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Kloster von Ling Chuan Yuan – das Kloster der Heiligen Quelle.
Alle Dinge wurzeln im Himmel, sagt man hier. Das verstehe ich jetzt.
AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE
Der hallende Ruf einer bauchigen Glocke vibrierte in Fortunes Brustbein, setzte sich mit bebendem Echo durch seinen ganzen Leib fort und holte ihn sanft aus dem Schlaf. Noch nicht ganz wach, wurde er sich der Leere an seiner Seite bewusst.
Lian fehlte.
Erst nach ein paar Herzschlägen kehrte die Erinnerung zurück. An die in den Fels gehauene Treppe, die an manchen Stelle ins Innere des Gebirges, dann wieder auf direktem Weg in den Himmel zu führen schien. Bis sich der Fels spaltete und den Blick freigab auf das Kloster, das in luftiger Höhe seine geschwungenen Dächer ausbreitete wie ein Adler seine Schwingen.
Lian fehlte.
Auch nach vier Nächten im Kloster, die sie in einer Kammer am anderen Ende des Klosterbaus verbrachte, die die Mönche ihr zugeteilt hatten. Er fragte sich, was sie an diesen Tagen tat, die er mit den Mönchen zwischen den Teepflanzen verbrachte; er stellte sich gern vor, wie sie dann auf einem Felsgrat mit ihrem Schwert tanzte.
Die Nächte unter den Wolken fehlten ihm. Die Nächte unter den Sternen, die hier oben so viel mehr waren, so viel heller und so viel näher. Die Nächte mit Lian.
Nicht allein der Rausch, das Wunder, was ein Mann, eine Frau einander zu geben vermochten, nur das Nötigste an Kleidungsstücken abgestreift und beiseite geschoben, im Schutz einer dünnen Wolldecke und der Dunkelheit. Die Sattheit danach, das ermattete Nachglühen.
Einfach den schweren Zopf ihrer Seidenhaare unter seinen Händen zu haben, ihre Orchideenhaut, wäre genug gewesen. In ihren Duft einzutauchen, herbsüß, wie ein wildes Kraut. Zuzusehen, wie sie die Augen aufschlug am Morgen, der für sie jetzt später kam als früher, nach diesen langen Nächten zu kurzen Schlafes. Die Verwunderung des ersten Moments in diesen Augen zu entdecken, die einem stillen, seligen Lächeln wich.
Das letzte Echo der Glocke verklang zwischen den schnellen Schritten, den Stimmen der Mönche. In die Bergluft, klar und kühlfeucht, nach einer Nacht voller Regen, mischte sich ein frischer, grüner Duft.
Der Tee rief nach ihm.
Fortunes Hand strich über die Teepflanzen, während er durch das Feld schritt.
Umgeben vom unverwechselbaren Duft der Blätter eine überaus sinnliche Erfahrung, die er nur unterbrach, um etwas in seinem Notizbuch festzuhalten, das einer der Mönche ihm erklärte.
Hier im Kloster war Tee mehr als grünes Gold. Eine bestimmte Art zu leben wuchs hier mit dem Tee, eine Art zu glauben und zu beten. Etwas, das man nicht ergründen, nicht verstehen konnte, wenn man nicht Zeuge wurde, wie die Mönche den Tee anbauten und andächtig behandelten und wie sie über ihn sprachen. Wenn man nicht diesen Tee mit ihnen trank.
Jahre hätte er hier verbringen können, ohne den Tee auf die gleiche Weise zu begreifen, wie es die Mönche hier oben taten. Und noch viel weniger würde er in der Lage sein, irgendjemandem zu Hause in Worten oder Skizzen zu vermitteln, was den Tee von Huangshan ausmachte.
Vielleicht spielte das gar keine Rolle, vielleicht musste dieses Geheimnis auch eines bleiben.
Tee war eins mit China, das lernte er hier oben. Und China war für ihn eins mit Lian.
Umso mehr, als sie sich hier im Kloster mit Blicken begnügen mussten, während der Mahlzeiten, auf der steinernen Bank neben der heißen Quelle, die dem Kloster seinen Namen gegeben hatte. Mit Gesten und einem Lächeln, leisen Worten.
Tee. China. Lian. Durch seine Sinne, seine Haut in sein Mark gesickert, in sein Blut gewandert. Vielleicht eine Droge, ähnlich wie Opium, die seine Adern mit einem Gefühl von Frieden füllte. Von Glück.
Jeden anderen Gedanken schob er solange beiseite. Dafür würde noch genug Zeit sein, auf dem beschwerlichen Weg zurück.