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Ningbo, 12. August 1844

In den letzten Tagen damit beschäftigt, eine neue Bleibe zu suchen, um Geld zu sparen.

Ein Häuschen ist es geworden, eine gute Meile außerhalb der Stadt, fast schon auf dem Feld. Nicht viel mehr als ein Schuppen, dafür kostet es auch praktisch nichts und hat sogar einen eigenen Brunnen.

Reis, Gemüse und Früchte können wir von einem Bauern in der Nähe bekommen, ebenfalls sehr günstig.

Auch wenn keiner von uns so recht weiß, wie man auf der offenen Feuerstelle etwas Schmackhaftes daraus zubereitet.

AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE

Stille Tage waren es, in diesem Häuschen vor den Toren der Stadt. Fortune war zufrieden damit, über die Felder mit Reis und Getreide zu wandern und den Bauern bei ihrer Arbeit zuzusehen. Zufrieden damit, mit Blick auf die Berge Wiesenblumen zu sammeln und im Haus zu trocknen. Ohne sie zu klassifizieren, ohne in Listen einzutragen; dafür würde später noch ausreichend Zeit sein.

Lieber genoss er die Fülle des späten Sommers. Die reichen Früchte, die aus den ätherischen Blütenwolken des Frühlings gereift waren.

Die frische, leicht bittere Pomelo und safttriefende Orangen. Große und kleine, runde und ovale Pflaumen, gelb, rot, violett und purpurrot, eine davon mit einer Haut in der Färbung von Aprikosen.

Pfirsiche mit weißem, zartgrünem, sattgelbem oder rötlichem Fleisch, mal süß, mal säuerlich, und die kleinen, flachen Pfirsiche.

Die glänzendroten Beeren der yangmei, die ihn an kompakte, vollkommen runde Himbeeren erinnerten und deren Geschmack zwischen intensiver Süße und kräftiger Säure an diesen heißen Tagen erfrischte.

Zum ersten Mal beobachtete er nicht nur die Früchte dieses Landes, beschrieb sie in seinem Notizbuch und ordnete sie in das botanische System ein.

Er kostete sie.

Kostete eine Müßigkeit, die ihm neu war. Mit jedem Bissen, den er mit den Zähnen aus dem Fruchtfleisch riss, die Sonne im Gesicht und auf den bloßen Armen, Finger und Kinn klebrig vom Saft.

Tage waren es, in denen er sich der Erde und ihrer Fruchtbarkeit ganz nahe fühlte.

Die Tür des Häuschens flog auf, und in ungewohntem Schwung stürmte Wang herein.

»Wang großartig! Wang hat Lösung!«

Zwischen die Rüben und Kohlblätter auf dem Tisch, aus denen Fortune und Lian eine Mahlzeit zusammenzuwürfeln versuchten, warf er ein Bündel Kleider und einen langen Strang dunklen Haares. Wie Pferdehaar sah es aus.

Fortune beugte sich vor, legte die Rübe beiseite, an der er herumgeschabt hatte, und strich über die braunen Strähnen. Es fühlte sich auch an wie Pferdehaar.

»Ein Pferdeschweif? Wofür?«

»Für Weg nach Anhui – für verkleiden Fu-Chung! Rasieren Kopf. Bis so viel. Hier.«

Wangs Zeigefinger kreiste über das Käppchen aus schwarzem Haar auf seinem Hinterkopf, das sich in seinem langen Flechtzopf bündelte.

»Kriegt Fu-Chung dann Zopf aus Pferdehaar. Machen Chinesen aus Fu-Chung!«

Fortune gab ein dürres Auflachen von sich.

»Das kann nicht dein Ernst sein! Damit kommen wir nie durch. Ich werde trotzdem aussehen wie ein fremder Barbar. Vielleicht nicht aus der Ferne, aber von Nahem auf jeden Fall.«

»In Anhui nein!«, verteidigte Wang störrisch seinen Einfall. »Menschen in Anhui nicht nur nie fremden Barbar gesehen. Menschen in Anhui auch noch nie Männer aus Steppe oder Wüste gesehen oder von sonstwo weit weg!«

Fortune blickte hilfesuchend zu Lian, deren Augen sich unter angespannten Brauen auf ihn geheftet hatten. Ein Blick, der ihm unter die Haut kroch. Als wollte sie so viel seines Englischseins abschälen wie möglich, um zu sehen, was darunter übrig blieb.

Ihre Züge öffneten sich, wie in Erstaunen.

»Es kann gutgehen«, murmelte sie dann.

»Ich wüsste nicht, wie. Ich sehe kein bisschen chinesisch aus.«

Lian senkte den Blick auf die Rübe in ihrer Hand und bearbeitete sie weiter mit dem Messer.

»China ist groß. Mehr, als einer von uns je sehen wird. Mit vielen Sprachen, vielen Völkern. Ganz verschiedenen Völkern. Chinesen sehen nicht alle gleich aus.«

Wie die Klinge ihres Messers schnitten ihre letzten Worte durch die Luft.

Auch Fortunes Stimme bekam einen schärferen Schliff.

»Ich habe noch nie einen Chinesen mit blauen Augen gesehen.«

Lian zuckte mit den Schultern, während sie die Rübe in ihrer Hand zerteilte und die Stücke in den schweren Eisentopf auf dem Boden warf.

»Keiner von uns dreien hat je einen Tempel für Allah gesehen. Und trotzdem wird er verehrt, an den Rändern des Reiches. Nur wenige waren in ihrem Leben an der Großen Mauer oder wissen, was dahinter ist. Händler, die viel gereist sind, berichten von Leuten mit Augen wie Moos oder wie helle Kiesel. Weit, weit entfernt von hier, aber immer noch China. Warum nicht blau?«

Fortune war nicht in der Lage, sich vorzustellen, wie er aus seiner schottischen Haut schlüpfte und eine neue überstreifte.

Unheimlich schien ihm dieser Gedanke. Als würde er einen Teil von sich selbst aufgeben und sich im Austausch dafür etwas Fremdes aufpfropfen. Sich zu einer Chimäre machen, einem Mischwesen, das etwas Monströses hatte.

In seiner Magengegend kribbelte es, als ob er sich noch einmal auf der Jagd nach einem Wildschwein befand, halb Unbehagen, halb Abenteuerlust.

Er fragte sich, ob ein fremder Barbar, der sich als Chinese ausgab, eine höhere Strafe zu erwarten hatte, wenn er die Grenze von dreißig Meilen überschritt. Die Vorstellung, ein anderer zu sein, als er war, umgarnte und lockte ihn dennoch. Jemand, der mutiger war als er. Verwegen. Ein Draufgänger, ein Abenteurer, der das Schicksal herausforderte.

Er gab nach. »Dann wagen wir’s.«

Wang strahlte. »Hier. An alles gedacht. Wo … Vorhin noch …«

Er nestelte an seinem Gewand herum. Eine Handvoll Kupfermünzen rieselte heraus, klimperte über den Tisch, fiel zu Boden.

»Das ist alles, was du wieder mitgebracht hast? Mehr ist nicht übrig?«

Wang zog ein betrübtes Gesicht. »Ja. Leider. Pferdemann hart gefeilscht. Wollte nicht geben Schwanz von Pferd. Hat Wang aber dafür auch schönsten bekommen. Macht schönen Zopf für Fu-Chung. Ah. Hier.«

Er holte eine Nadel und einen Strang Zwirn hervor.

»Näht Lian Zopf an. Damit hält. Und dann gleich auf heiliger Insel schauen, ob Leute glauben Fu-Chung als Chinesenmann.”

Lian, die eine frische Rübe zur Hand genommen hatte, starrte ihn finster an.

»Warum ich?«

Wang klaubte die Kupfermünzen vom Boden auf und strich die vom Tisch ein, bevor seine Finger in einer gezierten Geste durch die Luft flatterten und er sich der Tür zuwandte.

»Lian macht besser. Nadel gehört in Hände von Frau. Wang geht Huhn kaufen. Für feiern, heute.«

Die Rübe aus Lians Hand traf ihn im Genick.

Ein Tuch über den Hemdschultern, saß Fortune breitbeinig auf einem Hocker.

Das Kratzen der Messerklinge, die Büschel für Büschel seine Haare abschabte, ließ feine Schauer über seinen Rücken hinablaufen.

Schauer, die sich in ihrem Lauf verästelten und ausbreiteten, sobald Lians Finger über seine Kopfhaut strichen, eine Strähne nach der anderen ergriffen. Erstaunlich zartfühlend für jemanden, der den Kampf mit dem Schwert gewohnt war. Fast zaghaft.

»Danke, dass du das für mich tust.«

Lian hielt inne.

»Lian?«

Es ziepte, als Lian das nächste Haarbüschel packte und abschnitt, bevor ihre Hände wieder behutsamer mit ihm umgingen.

Kühl wurde es an seinem Kopf, nach und nach. Dann feucht; einzelne Tropfen von Wasser und Seifenlauge rannen über seine Schläfen. Lians Hand legte sich warm auf seine Stirn, während die andere die Klinge auf der Haut aufsetzte, kalt und mit bedrohlicher Schärfe. Heiß jagte es durch ihn hindurch, wie im Reflex wollte er den Kopf zurückreißen und fliehen.

Er blieb sitzen, still und bewegungslos.

Partie um Partie der verbliebenen stoppelkurzen Haare rasierte das Messer ab, während Lians flache Hand über seinen Schädel wanderte. Er schloss die Lider, als die Schauer sich weit über seinen Rücken hinaus ausdehnten, in die Arme, die Beine zogen.

Leicht fühlte er sich, beinahe schwerelos.

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