Reglos harrt Jane im Sessel aus.
Immer noch. Obwohl ihr Besuch bereits vor geraumer Zeit gegangen ist; sie weiß nicht, wie lange das schon her ist.
Wie durch ein Federbett gedämpft, hört sie die Stimmen von Helen und John nebenan.
Sie hat die Kinder zum Spielen in ihr Zimmer geschickt, nachdem John Lindley auf der Türschwelle des kleinen Cottage erschienen war, an diesem glühend heißen Tag Ende August.
Sie sollte nach ihnen sehen.
Sie kann nicht.
Ihre Hände liegen wie Bleigewichte im Schoß, ihre Beine scheinen zentnerschwer zu sein.
Mr Lindleys Miene hatte schlimmste Befürchtungen geweckt; eine Angst, die sich tief in ihre Brust grub. Seine hastige Erklärung – sie solle sich nicht sorgen, Mr Fortune sei wohlauf, er selbst sei aus anderen Gründen hier –, konnte sie nur halb beruhigen. Sichtlich unwohl hat er sich gefühlt.
Sie hat Tee gemacht, wie man es als gute Gastgeberin tut. Um in der Routine vertrauter Handgriffe Halt zu finden. Durchzuatmen.
Sich den unangenehmen Nachrichten zu stellen, die Mr Lindley zweifellos mitbrachte.
In beiden Tassen blieb der Tee unberührt, erkaltete.
Robert wird dieses Jahr nicht mehr nach Hause kommen. Erst im nächsten Jahr, vielleicht auch in dem darauf.
Zu bedeutsam ist die Entdeckung, die er in China gemacht hat.
Ein Meilenstein. Nicht nur für die Botanik. Sondern für England und das gesamte Britische Empire, in wirtschaftlicher wie politischer Hinsicht.
Eine Entdeckung, die möglicherweise den Lauf der Welt verändern wird.
Mehr konnte John Lindley ihr nicht sagen. Aus Gründen der Geheimhaltung. Eine heikle Angelegenheit, sowohl auf wissenschaftlicher wie diplomatischer Ebene.
Er wird auch Robert anweisen, in seinen Briefen an sie dazu nicht näher ins Detail zu gehen, das verstehe sie sicher. Allerdings soll sie nicht damit rechnen, viel von ihm zu hören; er wird in sehr entlegenen Gegenden unterwegs sein.
Jane hat das Gefühl, sie ist die letzte Person auf englischem Boden, die eingeweiht wird. Verschwommen hat sie wahrgenommen, wie John Lindley ihr die weitere Zahlung von Roberts Salär zusicherte. Sich danach erkundigte, ob sie noch etwas brauche, er etwas für sie tun könne.
Mechanisch hat Jane mal genickt, mal den Kopf geschüttelt, je nachdem.
Nur dass sie stolz auf ihren Mann sein könne, ja sogar müsse – das hat sie deutlich gehört.
Als ob sie das nicht wüsste.
Seitdem sitzt sie hier.
Ein hoher, schriller Schrei dringt zu ihr durch, gefolgt von Weinen einerseits und lautstarker Rechtfertigung andererseits.
Es kostet sie Kraft, ihre Fäuste zu lösen. Jetzt erst bemerkt sie, dass sie Roberts Brief immer noch in der Hand hält.
Der Brief, den Mr Lindley mitgebracht und den sie in seiner Gegenwart nur überflogen hat. Zerknüllt ist er inzwischen, so sehr hatten sich ihre Finger verkrampft.
Sie lässt ihn fallen, geradezu achtlos. Vielleicht auch in einem Aufflackern von Zorn, einem Aufbegehren.
Jetzt ist nicht die Zeit, ihn zu lesen.
Sie stemmt sich aus dem Sessel hoch.
Jetzt ist keine Zeit, sich von dieser Last auf ihren Schultern lähmen zu lassen; erst muss sie diesen Streit schlichten, mindestens eines der Kinder trösten. Sich um das Mittagessen kümmern und danach um den Garten.
Später, nach dem Abendessen, wenn die Kinder schlafen – dann kann sie weinen.
Vielleicht wird sie auch tapfer sein und die Tränen bezwingen. Ihre Enttäuschung, in der Äderchen voller Zorn pulsieren, einfach in sich einschließen und warten, bis sie sich verkapselt hat.
Das wird sich zeigen.
Viel später fällt ihr Roberts Brief wieder ein, doch sie kann ihn nicht mehr finden.
John hat ihn entdeckt, auf einem seiner Streifzüge durch die Höhlenwelt unter Tischen, Stühlen, Schränken.
Er liebt Papier. Jede Art von Papier.
Während seine Mutter in der Küche steht und Gemüse schnippelt, seine Schwester ihm nach dem Streit heute lieber aus dem Weg geht, zerrt er den Papierball auseinander.
Mit Buntstiften versucht er, den schwarzen Linien, Punkten und Schleifen das Leben von Rittern und Pferden einzuhauchen, von Zauberern und Hexen. Es gelingt ihm nicht, auf dem Papier die Bilder erscheinen zu lassen, die er im Kopf hat, und er verliert die Lust daran, feuert das Papier unter die Kommode.
Nach dem Essen fällt es ihm wieder ein und er nimmt es mit in den Garten. In Fetzen verfüttert er es an die Schnecken unter dem Holunder; er mag das Kitzeln ihrer Raspelzungen auf seinen Fingerspitzen.
Als der Himmel dunkel wird und es donnert, ruft ihn seine Mutter herein.
Der Wind und der kräftige Regen, der bis zum nächsten Tag anhält, spülen die restlichen Papierschnipsel mit sich fort, in die reiche Erde von Chiswick hinein.