Hier sterben.
Im Bauch dieses Schiffs.
Ein Treibhaus, nicht aus Eisen und Glas und Sonnenlicht, sondern aus feuchtem Holz und Dunkelheit. In dem der Geruch von Bilgewasser und verrottendem Fisch wucherte. Das Fieberschweiß gären ließ und Atemdampf zu klebrigem Harz verdickte.
Dieser Lastkahn war ein elender Ort, um zu sterben. Als Fremder in einem noch fremderen Land, sechstausend Meilen fern von zu Hause.
Seine langen Beine hatten keinen Platz mehr in der Koje gefunden, die für Männer von niedrigerem Wuchs gebaut worden war. Nicht für einen Körper wie seinen, der von schottisch schroffer Grobknochigkeit war. Robust wie Unkraut nach einer Kindheit auf dem offenen Feld, der Lehrzeit in herrschaftlichen Gärten. Unter freiem Himmel und der Sonne, in frischer Luft, Wind und Regen abgehärtet, war er in dreißig Jahren nicht einen Tag krank gewesen.
Bis das Fieber kam.
Die Saat dafür musste er in Hongkong aufgelesen haben, in dieser kochenden Hitze, die aus der Luft zähes Gelee machte. An manchen Tagen hatte sein Thermometer vierundneunzig Grad Fahrenheit angezeigt, und nie war das Quecksilber unter die Marke von achtzig Grad gefallen, selbst in den Nächten nicht.
Ein Paradies für Fäulnis und Verfall, Fieber und Cholera.
Erst vor zweieinhalb Jahren, während des Krieges, war Hongkong für die Krone beschlagnahmt worden, und schon war der kleine englische Friedhof überfüllt, die Erde rot und frisch nach den jüngsten Begräbnissen: Major Pottinger. The Honourable J.R. Morrison. Mr Dyer, der lange in den Tropen, in Penang und Malacca, gelebt hatte, und Mr Stronach, die beide in Singapur an Bord der Emu gekommen waren.
Fremde hier wie er selbst und allzu flüchtige Bekanntschaften: heute gesund, morgen vom Fieber ergriffen und innerhalb weniger Tage dahingerafft. Hastig beerdigt unter einer Sonne, deren Gewalt von keinem noch so schmalen Schatten gemildert wurde.
Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass es ihm genauso erging.
Nur würde sein Grab das Südchinesische Meer sein, irgendwo zwischen Hongkong und Amoy.
Ein Narr war er gewesen, in dieses Abenteuer aufzubrechen.
Er war kein Abenteurer. Nur ein einfacher Gärtner, der das Gleichmaß seiner Tage schätzte und den langsamen, ruhigen Fluss der Jahreszeiten. Der noch nie über die britische Insel hinausgekommen war.
Wenigstens war für Jane und die Kinder – der Junge war noch ein ganz kleines Würmchen – gesorgt; dafür hatte er Vorkehrungen getroffen.
Er hatte um die Gefahr gewusst.
John Forbes konnte noch afrikanische Orchideen nach England schicken, bevor er am Ufer des Sambesi starb. Und als John Potts aus Indien zurückkehrte, hatte er nicht nur Primelsamen im Gepäck, sondern auch den Keim eines tödlichen Fiebers im Leib.
Trotzdem war er hierher aufgebrochen, kaum dass die Tinte unter dem Vertrag von Nanking getrocknet war, angelockt von der Aussicht auf unermesslichen Reichtum an Pflanzen.
China hatte der Welt den Pfirsich geschenkt und die Aprikose, verschiedene Zitrusfrüchte und den Rhabarber. Tigerlilien, Chrysanthemen und Hortensien.
Wie viel mehr mochte es noch zu entdecken geben in diesem monumentalen, dem Westen seit Jahrhunderten verschlossenen Reich?
Allein der Hafen von Canton war zugänglich gewesen, Umschlagplatz für Opium aus Indien, für Tee und die anderen Kostbarkeiten Chinas. Die Händler, die von dort zurückkehrten, versicherten, dass es die opulenten Päonien, mit denen das importierte Porzellan bemalt war, wirklich gab. Mit eigenen Augen hatten sie sie gesehen, die Kamelien und Magnolien, die prächtigen Rosen, die man zu Hause von den kunstvoll verzierten Fächern kannte, von Seidenstoffen und Tapeten, und sie berichteten von Gärten voller Wunder.
Ein Lebenstraum für jeden Botaniker.
Eine unglaubliche Chance für einen Gärtner wie ihn.
So erdverhaftet und nüchtern er auch war – als er, noch an Bord der Emu, nach den langen Wochen auf See die Berge und Täler Javas gesehen hatte, war er ins Schwelgen geraten. Nur von Deck aus, nur aus der Ferne. Üppig grüne Landschaften, über denen die Luft vibrierte vor Saftigkeit und die ahnen ließen, wie viele Nuancen dieses Grüns es dort geben musste. Wie viele Formen von Blättern. Welche Fülle an Blüten.
Was ihn dann erst in China, dem legendären Reich der Blumen, erwarten mochte!
Der Schock folgte jedoch wenige Tage später, als er den ersten Blick auf die chinesische Küste warf. Auf sonnenverbrannte Hügel, nackten roten Lehm und Granitbrocken. Eine Mondlandschaft, tot und leer bis auf ein paar verkrüppelte Kiefern, die um ihre kümmerliche Existenz rangen.
Dies konnte nicht das blühende Land sein, das man ihm versprochen hatte.
Er durfte hier nicht sterben.
Nicht bevor er wieder nach Hause zurückgekehrt war. Zu seiner Frau. Seinem kleinen Mädchen. Seinem Sohn, den er noch kaum kennengelernt hatte.
Nicht auf diesem elenden Kahn, der ihn mit seinem Schaukeln und Rollen noch kränker machte. An diesem Fieber, in dem er siedete wie ein Stück Fleisch im Topf. Das Muskeln, Sehnen und Knochen weichkochte. Seinen Verstand zerfaserte.
Er versuchte, die Namen der wenigen Pflanzen zu memorieren, die er in Hongkong gesammelt hatte, kaum ein Dutzend. Und scheiterte; dem Chaos des Fiebers hatten auch Systematik und Logik nichts entgegenzusetzen.
Er begann von tausend an rückwärts zu zählen. Seit Kindertagen seine Methode, Ordnung zu schaffen. Klarheit zu gewinnen, wenn botanische Namen und Fakten wie Bienen in seinem Kopf herumsurrten. Wenn er sich in einem Dickicht aus Gedanken und Fragen verfangen hatte und deshalb nicht schlafen konnte.
Aber er bekam die Zahlen, seine treuen Freunde, nicht zu fassen. Ausweichend und launisch zeigten sie sich; wie irrlichternde Glühwürmchen in seinem sich verdunkelnden Verstand.
Haltsuchend klammerte er sich an den Gedanken an seine Familie.
Jane. Helen. John.
Gesichter, die zu Schatten verflachten. Sich ihm entzogen, ihn leer und ausgehöhlt zurückließen.
Sein Körper schien gewichtslos.
Ein dürres Blatt, das durch die Luft kreiselte und sich in der Finsternis verlor.
Er wanderte durch dichten Nebel.
Wie in einem Traum.
Nicht der reine Nebel über den Felsen und Wiesen seiner Heimat Berwickshire. Zäh und schwül fühlte es sich an; ein fauliger, geradezu giftiger Brodem, kaum zu durchdringen und sogar die Sonne verdunkelnd. Dann riss die Nebelwand auf, und für einen Moment war Fortune beinahe geblendet.
Er glaubte Blüten über Blüten zu sehen, in allen Farben des Regenbogens und purem Weiß. Paläste aus Rhododendren vor dem Hintergrund eines tropischen Waldes. Fontänen aus Lilien und Päonien, Kaskaden von Kletterrosen und Orchideen wie exotische Schmetterlinge. Die Luft war klar, sie roch süß mit einer fremdartigen Würze darin, und bei jedem seiner Schritte über den weichen Boden stieg der Duft von frischem Gras und von Kräutern auf.
Das hier musste ein Traum sein, eine Fata Morgana in der Hitze des Fiebers. Eine Fantasie, die ihm wirklicher schien als alles, was er zuvor je gesehen hatte, überwältigend intensiv und betörend.
Er wollte nicht, dass es ein Traum blieb, und streckte die Hand nach den Blütenzweigen aus. Zum Greifen nah waren sie, er konnte den Pollen auf den Staubblättern erkennen, jede Verästelung der Blattadern, und dennoch konnte er sie nicht erreichen.
Seine Knie gaben nach, und er fiel, tiefer als der Boden unter ihm.
In einem Boot schaukelte er über einen Fluss, unter einem Gewölbe aus Baumkronen, schattig und kühl.
Er horchte auf, wandte sich um; hatte ihn jemand gerufen? Eine körperlose Stimme, silberhell und lockend, irgendwo hinter dem grünen Wasserfall einer Trauerweide.
Sehnsucht zerrte an ihm, aber er konnte nicht anhalten, nicht umkehren. Unaufhaltsam glitt das Boot vorwärts über den Fluss, auf die Mündung zu und hinaus auf das Meer.
Ein Gefühl wie Heimkehr und Verlust zugleich.
Von irgendwoher strömte frische Luft in die Koje und kühlte seine glühende, schweißnasse Haut. Frisch roch dieser Luftzug, nach Salz und Hoffnung, und ließ ihn leichter atmen.
Es gab keinen Weg zurück.
Nur vorwärts. Vorwärts.
Er würde nicht sterben. Nicht auf diesem Kahn.
Nicht bevor er wenigstens einen Blick in dieses legendäre Reich der Kamelien geworfen hatte, der Rosen und der Azaleen.