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Ich beobachtete ihn, wie er auf die Berge hinaussah, die sich jetzt, zur Mittagsstunde, aus den Wolken der Nacht und dem Morgennebel schälten.

Seine Augen folgten einem Greifvogel, der mit gespreizten Schwingen dem Horizont entgegen segelte. Diese Fuchsaugen, eine Weite darin wie die des Himmels über uns.

»In meinem ganzen Leben«, raunte er, »habe ich mich noch nie so frei gefühlt wie hier, in diesen Bergen.«

Seine Worte, schwer von Melancholie, dem hoffnungslosen Wunsch, an der Stelle dieses Greifvogels zu sein, lasteten schwer auf meiner Seele.

In den alten Legenden nahmen die huli jing, die Fuchsgeister, immer die Gestalt von schönen Mädchen an. Vielleicht war es dieses Mal die Gestalt eines Mannes aus der Fremde, der mich verführt hatte, um mich vom rechten Weg abzubringen.

»Aber du bist nicht frei«, flüsterte ich, den Blick auf die Reiskuchen gesenkt, die uns die Mönche von Ling Chuan Yuan zusammen mit Früchten und Beeren als Wegzehrung mitgegeben hatten. »Du hast Kinder, die zu Hause auf dich warten.«

»An was werden sie sich noch erinnern, nach mehr als zwei Jahren? Mein Sohn war noch keine drei Monate alt, als ich fortging.«

»Deine Frau erinnert sich.«

Wolken zogen über den Himmel in seinen Augen, verdunkelten ihn.

»Ja.«

Ich schlug die Reiskuchen in ein Tuch ein und verstaute sie in meinem Bündel. Mein Blick fiel auf den Sack mit Erde und Setzlingen. Auf Fortunes Tasche, prall von den Paketen mit Saatgut darin.

Es war ein bewegender Moment gewesen, als der Abt von Ling Chuan Yuan sie ihm zum Abschied überreicht hatte. Verwittert wie der zerklüftete Fels des Gebirges, hatte sich der alte Mann angeschickt, vor ihm auf die Knie zu gehen. Fortune hatte ihn zurückgehalten, ihn behutsam gestützt und wieder aufgerichtet, und ich liebte ihn umso mehr für diese Geste.

Ich wusste nicht, ob Fortune die Mönche darum gebeten hatte, oder ob sie ihm dieses Geschenk machten, weil er dem Tee so viel Achtsamkeit entgegengebracht hatte in diesen Tagen im Kloster, so viel Zuneigung. Ein überwältigend großzügiges Geschenk war es in jedem Fall, das war uns beiden bewusst. Ein unermesslicher Schatz, der nicht einmal besonders schwer wog. Eine Last auf dem Weg zurück, die ich ihm gern überließ, so freudig, wie er sie trug, fast mühelos.

Es war eine andere Last, an der er schwer trug.

»Könntest du es wirklich tun – nie wieder zurückkehren? Sie ihrem Schicksal überlassen?«

Er griff nach meiner Hand und fuhr mit dem Daumen über die Linien auf der Handfläche. Als könnte er darin die Antworten auf seine Fragen, seine Zweifel finden.

»Ich weiß es nicht. Das Schlimme ist, dass ich mir wünsche, ich könnte es so einfach.«

Ein Ozean lag in seinem Blick, bereit, mich aufzunehmen und fortzutragen. Vielleicht geschah es in diesem Moment, dass ich zur Gänze begriff, was ich ihm bedeutete. Diesem Mann, der meist sparsam war mit Worten, alles Weiche, Sanfte, Fühlende in sich stets nur in Gesten ausdrückte.

Wenn man noch sehr jung ist, wie ich es bei Yun gewesen war, ist Liebe episch und dramatisch, Himmel und Hölle, tian und diyu zugleich. Der andere ist alles, und ohne den anderen ist alles nichts. In diesem Krieg der Herzen, der einen zu Göttern macht.

Erst wenn man eine Weile gelebt, die ersten kleinen Schlachten in diesem Leben geschlagen hat, das erste Mal das Herz zertrümmert bekam, wandelt sich das Wesen der Liebe. Man begreift, wie selten sie ist. Wie kostbar und zerbrechlich. Ein Baum, der langsam wächst und tief in der Erde wurzelt. Man möchte nicht ohne seinen Schatten sein, sollte er einmal gefällt werden. Nicht ohne seine Früchte und ohne das Rauschen seiner Blätter, ohne den Vogelgesang darin.

Ich litt mit ihm, in seiner Zerrissenheit, die auch meine eigene war.

Es war schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren.

»Es ist zweierlei, ob man sich ausmalt, sein altes Leben hinter sich zu lassen, oder wirklich bereit dazu ist.«

Wie viele Leben passten in die irdischen Jahre eines Menschen? Wie wog man zwei Leben gegeneinander ab, ein altes gegen ein neues?

Wie traf man seine Wahl, an einem solchen Scheideweg?

»Es gibt eine Legende«, flüsterte ich, mich einmal mehr an Meister Qiang erinnernd in diesen Bergen. »Mein Meister hat sie mir oft erzählt. Von Ng Mui, der ersten großen Meisterin im Kloster der Alten Haine und Jungen Bäume. Als die Armee der Mandschu das Kloster stürmte, unter Kaiser Kangxi, um zu plündern und zu morden, konnte sie dem Blutbad entkommen. Sie floh, so weit sie konnte. Nach Westen, in das Land, wo vier Flüsse im Kreis fließen. Auf einem der heiligen vier Berge Buddhas ließ sie sich nieder. Auf dem Berg, der aussieht wie eine erhobene Braue. Ein neues Kloster gründete sie dort, das Kloster des Weißen Kranichs, und benannte danach den neuen Stil des Kampfes, den sie dort entwickelte. Als ich noch sehr jung war, träumte ich davon, mich auf die Suche nach diesem Kloster zu machen.«

»Warum hast du es nicht getan?«

»Ich wusste nicht, ob ich schon bereit dafür war. Es heißt, nur derjenige, der in höchster Not ist, kann dieses Kloster finden. Nur derjenige, der aus tiefstem Herzen bereit ist, alles hinter sich zu lassen und in einem neuen Leben wiedergeboren zu werden, erhält dort Zutritt.«

Ich rutschte näher und schlang die Arme um ihn.

»Falls ich dir je verloren gehe«, murmelte ich an seiner Wange, »kannst du mich dort vielleicht wiederfinden.«

Wir wussten beide, was er darauf sagen sollte.

Etwas wie aus den großen, zu Herzen gehenden Geschichten von Liebenden, die unter keinem guten Stern zusammenfanden. Geschichten, die in meinem Land immer nur mit Trennung oder Tod endeten. Wie bei den Schmetterlingsliebenden oder in der Legende vom Webermädchen und dem Kuhhirten, dazu verdammt, am jeweils anderen Ufer des Silberflusses ihr Dasein zu fristen.

Ich würde dich niemals gehen lassen, hätte er sagen können.

Ich würde dir niemals verloren gehen, wäre meine Antwort vielleicht gewesen.

Beide wussten wir es besser.

Die Schwärze der Nacht tönte sich blau, blutete aus wie ein frisch mit Indigo gefärbtes Kleidungsstück im Wasser. Doch noch hüllten sich die Berge in Dunkelheit.

Auf dieses Zwielicht hatte ich gewartet, die ganze Nacht. Auf diesen Moment zwischen dem Silberlicht der Sterne und dem blauen Morgenhauch. Ich würde es nicht fertigbringen, im hellen Licht des Tages, von Angesicht zu Angesicht.

Ich beobachtete ihn, wie er schlief. In dieser Arglosigkeit, die ihm zu eigen war und die es so selten gab in dieser Welt.

Fortune. Der sanfte Riese aus dem fernen Land.

Der Blütensammler. Xingyun.

Wie er die Brauen im Schlaf zusammenzog, spiegelte die Last wider, die er mit sich trug. Ich musste sie ihm abnehmen.

Er war kein Mann, der Frau und Kinder sich selbst überließ, er war ein zu guter Mensch dafür. Selbst wenn er es nicht wusste oder vergessen hatte – ich wusste es sehr wohl.

Einen solch langen Weg hatten wir zurückgelegt. Seit Shenhu. Seit den Hügeln von Zhoushan.

Durch die Gassen von Shanghai und Canton, über die Felder von Ningbo und Anhui. Durch diese Berge hier, die Berge von Huang.

Einen Weg, der mal der gemeinsame gewesen war, sich dann wieder gegabelt hatte und uns doch nie voneinander trennte. Der rote Faden, der uns aneinanderband, hatte uns immer wieder zusammengeführt. Vielleicht würde er es wieder tun, zu irgendeiner Zeit, an irgendeinem anderen Ort.

Ich beugte mich vor, so weit, dass ich seinen Atem spüren konnte, ihm meinen entgegenhauchte.

»Lebwohl, Fortune«, wisperte ich. »Finde mich im Kloster des Weißen Kranichs. Auf dem Berg der erhobenen Braue, in dem Land, wo vier Flüsse im Kreis fließen.«

Er regte sich, als hätten meine Worte ihn erreicht, wo immer er auch gerade war, in seinem tiefen Schlaf.

Ich konnte nicht die Frau im Schatten sein, ich hatte viel zu lange in den Schatten gelebt. Doch wie ein Schatten, ebenso lautlos, ebenso flüchtig, hielt ich meinen Mund an seinen.

Und genau wie ein Schatten verschwand ich in der Morgendämmerung.

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