Die Stimmen der Vögel fluten den Garten: tschilpende und trillernde Kaskaden aus den wieder grünen Sträuchern, den blühenden Bäumen.

In ihrem alten braunen Rock kniet Jane auf der Erde und verzieht die Keimlinge im Beet. Helen hat schon damit begonnen, das Unkraut zu jäten, das unter Frühlingsregen und Märzsonne überall hervorgeschossen kommt. Geschickt stellt sie sich dabei an, reißt die Pflanzen mit Stumpf und Stiel heraus und fragt lieber noch einmal nach, wenn sie unsicher ist.

Trotzdem ist es für sie ein Spiel, das genug Raum lässt, Blätter und Wurzelgeflecht genau zu betrachten. Genug Zeit, um Regenwürmer zu untersuchen, Käfer und Spinnen. Nach den ersten Schmetterlingen Ausschau zu halten, nach Bienen und Hummeln.

Genau wie es sein sollte, denkt Jane.

Einmal mehr wirft sie rasch einen Blick zu John. Immer in der Angst, er könnte unbemerkt durch die Hecken gekrochen und zum Bach hinuntergelaufen sein, in weniger als ein paar Sekunden; er ist so schnell auf seinen kurzen Beinen.

Zum wiederholten Mal atmet sie auf, dass er nach wie vor brav auf der Decke sitzt, die sie im Gras ausgebreitet hat. Vollkommen versunken ist er in seine eigene kleine Welt, die er sich aus Holzklötzen, Ästen und Steinen gebaut hat und von der er sich selbst erzählt. In seinen eigenen geheimen Worten, die er mehr und mehr nach ihrer und Helens Sprache formt.

Jane weiß nicht, wie ihre Mutter das früher geschafft hat, mit drei kleinen Mädchen rasch nacheinander. Wie es andere Frauen geschafft haben, die sie in Swinton kannte, mit fünf oder mehr Kindern, während sie weiter von früh bis spät als Wäscherin oder als Magd auf dem Anwesen arbeiteten, um die Familie satt zu bekommen.

Ihr Blick wandert über den Zaun, der über den Winter stark gelitten hat und gestrichen werden müsste. Weit, weit hinaus streift Jane mit ihren Gedanken, über die Wiesen und Felder und die alten Eichenbäume.

Der gesunde Menschenverstand sagt ihr, dass die Chinesen vermutlich nicht viel anders leben als die Leute hierzulande. Genauso hart arbeiten müssen sie, um ihre Familien zu ernähren, wie die Leute hier in Chiswick, in Swinton, Edrom, London oder Edinburgh. Die Frauen bringen genauso Kinder zur Welt und ziehen sie groß und bestellen vielleicht ein Gärtchen wie Jane.

Wie es die Menschen wohl zu allen Zeiten, an allen Orten getan haben. Ist das doch die Wurzel des Menschseins, mag sie auch über dem Erdboden jeweils unterschiedlich wachsen und verschieden blühen.

Allerdings vermag Jane sich nicht auszumalen, was in diesen chinesischen Gärten wächst. Was chinesische Mütter ihren Kindern zu essen geben. Worin sie sie kleiden, welche Spiele sie mit ihnen spielen.

Einmal mehr versucht sie sich vorzustellen, wie Robert seine Tage verbringt. Was er in China sieht, hört, erlebt. Wie es ist, dort zu sein, am anderen Ende der Welt.

Es gelingt ihr nicht.

China ist für sie die Pagode in Kew Gardens, die sie an einen Bleistift erinnert und der Tee in ihrer Tasse. Fremdartige Gesichter, mehr Märchenfiguren als realistische Porträts, eingefroren in rätselhaften Szenen, die in den Häusern reicher Leute hier Vasen und Schüsseln zieren.

Exotische Vögel und Blumen auf Tellern und Fächern, traumgleich in Pastell oder in unnatürlich leuchtenden Farben. Blaue Schnörkel auf weißem Porzellan wie eine Melange aus Wolken und Himmel.

Statisch ist ihr Bild von China, flüchtig und unwirklich.

China bleibt für sie ein verwaschenes Aquarell aus einem Märchenbuch. Das für Robert gerade jeden Tag fühlbare, greifbare Realität ist, seitdem er in dessen Seiten hineinspaziert ist, um diese fantastischen Blumen zu finden und sie später in englischem Boden Wirklichkeit werden zu lassen.

Helens kieksender Ausruf reißt sie aus ihren Gedanken.

Über den Zitronenfalter auf der ausgestreckten Hand hinweg strahlt Helen sie an, eine überwältigende, allumfassende Seligkeit auf dem Gesicht und mit leuchtenden Augen.

John kommt auf seine Schwester zugerannt. Fast zu schnell für seine noch nicht ganz sicheren Beinchen, muss er sich mit rudernden Armen ausbalancieren.

Ihre bedauernden Laute, als der Falter sich aufschwingt, verfliegen sogleich. Die Freude überwiegt, mit der die beiden Kinder mit Augen und Fingern dem Schmetterlingsflug folgen, durch den Garten hüpfen, ganz im Glück, ganz im Augenblick.

Ein Jahr ist es jetzt her, dass Robert nach China aufgebrochen ist. Ein Jahr, das erstaunlich schnell vergangen ist und doch viel zu langsam.

So viele Momente mit den Kindern sind Robert entgangen. Wie Helen mal in kaum wahrnehmbaren Übergängen, mal in Wachstumssprüngen zu dem kleinen Mädchen geworden ist, das jeden Tag tausend Dinge im Kopf hat, von denen sie erzählt, und genauso viele Fragen stellt. So viele Meilensteine hat er verpasst. Johns erster Zahn. Sein erster Geburtstag, die ersten wackeligen Schritte, die ersten Worte.

Keine noch so prächtige Orchidee, kein Geld der Welt kann ihm das zurückbringen.

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