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In meiner Nische hoch oben lauschte ich auf die Schritte weit unten, auf dem Grund des Turms. Schwere Schritte waren es, vom steinernen Leib der Pagode hallend zurückgeworfen. So laut, dass sie sogar noch im Tosen des Windes zu hören waren.

Aus dem Augenwinkel hatte ich die Gestalt bemerkt, die sich durch die Ruinen näherte, schnell und wie auf der Flucht. Jedoch aufmerksam genug, um zielstrebig einen Weg zwischen den Trümmern hindurch zu finden, ohne dabei zu stolpern.

Ein Mann mit Hut, eine Tasche und so etwas wie eine schlanke Trommel umgehängt. Ein sehr großer Mann, gemessen an der Höhe der Steinblöcke.

Sogar aus meiner Perspektive wirkte er noch groß, wie er da unten stand, den Kopf in den Nacken legte und die Pagode betrachtete, bevor er darin verschwand.

Ein fremder Teufel.

Hier.

Was erstaunlich genug gewesen wäre.

Aber das Auf und Ab seiner Schritte jetzt und ihr ungleichmäßiger Takt verrieten mir, dass er das Innere der Pagode gründlich in Augenschein nahm.

Wozu?

Man musste schon sehr genau hinsehen und seiner Fantasie freien Lauf lassen, um den einstigen Glanz des Tempels erahnen zu können.

Dies hier war längst keine heilige Stätte mehr. Die Menschen von Shenhu beteten jetzt an den Schreinen in ihren Dörfern. Sofern sie überhaupt je beteten.

Deshalb kam ich hierher.

Um meine Finger in den porösen Stein zu krallen und die Wände der Pagode zu erklimmen. Um in Schattenkämpfen auf schmalen, abbröckelnden Vorsprüngen zu balancieren. Über die gähnenden Lücken in der verfallenen Wendeltreppe hinwegzusetzen, geschmeidig wie ein Wolkenleopard, ebenso flink, ebenso lautlos. Mal mit dem Wind zu tanzen, der durch die Fensternischen hereinflog und durch Ritzen im Stein wirbelte, mal mit ihm zu ringen.

Immer mit einem Zucken im Bauch, dass ich das Gleichgewicht verlieren und in die Tiefe stürzen könnte.

Nur ein Narr kennt keine Angst.

Angst lehrt einen zu unterscheiden: zwischen den Grenzen, die es zu überwinden gilt, und denen, die man respektieren muss, schneller als ein Wimpernschlag.

An dieser Angst schärfte ich meine Sinne, meinen Willen, wenn ich in der verlassenen Pagode von Shenhu meinen Körper stark und biegsam hielt.

Und nichts kam dem gleich, danach mit ausgewrungenen Muskeln hier oben in einer der Fensternischen zu sitzen. Meinem Atem zu lauschen, der sich langsam beruhigte, meinem Herzschlag. Das Gesicht der Sonne zugewandt, dem vielstimmigen Wind zuzuhören, der meinen Schweiß trocknete. Den Vögeln so nahe, dass ich nur den Arm auszustrecken brauchte, um beinahe ihre Schwingen im Flug zu berühren.

Jedes Mal war mir hier oben, als fehlte nicht viel, um mit hochgereckter Hand den Himmel streifen zu können.

Das war meine Art zu beten.

Zu einem Gott, der kein Gesicht besaß und sich doch in tausend Gestalten widerspiegelte. Dessen Gesetze nirgendwo niedergeschrieben waren und die doch jedermann kannte. Der keinen Namen hatte und doch bei immer demselben genannt wurde: Gerechtigkeit.

Wie meine Meister es mich gelehrt hatten.

Die Schritte waren verstummt, und ich spähte die Fassade hinunter.

Der fremde Teufel hatte sich auf einer der abgewetzten Stufen niedergelassen, halb im Schatten einer schlanken Säule. Er zog den Hut vom Kopf und wischte sich mit dem Jackenärmel über Gesicht und Stirn.

Wie er den Hut in den Händen drehte und dabei auf die Ruinen blickte, wirkte er gedankenverloren. Fast melancholisch.

Eine zweite Gestalt kämpfte sich durch die Mauerreste. Noch ein Mann, am baumelnden Zopf unschwer als ein Landsmann von mir zu erkennen. Kleiner als der fremde Teufel, aber recht groß für jemanden von der Küste. Zu groß für einen Mann aus Shenhu. Der Wind trug seine Stimme, die fragend etwas rief, zu mir herauf, zerpflückte dabei jedoch die Worte zu undeutlichen Lautfetzchen.

Es schien, als suchte er nach dem fremden Teufel.

Zwei Fremde, allein hier oben.

Ich witterte Ärger.

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