lauf.

»Es ist einfach zu dunkel«, murmelte er in einem Anflug von Verzweiflung.

»Sei froh, dass du eine Feuerwaffe hast«, raunte Lian, »und nicht mit einem Schwert auf Jagd gehen musst.«

Ihre Hand legte sich auf seine Schulter; er konnte die Wärme fühlen, die von ihrem Körper ausging.

»Ich weiß nicht, wie man mit Feuerwaffen schießt«, flüsterte sie, ihr Atem heiß auf seiner Ohrmuschel. »Aber ich weiß, wie man kämpft. Versuch dich an das zu erinnern, was ich dir beigebracht habe. Schaden kann es nicht. Und gräm dich nicht, wenn du das Tier nicht erlegst. Das ist nicht wichtig. Den Mönchen zu zeigen, dass du ihnen beistehst – darum geht es.«

Er nickte. Ihm wurde kühler, als Lian die Hand und damit auch ihre Wärme fortnahm. Die Dunkelheit machte ihn nahezu blind; ohne seinen Sehsinn fühlte er sich verloren.

Humboldts Auffassung, nach der das menschliche Auge nicht nur das Organ war, mit dem man sich die Welt betrachtete, sondern auch dasjenige, durch das man diese Welt interpretierte, verstand und definierte, bekam hier einen tieferen Sinn.

Fortune fragte sich, ob seine Weltanschauung eine andere wäre, verließe er sich nicht allein auf das, was er mit seinen Augen wahrnahm.

Mehrere Monate hatte Lian mit verbundenen Augen zugebracht, als sie das Kämpfen erlernte, das hatte sie ihm erzählt, in einer Morgenstunde auf der Anhöhe hinter Tinghae. Die Blindheit sollte ihre anderen Sinne schärfen, wenn sie Kämpfe mit den Fäusten ausfocht, mit dem Stock und sogar mit dem Schwert.

Er hatte nicht zu fragen gewagt, wo das gewesen war. Eine Kälte, eine unerbittliche Härte, die dabei in ihren Augen aufschien, sich auf die Art übertrug, wie ihr Stock gegen seinen schlug, hatte ihn davon abgehalten.

Die Wand aus Stimmen hinter ihm wurde brüchig; ein mahnender Zischlaut folgte dem anderen, bis alle verstummt waren, wie eingefroren in atemloser Spannung.

Dann hörte es auch Fortune.

Ein Schnauben, ein schnarchendes Grunzen. Ein Knacken, und dann bewegte sich etwas durch das Gras, massig und schwer. Ein feuchtes Schnüffeln, das atemlose Schnaufen eines erregten Tieres.

Fortune stellte ein Bein auf und stützte den Ellbogen auf den Oberschenkel; den Finger am Abzug, zielte er in die Finsternis.

Er versuchte, nicht daran zu denken, wie ein angeschossener Keiler in wilder Raserei auf ihn zugestürmt käme.

Mit dem Lauf der Flinte folgte er den Geräuschen. Der Ahnung einer Bewegung, unter der sich die Haut auf seinen Unterarmen kräuselte.

Ein Krachen sprengte durch seinen Schädel, ein wuchtiger Schlag traf seine Schulter; irgendwo vor ihm quiekte es grell, und der Geruch von Pulver und Qualm biss in seiner Nase.

Unter dem Nachhall des Schusses, der zwischen den Bäumen verklang, entfernte sich das Quieken, begleitet von einem galoppierenden Stampfen.

Fortune atmete auf, ebenso erleichtert wie enttäuscht.

Einen Augenblick lang waren die Mönche still, wie unter Schock.

Dann schäumte und sprudelte ihr Jubel wie eine Brandungswelle auf und brach über Fortune herein. Johlend schlugen sie ihm auf die Schultern, klopften seinen Rücken weich, feierten ihn.

Nicht wie einen Engländer, der zwar mit großem Getöse, aber mehr schlecht als recht ein Wildschwein verscheucht hatte, das in ein paar Tagen bestimmt wieder hier sein Unwesen treiben würde.

Sondern wie einen Helden, der soeben einen gefürchteten Drachen erlegt hatte.

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