55

Mit untergeschlagenen Beinen saß ich zwischen den anderen Frauen auf dem Boden und schnitt Ingwer in eine Schale.

»Habt ihr seine Hände gesehen?«, warf Liling in die Runde und riss die Augen auf, sonst schmal wie Pinselschwünge. »Riesig! Wie Tigerklauen. Wie die Tatzen eines Mondbären!«

Auch nach einem ganzen Winter, den Fortune in diesem Haus verbracht hatte, sprach man offenbar über nichts lieber als über Xinghuas Fremdartigkeit.

Obwohl die anderen Frauen beifällig murmelten, setzte Liling noch eines drauf.

»Ein ganzes Huhn passt in seine Hand! Und der Hahn in die andere!«

Die greise Xiaoli verzog ihr Dörrpflaumengesicht zu einem Grinsen, das ihre Kiefer sehen ließ, nackt wie die eines Säuglings.

»Dann wisst ihr ja, wie es um seine Männlichkeit bestellt ist«, krächzte sie vergnügt, während ihre knorrigen Finger einen Reiskloß kneteten, im Handumdrehen ebenso perfekt wie all die anderen und von exakt der gleichen Größe. »Wie die Hände eines Mannes …«

Schrilles Gelächter sprudelte auf und schlug über mir zusammen, während sich die Frauen in drastischen Vergleichen zu überbieten suchten.

»Also wie ein Ochse!«, rief Lanfen, die mehr nach vergorenem Bohnenquark roch als nach dem Orchideenduft, den ihr Name verhieß, und weiter die Rüben schabte.

»Wie ein Esel!«, piepste die kleingewachsene Xiaozhi, die erst im Herbst geheiratet hatte. Bequem auf einem Kissen in ihrem Rücken zurückgelehnt, schnitt sie Lauchringe in eine Schüssel, die auf ihrem jetzt schon gewaltigen Bauch thronte, dabei hatte sie noch gut drei Monde vor sich.

Triumphierend schwenkte Chaoxing den Bund Kräuter in ihrer Hand. »Wie ein Hengst!«

»Frag doch deinen Mann danach, Changchang«, kreischte Xiaoli über meinen Kopf hinweg. »Der hat bestimmt nähere Kenntnis! So unter Männern, beim Pinkeln und an der Waschschüssel!«

Changchang, die Frau des älteren und Mutter des jüngeren Wang, lachte schallend, während sie im großen Topf das Schweinefleisch zischend in Öl und Zwiebeln anbriet.

»Als ob der dann nicht das Grübeln anfängt, wenn ich mich nach dem Jadestab unseres Gastes erkundige. Oder womöglich noch auf dumme Gedanken kommt! Nein nein, ich bin froh, dass ich seinen Schildkrötenkopf nicht mehr allzu oft zu Besuch habe.«

Unter Gelächter richteten sich die Augen aller Frauen auf mich. Ich wurde rot, obwohl ich sonst nicht so schamhaft war. Nicht, nachdem ich unter vielen Jungen und wenigen Mädchen im Kloster groß geworden war, einige Zeit mit anderen jianghu auf der Straße gelebt hatte.

Um keinen Preis hätte ich zugegeben, dass ich mir selbst schon ähnliche Fragen gestellt hatte.

»Darüber weiß ich nichts.« Ich zuckte mit den Schultern, als ich Changchang die Schüssel mit Ingwer reichte. »Kann ich Euch sonst noch irgendwie helfen?«

»Nein nein, geht ruhig. Habt vielen Dank.«

Ich spürte die Blicke der Frauen in meinem Rücken. Auf Long Yuan. Voller Neugierde und mit einer Scheu, die ebenso respektvoll wie verständnislos sein mochte.

Hier war auch ich eine Fremde.

Aufatmend ließ ich mich auf die Bank vor dem Haus fallen. Ich saß gern hier draußen. In einer Stille, die kaum berührt wurde vom Lachen der Frauen in den Räumen hinter mir. Von den Stimmen der Männer, dem Kreischen und Weinen und Kichern der Kinder. Den Geräuschen der alltäglichen Handgriffe, die in ihrem eigenen Takt die Stunden des Tages abzählten.

Es machte mir nichts aus, zusammen mit den anderen Frauen in ihrem Teil des Hauses zu schlafen, mit ihnen zu essen, mich in ihrer Gegenwart zu waschen. Auch nicht, mich für die Unterkunft und die Mahlzeiten zu bedanken, indem ich Gemüse schälte oder bei der Wäsche mithalf.

Doch ich mied ihr Beisammensein über den Näharbeiten, den Stickereien. Immer dann, wenn es um Liebesdinge und Eheleid ging. Um Frauenkrankheiten und Kindeswohl. Weil sich dann früher oder später die Aufmerksamkeit auf mich richtete. Die ich ganz offensichtlich keinen Mann gefunden hatte und in meinem Alter nun auch keinen mehr finden würde. Eine seltsame Mischung von Bewunderung, Freundlichkeit und Missbilligung, dass ich mich für ein vollkommen anderes Leben entschieden hatte.

Ich war froh darüber, dass man mir diese Stille ließ.

Wenn ich hier auf dieser Bank saß, die Frühlingssonne auf meinem Gesicht, spürte ich meine Kindheit im Rücken. All die kleinen und großen Erinnerungen, die sich zu einer Wand auftürmten, von der ich nicht wusste, ob sie Halt bot oder mir den Weg abschnitt. Das grüne Tal und die Berge vor Augen, schaute ich auf das Leben hinaus, vor dem ich davongelaufen war, in sicherer Entfernung vor der Vergangenheit.

Immer gestreift von der Furcht, diese Vergangenheit könnte ihre Finger nach mir ausstrecken und mich zurückfordern. Mir dieses Leben rauben, das mir nicht bestimmt gewesen war. Das ich mir einfach genommen hatte.

Ein Schatten fiel auf mich, und ich blinzelte.

»Darf ich mich zu Euch setzen?«

Bereitwillig rückte ich für Vater Wang zur Seite. Ein wenig unsicher, weil ich mir bewusst war, was für eine Ehre es bedeutete – in dieser Gegend, in der die Welten von Männern und Frauen zwei verschiedene waren.

Er sog ein paarmal an seiner Pfeife, die kalt geblieben war, seufzte dann zufrieden auf und streckte seine Füße in den Pantoffeln aus.

»Herrliches Wetter. Wird eine gute zweite Ernte beim Tee geben.«

Er ließ seinen Blick für einen Moment auf Long Yuan ruhen.

»Jianghu also. Kein leichtes Leben.«

»Die wenigsten Leben sind leicht zu nennen.«

»Das ist wahr. Trotzdem muss man für ein solches Leben geboren sein. Wie der Bambus, der überall Wurzeln schlagen kann. Der stark ist und doch biegsam. Nicht wie die Teepflanze, die den rechten Boden braucht. Ein rechtes Maß an Sonne und Regen.«

Ich hörte sehr wohl die Anerkennung, die aus seinen Worten sprach; sie schien mir nur nicht angemessen.

»Ich habe diesen Weg nicht frei gewählt. Es war der einzige, der mir noch offen stand, nachdem ich alle Brücken hinter mir verbrannt hatte.«

Vater Wang nahm die Pfeife aus dem Mund und sah mich verblüfft an. »Worin liegt der Unterschied?«

»Ich habe vor langer Zeit aufgehört, an Schicksal zu glauben«, entgegnete ich rau.

Es war mir gleich, ob meine Worte unhöflich wirkten, ich mich respektlos verhielt.

Neben mir lachte Vater Wang leise. »Das Schicksal fragt nicht danach, ob wir an es glauben oder nicht. Ebenso wenig wie die Götter. Das Netz des Himmels ist groß und weit, aber es lässt niemals etwas durch seine Maschen fallen.«

»Ich habe viel zu viele Menschen gesehen, die durch diese Maschen gefallen sind«, gab ich verärgert zurück.

Vater Wang ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Deshalb ist es gut, dass es jianghu wie Euch gibt.«

Ich schwieg, nur halb besänftigt.

»Werdet Ihr Xinghua in die Berge begleiten?«, erkundigte er sich nach einer Weile.

Bislang hatte sich niemand im Dorf gefunden, der diesen beschwerlichen Weg auf sich nehmen wollte. Niemand, der seine Felder, seinen Hof oder seine Werkstatt im Stich lassen konnte, jetzt im Frühling.

»Ich weiß es nicht.«

Noch stand diese Frage unbeantwortet zwischen Fortune und mir. Von uns beiden umkreist wie von zwei Katzen, die nicht wussten, ob sie miteinander spielen oder die Krallen zeigen sollten.

Ich hatte nicht erwartet, dass er mir meine Tat leicht verzieh.

»Ein guter Mann ist er, Xinghua. Von aufrichtigem Wesen und noblem Charakter.«

In meiner Brust wurde es warm. »Ja, das ist er.«

»Dieser so wichtige und vornehme Mann mit Liebe zum Tee. Ein Mann aus einer fernen, fernen Provinz. So fern, dass sie wohl weit im Westen liegen muss.«

Jetzt war es an mir, verblüfft aufzublicken.

Vater Wang lachte vergnügt in sich hinein. »Ich bin zwar noch kaum ein paar li über Jiangnan hinausgekommen … Aber wenn man einige Zeit unter demselben Dach lebt, erkennt man, wie fremd jemand wirklich ist.« Begütigend hob er die Hand. »Euer Geheimnis ist gut bei mir aufgehoben. Sollte der eine oder andere im Dorf Verdacht schöpfen, wird er ebenfalls schweigen. Niemand in dieser Gegend ist darauf erpicht, die Gesetzeshüter aufzuscheuchen oder gar die Beamten des Kaisers hier zu haben.«

Ich zögerte einige Herzschläge lang, bevor ich mich ihm anvertraute.

»Er will Teepflanzen mit in seine Heimat nehmen.«

Vater Wang nickte. »Das habe ich herausgehört.«

»Bereitet Euch das keine Sorgen – die Vorstellung von englischem Tee?«

Vater Wang schmunzelte. »Es wird nie einen zweiten Tee geben wie den chinesischen. Nie einen Tee wie aus den Bergen von Huang hier. Es ist immer der Ort, der einen Tee zu dem macht, der er ist. Das ist das Besondere am Tee. Das Einzigartige. Unverwechselbare. Wie bei uns Menschen.«

Er nahm die Pfeife aus dem Mund und kratzte mit dem Daumennagel daran herum.

»Ich habe fast alle meine Teepflanzen verloren, ohne dass ein fremdländischer Tee daran schuld war. Wie alle Bauern ihre Ernte verlieren können, allein weil die Götter es so bestimmen. Armut und Reichtum kommen und gehen, wie sie wollen. Das ist unser Los. Nicht nur als Bauern. Fall sieben Mal hin, steh acht Mal auf.«

Ich lächelte in mich hinein, als ich aus seinem Mund die vertrauten Worte von Meister Qiang hörte.

»Was geschehen wird, soll geschehen, Frau Lian. Ob mit oder ohne fremdländischem Tee. Und vermutlich gibt es niemanden, der sich in den Bergen besser zurechtfinden kann, als eine weitgereiste jianghu wie Ihr.«

»Ob ich mit ihm dort hinaufgehe, liegt nicht allein in meiner Hand«, flüsterte ich.

Fragend hob Vater Wang seine borstigen, weiß melierten Brauen.

Hier in Anhui spürte ich, wie tief ich in meinem Land verwurzelt war. Nicht an einem einzigen Ort, nicht in einem bestimmten Landstrich. Sondern im Boden der ausgedehnten Weiten, unter dem endlosen Himmel. Zwischen seinen Menschen und ihrer Art zu leben, in ihren Sprachen.

Die Kante der Bank umklammernd, die Füße fest auf den steinigen Boden gesetzt, erzählte ich Vater Wang von den Pflänzchen aus dem Kloster von Tiantung und dem Glaskasten. Während er umständlich seine Pfeife stopfte und entzündete, hörte er mir zu, gab nur immer wieder ein Brummen, ein Knurren von sich, manchmal ein halb entrüstetes, halb mitfühlendes hng.

»Die Treue zu seinem Land ist ein achtbarer Charakterzug, Frau Lian«, sagte er schließlich. »Doch noch höher zu achten ist die Treue zu den Menschen. Den Menschen, die wir unserer Treue als würdig betrachten.«

Er nahm die Pfeife aus dem Mund und wies mit dem Stiel den Hang hinunter. Auf die Silhouette eines Mannes, hoch aufgeschossen und schlank wie ein Bambusrohr.

»Da kommt er ja. Unser Freund aus der Fremde.«

Ächzend erhob er sich, um sich ins Haus zurückzuziehen.

»Es gibt nichts an Unstimmigkeiten, das nicht mit ein paar offenen und ehrlichen Worten aus der Welt geschafft werden könnte. Ich bin lange genug verheiratet, um das zu wissen.«

Fortunes Schritte wurden langsamer, weniger zielstrebig, je näher er dem Haus kam.

Er schien zu zögern, stellte seine Botanisiertrommel dann doch vor der Bank auf dem Boden ab und setzte sich zu mir. Mit dem Ärmel wischte er über sein schweißnasses Gesicht, ließ dann die Arme auf den Knien ruhen.

»Guter Tag?«, fragte ich schließlich.

Er nickte.

»Du …«, begann er und verfiel dann in Schweigen.

Erst nach einer Weile setzte er neu an.

»Es war immer gut, dich dabeizuhaben. Draußen, bei den Pflanzen.«

Mehr sagte er nicht, er brauchte es auch nicht.

»Es ist nicht leicht für mich, hier zu sein«, flüsterte ich. »Ich bin hier aufgewachsen. Jenseits des Flusses. Zwischen den Getreidefeldern und Viehweiden.« Er nickte, wieder im Schutz eines Schweigens, das ihm gleichwohl auf den Schultern zu lasten schien.

»Vielleicht wären sie auch so eingegangen«, sagte er irgendwann leise. »Die Teepflanzen. Auch ohne dich.«

Eines wusste ich gewiss über ihn: Er hatte ein großes Herz.

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