17

Mittwoch, 17. Januar 1844

Überwiegend klar und frei von Niederschlag bei einem Maximum von 25 Grad Fahrenheit. Minimum laut Thermometer 19 Grad – die sich jedoch anfühlen wie 10 Grad oder noch weniger. Eisig!

Nach diesen Monaten in China hatte ich schon angefangen, mir eine hohe Meinung von den Chinesen als Volk zu bilden. Hier in Shanghai hat sich jedoch herausgestellt, dass das ein Fehler war, und das auf sehr unangenehme Weise. Sie sind die größten Diebe und Räuber, Lügner und Betrüger, wie ich ein ums andere Mal an eigenem Leib erfahre.

AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE

Am wackeligen Tisch klappte Fortune sein Notizbuch zu und hauchte sich auf die steifgefrorenen Finger. In der Kammer war es eiskalt, er konnte froh sein, dass es gerade trocken blieb. Mehr als einmal war er morgens in von Regen durchnässtem Bettzeug aufgewacht, und wenn es schneite, blies der Wind den Schnee durch die Ritzen des mit Papier bespannten Fensters, bis er sich auf dem Boden aufhäufte.

»Geht Fu-Chung wieder auf Jagd nach Grünzeug?«

Wang lümmelte auf seiner Bettstatt herum; er machte nicht den Eindruck, als wollte er sich heute noch bewegen.

»Natürlich.«

»Wofür?«

Wangs Frage in einem Tonfall, der irgendwo zwischen ehrlicher Verwunderung und Spott angesiedelt war, kam nicht ohne Grund.

Fortunes Blick wanderte in die Ecke.

Die Holzkiste dort war noch fast leer. Nur die gepressten Blüten zweier Arten von Chrysanthemen schlummerten darin, leisteten einzelnen Zweigen von Bambus Gesellschaft und Ästen von Gingko und Cryptomerica japonica, einer Zypressenart.

Eine mehr als magere Ausbeute, verglichen mit der reichen Ernte aus Zhoushan, die er bereits in Ning-po auf den Weg nach England gebracht hatte.

Clematis lanuginosa. Campanula punctata. Abelia rupestris. Clerodendrum indicum.

Und sein ganzer Stolz: Fortunella, wie er die cum-quat getauft hatte.

Seitdem waren die Glaskästen für die Ableger, die die weite Reise in ihre neue Heimat antreten sollten, verwaist geblieben.

»Ja. Wozu auch«, murmelte Fortune dürr.

Shanghai im Winter war für einen Botaniker eine graue, fruchtlose Wüste.

Auch ohne Gauner an jeder Ecke.

Die beiden Kamelien in ihren Töpfen neben der Kiste schienen ihn mit ihrer ganzen kräftigen Pracht zu verhöhnen, wann immer sein Blick darauf fiel.

Von hellgelber Blüte die eine, goldgelb die andere – das hatte ihm der Händler versprochen, dem er die beiden in zähen Verhandlungen und für je fünf Dollar abgerungen hatte. Und sowohl der Wirt des Gasthauses hier als auch Wang hatten ihm bestätigt, dass die Schriftzeichen auf den Papierstreifen in den Töpfen gelbe Blüten bedeuteten.

Gelbe Kamelien. Bislang ein Mythos; wer sie fand, wäre ein gemachter Mann.

Doch als sich die Knospen einige Tage darauf geöffnet hatten, war das einzig Gelbe daran das Staubgefäß gewesen. Weiß blühten sie, ganz gewöhnlich und wertlos.

Und natürlich war der Händler mit seinem Karren nirgendwo mehr aufzufinden gewesen.

Trotzdem hatte Fortune es nicht über sich gebracht, die Pflanzen wegzuwerfen; es war ja nicht die Schuld der Kamelien, dass er so leichtgläubig einem Betrüger auf den Leim gegangen war.

Als hätte ihn eine grandiose Idee überfallen, fuhr Wang hoch wie ein Schachtelteufel.

»Fu-Chung braucht Heiterkeit! Spaß! Hat Zeit jetzt in Shanghai! Fu-Chung und Wang gehen aus! Gehen spielen. Mahjong. Fan Tan. Geht alles hier. Fu-Chung heißt doch wie Glück – und wenn gut geht, sind Wang und Fu-Chung dann reiche Männer!«

Irritiert runzelte Fortune die Stirn. »Ich spiele nicht um Geld.«

»Dann entspannt Fu-Chung mit Wang. Gehen jeder Pfeife Opium rauchen. Oder gehen trinken viel Gelber Wein. Schöner Tag für Fu-Chung und Wang, ja?«

Fortune schüttelte den Kopf; er war niemand, der sich gern berauschte.

Mit einem listigen Ausdruck auf dem Gesicht legte Wang den Kopf schräg.

»Singsong-Mädchen?«

Fortune hatte einige Zeit gebraucht, bis er begriffen hatte, dass die Gesangsdarbietungen der stark geschminkten Mädchen in farbenfrohen Seidengewändern nur einen Teil ihrer Dienstleistungen ausmachten. Nicht immer, aber häufig.

Unwillkürlich schoss ihm das Blut ins Gesicht. »Ich bin ein verheirateter Mann!«

Wang gab ein meckerndes Lachen von sich. »Häuser von Singsong leer, wenn nur junge Gesellen hingehen! Fu-Chung doch lange nicht mehr …«

Seine Geste, so unmissverständlich obszön wie wohl überall auf der Welt, ließ Fortune rasch die Augen abwenden.

»Frau von Fu-Chung weit, weit weg. Nicht sehen. Nicht fragen. Nicht wissen. Und Fu-Chung schon Singsong-Mädchen vergessen, bis wieder zu Hause.« Die Hitze in Fortunes Gesicht fühlte sich inzwischen mehr nach Verärgerung an.

»Nein, habe ich gesagt!«

Schnaufend warf Wang die Hände in die Luft. »Fein!«

Schwungvoll sprang er auf und klimperte großspurig mit einer Handvoll Münzen.

»Geht Wang alleine. Hat alleine Spaß! Kann Fu-Chung hier sitzen bleiben wie saurer Tropf.«

Er knallte die Tür hinter sich zu, dass der zerbrechliche Türrahmen klapperte. Der Luftzug, der dabei herüberwirbelte, ergriff die losen Papiere auf dem Tisch; mit gespreizten Fingern und Ellbogen warf Fortune sich schützend darüber, bis sich die Luft wieder beruhigt hatte.

»Sauertopf«, sagte er in die Stille hinein. »Es heißt Sauertopf.«

Zwischen seinen Fingern leuchtete es farbig hervor, und behutsam löste er die Hände von den Papierbögen.

Ein Porzellanmaler hier in Shanghai hatte die Skizzen für ein paar Käsch angefertigt, als Fortune sich in dessen Laden nach den Blumen auf den Vasen, Schüsseln und Kannen erkundigt hatte.

Paeonia suffruticosa. Strauchpfingstrosen. Päonien.

moutan.

Nicht rosafarben oder weiß wie in Europa. Sondern krapprot. Pfirsichfarben. Fliederlila. Zartgelb und purpurdunkel.

Eine sogar meeresblau, eine andere fast schwarz, von einer verführerischen, verwirrend lasziven Schönheit.

Jaja, hatte der Porzellanmaler unter eifrigem Nicken bestätigt, während der farbgetränkte Pinsel in schlafwandlerischer Sicherheit über das Papier wischte und eine Päonie nach der anderen erblühen ließ. Gibt mudan hier, in Shanghai. Solche alle. Muss Herr suchen gehen, dann findet auch.

Er erinnerte sich an einen Wortwechsel vor ein paar Tagen. In einem Kräuterladen, der in riesigen Lettern dafür warb, dass dort Englisch gesprochen wurde.

– Nein, leider, hier gibt es keine Gärtnerei. Nirgendwo.

– Aber wo kommen denn die Chrysanthemen her, die ich überall sehe?

– Wenn Sie Blumen wollen, dann gehen Sie doch in einen Blumenladen. Warum kaufen Sie die denn nicht dort, so wie alle anderen Leute in Shanghai?

– Weil die Blumenläden nicht das haben, was ich will.

– Dann sagen Sie uns, was Sie haben wollen, und wir besorgen es Ihnen.

– Ich kann Ihnen nicht sagen, was ich will. Ich spreche die Sprache nicht, ich weiß nicht, wie das hier heißt, was ich haben will. Würden Sie denn jemanden in eine Gärtnerei schicken, wenn ich Ihnen die Namen geben könnte?

– Aber ja!

– Also gibt es hier doch Gärtnereien?

– Jaja. Aber die sind weit weg. Sehr weit weg. Dauert sehr lange, dort was zu besorgen, und wird sehr, sehr teuer.

Mit den Fingerkuppen fuhr Fortune auf dem Papier die üppig gefüllten Blüten nach, glaubte die fedrigen, seidenweichen Blütenblätter auf der Haut zu spüren.

Auf eine merkwürdige Art mischte sich sein Verlangen nach diesen Päonien mit der Sehnsucht nach Jane, die Wang mit seiner plumpvertraulichen Bemerkung frisch geschürt hatte.

Eine Verquickung zweier unterschiedlicher Dinge, die ihre langen Wurzeln tief in sein Innerstes hinunterließ. Ihn seltsam verlegen machte und ihm erneut das Blut ins Gesicht trieb.

Er musste diese Päonien finden, wie und wo auch immer.

Sorgfältig bündelte er die Skizzenblätter und steckte sie ein.

Mit offenen Augen wanderte er durch die Gassen der Stadt. Ohne zu wissen, wonach genau er Ausschau halten sollte; nur mit der Hoffnung, über kurz oder lang einen Fingerzeig zu erspähen, der ihm den Weg zu den Päonien wies.

Shanghai hatte sich merklich verändert seit seiner Ankunft vor sechs Wochen.

Geschäftig war die Stadt auch da schon gewesen. Doch diese Betriebsamkeit hatte im Lauf des vergangenen Monats an Geschwindigkeit gewonnen, an Dichte. Fieberhaft war sie geworden und beinahe gierig, seit die Segelschiffe aus dem Westen wie hungrige Möwenschwärme in den Hafen einfielen.

Im Vorbeigehen beobachtete er, wie ein Barbier mit flinker Klinge seinem Kunden den Kopf rings um den langen Flechtzopf kahlschor, während sein Gehilfe einem zweiten Mann mit einem Metallstäbchen in den Ohren stocherte.

Ein paar Schritte weiter entdeckte er getrocknete Pilze in bizarren Formen. Die Körbe daneben waren mit schrumpeligen rosafarbenen Würmchen gefüllt, die aussahen wie in der Sonne zusammengeschnurrte Garnelen. Und mit Gedörrtem, das vielleicht einmal Muschelfleisch gewesen sein mochte. Den seltsamen Würstchen dahinter schenkte er nur einen flüchtigen Blick; grau und faltig, hatten sie etwas Phallisches. Von einer verwelkten Geschlechtlichkeit, die selbst ihn, den Botaniker und Naturfreund, verstörte.

Er konnte nur hoffen, dass es sich dabei um etwas Pflanzliches handelte, oder wenigstens um weiteres Meeresgetier, und nicht etwa anderen Ursprungs war.

Ein Gefühl des Unbehagens blieb ihm jedoch, wie ein Distelzweig zwischen seinen Schulterblättern, wohin er auch seine Schritte lenkte. Zwischen den vielen Bettlern hindurch, die sich ihm mit herrisch ausgestreckter Hand in den Weg stellten, als forderten sie ein verbrieftes Recht ein.

Jemand folgte ihm.

Das bildete er sich nicht ein, er konnte es spüren, selbst im Gedränge der engen Gassen.

Er warf einen Blick über die Schulter.

Ein Junge, bestimmt nicht älter als acht oder neun Jahre alt. Obwohl Fortune sich hier in China immer noch schwertat, so etwas abzuschätzen.

Die dicke Jacke, die vielfach geflickt war und deren Wattierung trotzdem an mehreren Stellen hervorquoll, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie mager dieser Junge war, die Augen riesig im spitzen Gesicht, wie bei einer Maus.

Beim nächsten Blick zurück waren es schon drei solcher Jungen. Ähnlich gekleidet, von ähnlich ärmlichem Aussehen und ungefähr im selben Alter.

Eine Ecke weiter hatte sich das Grüppchen auf sechs erweitert.

kwei-tsz, zischte es hinter ihm durch die Luft, kaum lauter als ein Ausatmen.

Sohn des Teufels.

Hier in Shanghai hatte er solche Worte ebenfalls zuerst gelernt. Wie das nur wenig freundlichere hong mou jin, rothaariger Mann, das auf alle Weißen gleichermaßen angewendet wurde.

Mit einem Ruck blieb er stehen und drehte sich um.

»sare?!«, rief er den Kindern zu. Was?!

Ein etwas größerer Junge schob sich zwischen den anderen hindurch und warf sich geschäftsmännisch in die Brust.

»O-pe-um für Herr?«, lockte er selbstbewusst. »Singsong?« Er drückte sich näher an Fortune und setzte in verschwörerischem Raunen hinzu: »Boys?«

Fortune schüttelte ungehalten den Kopf. Auf die Art, wie man ein Insekt abwehrte, das einen umsurrte; er wollte die Worte des Jungen ebenso losweden wie die Ahnung einer finsteren Unterwelt Shanghais.

Der Junge blickte ratlos drein. Der Blick, den er mit den anderen Jungen wechselte, wirkte enttäuscht.

Fortune holte die Papierbögen hervor. »sa-di-fan – wo?«

Er deutete auf die Skizzen und rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander.

Die Jungen steckten die geschorenen Köpfe zusammen und tuschelten eifrig; schließlich nickte derjenige, der ihm die Vergnügungen der Stadt angeboten hatte, und hielt Fortune eine staubige Handfläche entgegen.

Fortune schüttelte wieder den Kopf, ließ zwei Finger durch die Luft marschieren, nickte kurz und rieb noch einmal Daumen und Zeigefinger aneinander.

Der Junge schien zu verstehen, dass er erst Geld sah, wenn er den kwei-tsz ans Ziel gebracht hatte. Gleichgültig zuckte er mit den Schultern und winkte Fortune, ihm zu folgen.

Das Gedränge in den Straßen dünnte sich aus, während der Junge ihn tiefer und tiefer in die Eingeweide der Stadt führte, und auch die Lärmkulisse versickerte allmählich.

Fortune tastete nach der Pistole an seiner Hüfte, sah sich wachsam um.

Die übrigen Jungen gingen ein paar Schritte hinter ihnen, gespenstisch still und in unkindlichem Ernst. Das Zwielicht der Gassen ließ ihre Gesichter wächsern aussehen; mit ihrem uniformen Äußeren und dem starren Blick ihrer dunklen Augen wirkten sie wie Untote.

An der Kreuzung zweier Gassen legte der Junge den Kopf in den Nacken und spie einen Laut aus, der von den Mauern der altersgebeugten Häuser kalt und hohl zurückgeworfen wurde.

Heiser wie ein Kauz war die Antwort, die von den geschwungenen Dächern zu ihnen herunterflog, und ein Schatten huschte hinter den Dachfirsten vorüber.

Fortunes Hand schloss sich fester um den Griff der Waffe.

Ein Geräusch wie von einer zuschlagenden Tür schallte durch die Gasse, in der der Junge schließlich stehen blieb. Mit einem Kopfrucken wies er hinter sich und streckte die Hand aus.

»Da?«, vergewisserte sich Fortune und deutete zu dem Tor, das er dunkel und schemenhaft ausmachen konnte.

Der Junge nickte ungeduldig, und auch seine Geste wurde fordernder.

Fortune ließ ein paar Käsch in die Jungenhand fallen und ging auf das Tor zu.

Das starke Holz, die schweren Eisenbeschläge und das Türchen über einem Guckloch ließen Rückschlüsse darauf zu, was für eine Stadt Shanghai war. Dass sich hinter diesem Tor Wertvolles verbarg. Fortune hatte die Hand schon gehoben, um anzuklopfen, als er auf der anderen Seite ein Schaben, dann ein metallisches Klicken vernahm.

Wie ein Riegel, der zugeschoben wurde.

Er pochte gegen das Holz und lauschte.

Nichts.

Er klopfte kräftiger an das Tor.

»Hallo? Ich komme wegen der Blumen. Päonien, moutan. Hallo? mudan

Alles blieb still.

Er presste das Gesicht an die Ritze zwischen den beiden Türflügeln, um vielleicht hineinspähen zu können. Er konnte nichts erkennen, der Spalt war zu schmal.

Der Lufthauch jedoch, der ihm entgegenstrich, brachte die Schwere nasser Erde mit sich. Die Frische grüner Blätter. Den Duft geöffneter Blüten. Nach Garten roch es; ein vertrauter, ein schmerzlich vermisster und ersehnter Geruch.

Mit der Faust hämmerte Fortune gegen das Holz.

Bis er begriff.

Noch bevor er Kinderfüße wegrennen hörte und schallendes Gelächter durch die Gasse fegte.

Ziellos ließ er sich wieder durch die Straßen der Stadt treiben.

Fortune wusste nicht, wo er gerade war und wie er zum Gasthaus zurückfinden sollte; es war ihm auch gleich. Hier draußen herumzulaufen, war immer noch besser, als dort in der düsteren Kammer zu hocken, durch die der Wind pfiff und abends oft genug die Kerze ausblies.

Er schlug den Kragen hoch und stopfte den Wollschal fester um den Hals. Seine dicke Jacke, die ihm zu Hause selbst bei scharfem Frost gute Dienste geleistet hatte, nützte ihm hier in Shanghai wenig. In dieser unbarmherzigen Kälte, die durch Mark und Bein drang. In diesem feuchten und salzigen Wind, der ihm ins Gesicht biss und in die Augen stach, bis sie tränten. Unter dem Hut waren seine Ohren jetzt schon Eisklumpen, die abzubrechen drohten.

Selbst in der strengsten Winterkälte Englands hatte er nie so gefroren wie hier in Shanghai.

Eine graue Stadt war es, zumindest jetzt im Winter. Die Mauern der Häuser waren grau. Die Straßen. Die Kleidung der Menschen und sogar deren Gesichter; als ob die Geschäftigkeit, mit der sie sich durch ihre Stadt bewegten, ihr Blut nicht in Schwung bringen konnte.

Ein Grau, das dieser Tage noch trübseliger wirkte hinter dem leuchtenden Rot der Banner, deren Schriftzeichen Fortune an Tintenspritzer erinnerten, an Spinnenbeine und die Fährten von Wildtieren. Trostlos war die Stadt, trotz der roten Lampions, die überall hingen und das baldige Neujahrsfest der Chinesen ankündigten.

Weihnachten daheim hatte Fortune versäumt, ein Weihnachten mit Jane und den Kindern. Einen Silvesterabend, Johns ersten Geburtstag und den ersten Tag des neuen Jahres.

Seit sechs Monaten war er jetzt in China.

Kein vollkommener Misserfolg, er hatte das eine oder andere vorzuweisen. Aber noch lange nicht das, was er selbst sich erhofft hatte. Was die Society von ihm erwartete.

Sechs Monate blieben ihm noch, um all das zu finden, was er hier suchte.

Er trauerte den prächtigen Päonien nach, die sich vielleicht tatsächlich jenseits des Tores befunden hatten. So nah und doch unerreichbar; nicht einmal einen flüchtigen Blick darauf hatte er erhaschen können.

Fortune gönnte den Gassenjungen das Geld; er hoffte, die paar Käsch würden ausreichen, damit sie sich die Bäuche mit Zuckerzeug vollschlagen konnten, wenigstens an diesem einen Tag.

Auf seinen Streifzügen jenseits der Stadtmauern hatte er viele Grabhügel gesehen, manchmal so weit das Auge reichte. Wellenhügel und Täler in einem Meer aus Gras, das der Wind durchwirbelte. Über dem die weißen Blüten von Anemone hupehensis wissend nickten wie Schicksalsgöttinnen, selbst jetzt, im Winter noch.

Eine Landschaft für sich, zwischen zeitloser Ewigkeit und dem Wimpernschlag eines Menschenlebens.

Einzelne Holzsärge warteten darauf, bestattet zu werden, von fürsorglicher Hand mit Stroh oder Flechtmatten umwickelt, um sie bis dahin vor der Witterung zu schützen. Oft genug jedoch hatte Fortune auch vergessene Särge gesehen, von der Zeit und den Elementen zersetzt, die menschlichen Überreste schonungslos preisgegeben.

Nichts hatte Fortune so getroffen wie die Kindersärge: schockierend kleine Holzkisten, von denen er viele gesehen hatte.

Viel zu viele.

Er konnte sich nicht vorstellen, wie man einen solchen Schicksalsschlag überwand. Immer wieder musste er an seine eigenen Kinder denken. An ihre warmen, zartgliedrigen Körper, so stark selbst bei Koliken, einem leichten Fieber, einem Schnupfen. Und doch so verwundbar. Sollte eines von ihnen Schaden nehmen, oder gar Jane, würde er erst Monate später in einem Brief davon erfahren.

Ohne etwas tun zu können, ohne Abschied zu nehmen, Welten entfernt.

Gedanken, die seine düstere Stimmung weiter verdunkelten, schwer wie Blei, mit einem Geschmack von Asche.

Während Wang irgendwo in dieser grauen Stadt den ausgelassenen Lebemann gab. Sich an Opium und Wein berauschte, sich Glücksspiel und Fleischeslust hingab.

Von seinem Geld.

Vom Geld der Society, korrigierte er sich sogleich. Das Wang im Augenblick fürs Nichtstun einstrich, weil auch er zum ersten Mal in Shanghai war und die Stadt ebenso wenig kannte wie die Sprache, die völlig anders war als in den Regionen weiter südlich.

Wang war ihm in Shanghai zu nichts nütze. In Shanghai verschwendete Fortune nur wertvolle Zeit und kostbares Geld.

Im Strömen und Strudeln der Menschenleiber tat sich weiter vorn eine Lücke auf, riss Fortune aus seinem dumpfen Brüten. Wie angewurzelt blieb er stehen, stutzte und starrte.

Ein Lastenträger prallte gegen ihn und überschüttete ihn mit einem energischen Wortschwall, der selbst in dieser fremden Sprache noch höchst unflätig klang. Fortune machte einen langen Hals, stürzte dann vorwärts.

Plötzlich hatte sein Weg ein Ziel. Er drängte sich durch die Massen und schlug einen Haken um ein Fuhrwerk herum. Einem Fitzelchen von etwas Vertrautem jagte er nach, in dieser fremden, unfreundlichen Stadt. Ohne sicher sein zu können, ob es nicht vielleicht zu Staub zerfiel, sobald er es in den Händen hielt.

Sofern er es überhaupt erreichte.

Unnachgiebig drängelte er sich in diesem trägen Pulk aus Leibern vorwärts. Nichts schien in diesem Augenblick wichtiger, als Gewissheit zu bekommen. Und viel zu langsam, zu mühselig kam er voran. Als versuchte er, einen Wasserfall hinaufzuschwimmen. Einem Lastkarren wich er aus und schob kurzerhand einen Mann beiseite, der mit einem Sack quer über den Schultern nicht vom Fleck zu kommen schien.

Wie viele Mädchen mit einem Schwert auf dem Rücken konnte es in diesem Land wohl noch geben?

»Lian! Lian!«

Erst als er über dem Brausen der Stadt seine eigene Stimme hörte, wurde ihm bewusst, dass er ihren Namen rief.

Загрузка...