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Anhui, Februar 1845

Ein neues Jahr in China, das auch hier im Dorf kräftig gefeiert wurde, mit viel Getöse, das von den Bergen widerhallte. Das Jahr der Erdschlange. Glaubt man den Menschen hier, ein besonders glückliches Jahr – aber das scheint hierzulande auf jedes neue Jahr zuzutreffen.

Mit Wang senior noch einmal auf dem Teefeld gewesen und auch auf anderen in der Nachbarschaft. Hier scheint wirklich jede Familie Tee anzubauen, manchmal auf einem Stück Feld, das nicht größer ist als einer der handtuchschmalen Vorgärten in London.

Wie Schneeflocken auf grünen Sträuchern sehen sie von Weitem aus, die Blüten von Camellia sinensis, von denen ich ein paar bekommen habe, um sie zu konservieren. Die Pflanze scheint sauren Boden zu bevorzugen, zudem scheint eine hohe Luftfeuchtigkeit unabdingbar.

Im Dickicht auf einem der Hügel eine winterblühende Art von Jasmin entdeckt – gelbe Blütensterne, die weithin leuchteten in der sonst noch eher kargen Landschaft. Nudiflorum, da noch keine Blätter an den Zweigen, leider ohne Duft.

Ich sehne den Frühling herbei, nicht nur wegen der Teeernte.

AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE

Den Brief von John Lindley in der Hand, starrte Fortune ins Feuer.

Ein Handwerker aus dem Dorf, der eine Fuhre gefärbter und bemalter Papierbanner für das Neujahrsfest nach Shanghai geliefert hatte, hatte ihn von dort mitgebracht.

Voll des Lobes war dieser Brief. Für Fortunes bisherige Arbeit. Für die Specimina, die in gutem bis sehr gutem Zustand angekommen waren, sowohl die lebenden, als auch die konservierten Pflanzen.

Nur Camellia sinensis nicht: Von den mehreren Dutzend Setzlingen hatten gerade einmal zwei die Seereise überlebt. Zu wenig, um etwas damit anfangen zu können, zumal noch nicht sicher war, ob sie sich im Treibhaus erholen würden.

Eine Enttäuschung, obwohl er damit gerechnet hatte; sie wussten einfach zu wenig darüber, was diese Pflanze brauchte.

Die Experimente der letzten Jahrzehnte mit der in Assam, im Nordosten Indiens, beheimateten Teepflanze waren zwar vielversprechend, aber noch nicht von nennenswertem Erfolg gekrönt gewesen. Der daraus gewonnene Tee reichte bei Weitem nicht an chinesischen Tee heran.

Schon Joseph Banks hielt zum Ende des vorangegangenen Jahrhunderts den Tee für ein Gut von höchster nationaler Bedeutung. Sein Vorschlag, auf indischem Boden Versuche mit chinesischem Tee zu unternehmen, war ein bislang undurchführbarer Plan gewesen, solange China sich verschlossen hatte wie eine Auster.

Erst jetzt, mit Öffnung der Häfen für den Westen, war die Teepflanze zum Greifen nah. Mit Fortunes Entdeckung. Seinen Einsichten in Anbau und Verarbeitung des grünen Goldes.

Zum wiederholten Mal las er die neuen Instruktionen der Horticultural Society durch. Erleichterung erfüllte ihn, jedes Mal wieder, dass sein eigenmächtiges Vorgehen wohlwollend aufgenommen worden war, er sogar den ausdrücklichen Auftrag zur weiteren Forschung erhielt, und finanzielle Mittel noch dazu.

Ein leises Unbehagen blieb.

Angetrieben von botanischem Eifer war er sich der Bedeutung seiner Entdeckung sehr wohl bewusst gewesen. Der möglichen Folgen, hätten die Setzlinge England heil erreicht und dort Wurzeln geschlagen. Das war der Lauf der Dinge, seitdem Menschen damit begonnen hatten, Ozeane und Kontinente zu überqueren und Pflanzen mitzubringen. Das Gesicht der Erde hatten sie damit verändert – mit der Kartoffel, dem Tabak und Zuckerrohr –, manchmal sogar das Schicksal von Völkern und Nationen besiegelt.

Landwirtschaft hatte von jeher Pflanzen mit Wirtschaft und Politik verknüpft, das wusste er. Genauso verhielt es sich mit dem Tee. Chinesischer Tee war teuer; um sich das begehrte Gut leisten zu können, verlangten die Engländer von China, den Gegenwert des Kaufpreises statt in Silber in Opium anzunehmen, in Indien aus den Samenkapseln von Papaver somniferum gewonnen, des Schlafmohns. Ein Zwangsgeschäft, das nicht nur Unsummen von Silber in Bewegung hielt, sondern sogar einen Krieg heraufbeschworen hatte, einen brüchigen Frieden hielt.

Nahm man den Tee aus diesem Dreieckshandel heraus, würde dies weitreichende Folgen haben. Für das Britische Empire ebenso wie für China und für Indien.

Ein Gedanke, an dem er sich ebenso rieb, wie er ihn elektrisierte.

»Heißt also«, sagte Wang, den er ins Vertrauen gezogen hatte, »du sollst Tee stehlen?«

Sie beide bedienten sich nur noch des Englischen, wenn sie unter vier Augen etwas zu bereden hatten.

»Ich kann ihn auch kaufen. Sobald ich das Geld in Shanghai abhole.«

»Stiehlst ihn trotzdem, von Reich China.«

Fortunes Brauen hoben sich. »Bei den Pflanzen aus Tiantung hast du das nicht gesagt.«

»War auch anders. War von Mönchen Geschenk.«

»Was ist der Unterschied?«

Wang seufzte, bemüht geduldig. »Wenn Geschenk von Mönchen – dann Wille von Himmel, dass du mitnimmst nach Hause. Wenn du kaufst irgendwo und dann mitnimmst – dann gestohlen. Von Kaiser. Von Volk China.«

Während Fortune noch versuchte, dieser eigentümlichen Logik zu folgen, beugte sich Wang zu ihm.

»So und so – wenn erwischt mit Teepflanze oder Samen …«

Mit dem Zeigefinger strich sich Wang über den Hals.

Fortune starrte ihn an, mit einem Mal hatte er einen Eisklotz im Magen. »Das ist nicht dein Ernst!«

Wang nickte, seine Miene so düster wie die eines Totengräbers.

»Kein Teepflanze aus China in Rest von Welt hinaus. Kein Samenkorn. Großes Verbot hier. Von Kaiser und Mandarine.«

»Das wusste ich nicht«, raunte Fortune mit trockener Kehle. »Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?«

»War Lian da.« In Wangs einfachen Worten klang etwas wie Anerkennung, fast Bewunderung. »Lian passt auf für Fu-Chung. Kämpft für ihn, wenn muss. Besser als Wang kann.«

Das Eis in Fortunes Magen schmolz in der Hitze, die nun durch ihn hindurchjagte, halb Zorn, halb nackte Angst.

Richtig und falsch.

Recht und Unrecht.

Fortune hatte nie daran gezweifelt, auf welcher Seite sein Weg durchs Leben entlangführte.

Er hatte nie betrogen, nie gestohlen und nie gelogen, soweit ihm das bewusst war. Nie hatte er die Regeln gebrochen. Bis er sich entschied, die Anordnungen der Horticultural Society zu missachten und im Land zu bleiben, um mehr über den Tee zu erfahren. Weil sein Hunger nach diesem Wissen größer war als alles andere. Es war die richtige Entscheidung gewesen, davon war er nach wie vor überzeugt, und doch fühlte sie sich in diesem Moment falsch an.

Er hatte gewusst, dass diese Reise mit großen Gefahren verbunden sein würde. Doch sein Leben aufs Spiel zu setzen, indem er Setzlinge außer Landes brachte, schien ihm ein viel zu hoher Preis.

Mit zitternder Hand rieb er über seine ausrasierte Stirn.

»Nicht zagen«, flüsterte Wang und tätschelte Fortunes Knie. »Wenn einmal geschafft, Kiste in Hafen zu bringen, ohne jemand merkt, was drin – dann auch zweites Mal.«

Er drehte sich zu Wang senior um.

»Vater – welchen Tee hier hältst du für den besten der Gegend?«

Wang senior hob den Blick von dem aufgeschlagenen Buch auf seinen Knien und nahm den langen dünnen Stiel seiner Pfeife aus dem Mund.

»Der von den Bergen. Die Mönche dort oben machen den allerbesten Tee weit und breit. Nicht viel davon, nur ein paar Kistchen jedes Jahr. Aber viele sagen, es ist der beste südlich des Großen Flusses. Sogar der Kaiser soll schon davon gekostet haben.«

»Was macht diesen Tee so besonders?«, wollte Fortune wissen.

Vater Wang wiegte nachdenklich den Kopf. »Das weiß niemand so genau. Der Boden dort oben. Die Luft. Der Regen. Die Nähe zum Himmel. Das Wissen der Mönche. Alles zusammen. Manche sagen, es sind die Pflanzen selbst. Teepflanzen des Himmels, die die Götter den Mönchen zur Hege anvertraut haben.«

Wissbegierde stachelte Fortune an, ließ ihn jeden bangen Gedanken, alle Furcht vergessen.

»Ist es weit bis dorthin? «

Vater Wang schüttelte den Kopf. »Denkt nicht einmal daran, Xinghua. Das ist ein gefährlicher Weg, den nur die Mönche unbeschadet hinunter- und wieder hinaufklettern. Sie werden beschützt vor den Geistern und den Dämonen dort oben. Den Drachen.«

Fortune warf Wang einen Blick zu und wechselte zurück ins Englische.

»Hat er eben Geister und Dämonen gesagt? Drachen?«

Verlegen wandte Wang den Blick ab.

Wang senior lehnte sich vor, ein Glitzern in den Augen, das verriet, wie sehr er dieses Gespräch genoss.

»Viele, die jemals dort hinaufwollten, sind wieder umgekehrt. Nicht nur, weil der Aufstieg schwierig ist, durch Schluchten führt und an Abgründen entlang. Nicht deshalb, weil es keine Karten gibt und man darauf vertrauen muss, den Weg zum Kloster trotzdem zu finden. Es ist eine andere Welt dort oben. Dort gibt es keine Zeit. Nichts, woran die Wurzeln der Seele Halt finden. Das macht die gewöhnlichen Wanderer dort oben zur leichten Beute für dunkle Mächte. Nicht jeder, der hinaufgestiegen ist, kam auch wieder zurück. Nicht wenige sind oben verlorengegangen.«

Mit einem Nicken lehnte er sich zurück und sog an seiner Pfeife.

»Nur ein vollkommener Narr wird sich dort hochwagen. Ein Heiliger. Oder ein wahrer Held.«

Fortune war noch nicht lange genug hier, um an solche Ammenmärchen zu glauben. Durch und durch britisch fühlte er sich, während er aus den Worten von Vater Wang die Körnchen harter Fakten aussiebte.

Legenden von Drachen und Dämonen konnten ihn nicht abschrecken. Nur der Gedanke, möglicherweise zwischen Felsen abzustürzen und im Gebirge umzukommen. Beim Schmuggeln von Teepflanzen aufgegriffen und dafür mit dem Tod bestraft zu werden.

Er brauchte nicht mit leeren Händen nach England zurückzukehren; Teepflanzen oder Saatgut konnte er auch hier im Dorf bekommen, vielleicht sogar von Vater Wang. Aber er wollte nicht irgendeinen Tee.

Er wollte den besten Tee.

Nicht nur, weil die Horticultural Society danach verlangte.

Diesen Tee der Mönche aus den Bergen, dem er so nah war und ihn doch nicht erreichen konnte. Nicht ohne Karte oder auch nur eine grobe Wegbeschreibung. Ohne jemanden, der sich auskannte und ihn dort hinaufbegleitete.

Hilfesuchend wandte er sich an Wang. »Würdest du …?«

Wang zog den Kopf zwischen die Schultern.

»Geht Wang mit dir überall hin, weißt du«, kam es kleinlaut von ihm. »Aber nicht da hoch.« Er seufzte. »Brauchst du jemanden wie Lian.«

Das Schreiben der Society lag wie ein Stück Blei in seiner Hand. Fortune starrte wieder ins Feuer, heimgesucht von den Gedanken an Lian. In einem diffusen Begehren, das er mit seiner ganzen Willenskraft auf den Tee aus den Bergen lenkte, der ihm ebenso unendlich weit entfernt schien.

Wie ein Insekt kam er sich vor, das sich im Netz einer Spinne verfangen hatte. Ein Netz, gewoben aus den Erinnerungen an Jane und die Kinder, die immer blasser wurden, je länger er hier war. Gesponnen aus den Eindrücken, die Lian hinterlassen hatte, noch frisch, lebendig und sinnenhaft. Verflochten mit den Anordnungen der Society, seinen eigenen Sehnsüchten, seinen Ambitionen.

Unfähig, loszulassen, unfähig, sich freizukämpfen, fürchtete er die Haltlosigkeit der Schlupflöcher ebenso wie die klebrigen Fäden, in die er sich verstrickt hatte und an denen er jetzt baumelte.

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