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Still war das kleine Haus ohne die beiden Männer.
Still und traurig. Wie ich.
Ich wartete, bis es dunkel wurde. Die Nacht hatte etwas, das Abschiede leichter machte.
Bis zuletzt hatte Fortune keinen Verdacht geschöpft. Obwohl ich seine beharrlichen Nachfragen, ob ich nicht wenigstens nach Zhoushan mitkommen wolle, genauso beharrlich abgelehnt hatte.
Seine Arglosigkeit hatte mir ins Herz geschnitten. Wie er mich angelächelt hatte, als er sich von mir verabschiedete, bevor er mit Wang davonging, einen scheuen Glanz in den Augen.
Ich drückte seine dicke Jacke, die er über den Winter getragen und mit seinen anderen Sachen hiergelassen hatte, an mich. Strich über den groben Stoff, der an vielen Stellen abgeschabt war. Der Risse bekommen hatte und Flecken und nicht nur gut roch. Nach altem Schweiß, ranzigem Fett, Unrat. Aber auch nach Salz und Erde und Stein und Fortune.
Ich versuchte mir seine Frau vorzustellen. Diese Frau mit Augen von dunklem Blau und braunem Haar. Blass war sie bestimmt, wie die meisten Menschen von dort. Und hübsch. Kein Mann, der einen solchen Sinn für die Schönheit der Natur besaß wie Fortune, konnte eine Frau heiraten, die nicht hübsch war.
Nicht wie eine mudan. Wie Pfirsichblüten. Sondern wie die kleinen Wiesenblumen, denen er besondere Zuneigung entgegenbrachte. So stellte ich mir diese Frau vor, die sein Leben teilte, am anderen Ende der Welt. Die schon so lange auf ihn wartete und nun noch länger auf ihn warten musste.
Teilte sie seine Liebe zu den Blumen, seinen Sinn für deren Schönheit? Oder war sie ganz anders als er, lebhaft, gesellig und redselig? Eher klug oder von schlichtem Gemüt? Eine Frau von starkem Wesen, eine eigenständige Person? Oder doch nur der Schatten ihres Mannes, der sie allein gelassen hatte, um die Blumen Chinas zu erforschen? Bestimmt eine Frau, die gut kochen konnte und wusste, wie man ein Haus führte, ob allein oder mit Bediensteten. Wie man ein solches Haus zu einem Heim machte, in dem ein Mann wie Fortune sich wohl fühlte.
Auch die zwei Kinder versuchte ich mir vorzustellen, die sie zusammen hervorgebracht hatten. Blauäugige Kinder mit weißer Haut, vielleicht bleichem Haar. Was für ein Vater Fortune wohl sein mochte. Sicher ein guter, ein liebbevoller Vater und nur manchmal streng, zumindest hoffte ich das. Wie ich mir wünschte, dass er sich über die Geburt seiner Tochter ebenso gefreut hatte wie über die seines Sohnes.
Aufdringlich kam ich mir vor, während ich mir Fortunes Alltag in England ausmalte, mit seiner Frau, seinen Kindern. Wie ein Spanner, und genauso erregt war ich von den vielen Leben Fortunes, die sich vor meinem inneren Auge entfalteten. Von denen keines meinem eigenen auch nur ähnelte.
In der ersten Zeit meiner Wanderschaft hatte ich gehofft, ein Kind von Yun in mir zu tragen. Damit mir etwas blieb. Von ihm. Von uns. Ich etwas Eigenes hatte, für mich allein.
Ein Segen, dass es kein Kind gegeben hatte. Mein Leben war nicht geeignet, um ein Kind großzuziehen.
Als die Nacht behäbig in die Stunde des Ochsen trottete, legte ich die Jacke zurück und schloss die Tür hinter mir.
Ich lief schnell, obwohl ich keine Eile hatte. Als ob ich fürchten müsste, mich anders zu besinnen, wenn ich einen Schritt zu langsam war.
Es war besser, wenn er nie erfuhr, was ich getan hatte.
Nie davon erfuhr, was ich fühlte.
Die Nacht wich gerade der Dämmerung, als ich im Hafen von Ningbo ankam.
Suchend ließ ich meine Blicke über die Schiffe schweifen, die vor Anker lagen. Bis ich einen Lastkahn entdeckte, unter seinen Fächersegeln bereits ungeduldig an den Tauen ruckend, die die Männer gerade eines nach dem anderen lösten.
»Heda, Seemann! Wohin fahrt ihr?«
Der drahtige Matrose, gerade erst vom Burschen zum Mann gereift, sah überrascht auf.
»Nach Süden. Nach Heunggong und danach weiter nach Zhanjiang. Der alte Seidenhafen, an der Küste der Walfische und der wilden Winde. Warum fragst du?«
Mein Herz schlug schneller. Zhanjiang. So weit im Süden war ich noch nie gewesen. Ich drehte mich halb um und wies auf Long Yuan auf meinem Rücken.
»Habt ihr noch Platz für eine jianghu?«
Er deutete einen höflichen Gruß an, bevor er mir seine Hand entgegenstreckte.
»Aber immer!«