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Ihre Augen folgten ihm bei jeder seiner Bewegungen.

Wachsam, immer noch. Aber mit schwindendem Argwohn, dafür wachsender Neugierde.

Eine Neugierde, die Fortune teilte.

Er fragte sich, wie sie wohl hieß. Wer sie war, wo sie schlief, wovon sie lebte. In diesem Land, in dem er höchstens einmal eine Bauersfrau in ihrem Gärtchen zu Gesicht bekam. Eine Greisin, die halb blind einen Marktstand bewachte. Sehr kleine Mädchen, ein noch kleineres Geschwisterkind auf den Rücken gebunden oder einen Korb mit Obst auf dem Kopf balancierend, der viel zu schwer aussah.

Kein Mädchen irgendwo zwischen Kind und Frau, das in weiten Hosen und wattierter Jacke allein durch die Wildnis streifte. Das ein Schwert mit sich führte und ungerufen einem fan-kwai in Bedrängnis zu Hilfe kam.

Seine Gewohnheit, leise mit den Pflanzen zu sprechen und vor sich hinzumurmeln, wenn er Notizen machte, nahm er wieder auf; das Mädchen verstand ihn sowieso nicht.

Vielleicht war es das Schweigen des Mädchens, das seine Zunge löste. Oder wie sie, kaum merklich, näher an ihn heranrückte, jeden Tag ein bisschen mehr. Ihm damit zu verstehen gab, dass sie langsam Vertrauen fasste, jeden Tag ein bisschen mehr.

Sogar Dinge, die ihm dabei durch den Kopf gingen, sprach er aus. Eine Eigenart, die er während seiner Lehrzeit aufgegeben hatte, um nicht als wunderlich zu gelten.

»Wie Sommersprossen, diese purpurnen Sprenkel auf der Innenseite des Blütenkelchs. Feiner, als eine Menschenhand sie je mit dem Pinsel auftragen könnte. Eine Campanula punctata. Erstaunlich, dass sie hier noch blüht, so spät im Jahr. Und dann auch noch in reinstem Weiß. Bei uns sind sie rötlich eingefärbt, und im August ist es schon vorbei damit. Ob es sie hierzulande auch in anderen Farben gibt? Ich mag Glockenblumen sehr. Eine zurückhaltende, bescheidene Schönheit, die in der Masse durch ihre Farbe wirkt. Aber erst wenn man sie einzeln genauer betrachtet, entfaltet sich das ganze Wunder.«

Zu Hause in England hätte er sich nie auf diese Weise geäußert.

Die Botanik war die unmännlichste aller Wissenschaften, anders als die Zoologie, die Paläontologie oder die Geologie. Lehrreich, gewiss, vor allem aber erbaulich und feinsinnig.

Harmlos. Feminin.

Weil Pflanzen von zerbrechlicher Lebendigkeit waren, hatte Fortune oft gedacht. Nichts, was man erst aus Stein herausmeißeln musste wie Trilobiten und Ammoniten. Nichts, was gejagt und geschossen und ausgestopft werden konnte.

Es waren kleine Mädchen und Ladys jeden Alters, die Blumen pflückten und pressten und in Herbarien klebten. Poeten priesen den Zauber, der von einer Blume ausging, und feinsinnige Gentlemen verehrten ihren Angebeteten Sträuße, in denen nach den Vokabeln der Floriografie jeder Blüte, jeder Farbe eine eigene Bedeutung zukam.

Erst die harte körperliche Arbeit in den Gärten verlieh der Pflanzenkunde einen Zug von Männlichkeit. Das maskuline wissenschaftliche Ritual des Sezierens, Kategorisierens und Experimentierens. Die Seltenheit einer Pflanze bestimmte in Männeraugen ihren Wert. Die Anstrengungen, die es kostete, sie zu beschaffen, zu halten und zu vermehren, ließen sich in der männlich dominierten Welt des Geldes berechnen.

In der Gegenwart des Mädchens konnte er das aussprechen, was ihm in den Sinn kam. Unter ihren Augen, die nicht urteilten, einfach nur beobachteten.

»Diese Stelle hier. Wo der Stängel aus der Wurzel hervorgeht. Hier soll die Seele einer Pflanze sitzen. Theophrastos von Eresos hat das geschrieben, im dritten Jahrhundert vor Christus. Undenkbar damals, dass eine Pflanze keine Seele haben könnte. Ich frage mich, wie dieser Gedanke im Lauf der Zeit verloren gehen konnte. Wann genau. Und warum. Ein kluger Mann, dieser Theophrastos. Der Vater der Botanik. Der Name der Päonie geht auf ihn zurück. Ebenso unsere Namen für Narzisse, Iris, Anemone, Krokus und Spargel. Ich habe mir früher oft gewünscht, durch die Zeit reisen zu können und ihm zu begegnen. Nur einen Tag lang unter ihm zu studieren.«

Wie ein Arkadien hatte er sich den Garten von Theophrastos vorgestellt. Ein Garten Eden. Mit Pflanzen aus aller Welt, dazu geschaffen, um sich in das Wunder der Natur zu vertiefen. Ihr Wesen zu studieren und Wissen zu erlangen.

Fast wie hier in Chusan.

Ab und zu dachte er noch daran, Wang hierher mitzunehmen. Für alle Fälle.

Wang jedoch schien zufrieden damit, unten an der Weggabelung auf ihn zu warten. Vermutlich war er inzwischen sogar dazu übergegangen, sich nach Tinghae zurückzuschleichen, um den Tag zwischen den Marktständen zu verbringen, die Obst und Gemüse aus dem Landesinnern anboten und eine Fülle an Fischen und Schalentieren obendrein. Irgendwo im Getümmel um die unzähligen Buden und Lädchen, die Göttergestalten aus Bambus und Stein verkauften, Räuchergefäße und fantastisch anmutende Tierfiguren. In einem Teehaus. Einer Garküche. Oder wo die Chinesen sonst die Stunden eines Tages totzuschlagen pflegten; er wusste ja, dass Fortune erst am Abend aus den Bergen zurückkehren würde.

Ein Arrangement, das Fortune nicht unlieb war.

Ihm gefiel diese Art von Doppelleben. Vom Abend bis zum Morgen war er der fremde Sonderling, den Wang in einer Mischung aus gnädiger Herablassung und Hahnenstolz durch das Land führte. Fremd und sonderbar war er sowieso, wohin er auch in diesem Land einen Fuß setzte.

Den Tag über jedoch wanderte er frei umher. Fern der gestrengen Blicke und der beißenden Bemerkungen von Fortune senior, der seinen Kindern Fleiß und Ehrgeiz eingeprügelt hatte. Dessen Erwartungen er mit der Leitung der Treibhäuser in Chiswick zwar erfüllt hatte, der aber die Beschäftigung seines Ältesten mit Orchideen und anderem nutzlosen Schnickschnack befremdlich fand.

Hier in Chusan konnte er sogar die Erwartungen der Society abschütteln wie einen mit Regen vollgesogenen Wollmantel – und seine eigenen Ansprüche gleich mit. Zwischen den Gräsern und Bäumen und Blumen der Insel konnte er ganz er selbst sein.

In diesen seltsamen Begegnungen mit dem Mädchen, in denen jeder für sich blieb und die ihr offenbar genauso behagten wie ihm.

Obwohl er sich manchmal dabei ertappte, wie er sich wünschte, sie würde ihn doch verstehen.

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