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Donnerstag, 28. März 1844

Die Zeit der Kamelien hat hier in Zhoushan ihren Höhepunkt. Von unbeschreiblicher Pracht, in gleich zweierlei Arten – japonica und reticulata – und in allen nur denkbaren Schattierungen von Rosa und Rot.

Meine Sammlung an konservierten und lebenden Specimina wächst täglich, während ich über die Insel ziehe. Obwohl meine körperliche Bewegungsfähigkeit derzeit leicht eingeschränkt ist. Jeder Muskel im Leib schmerzt, ich bin von Prellungen und Schrammen übersät – dank der Unterweisung in die chinesische Kampfkunst, die ich jeden Morgen erhalte. Von einem Mäd

Lian, eine Frau, die

Sie

Montag, 29. April 1844

Launisches Frühlingswetter in Ningbo (Ning-po nach englischer Schreibweise). Meist schön, aber mit überraschend auftretenden Schauern und extremen Temperaturschwankungen: von 57 Grad Fahrenheit hinunter auf 45 und wieder zurück, in kürzester Zeit.

Später hier angekommen als geplant, aufgrund widriger Winde während der Schiffspassage – aber offenbar doch gerade zur rechten Zeit, zur Obstblüte. Als ich vor fast einem halben Jahr hier war, im späten Herbst, hatte ich keine Vorstellung, wie es hier im Frühling sein würde. Diese Vielfalt ist beinahe unvorstellbar: Cerasus – avium, campanulata, cyclamina, japonica. Prunus – amygdalus und persica, salicina, insititia, simonii, cerasus, cerasifera. Und die ganz zauberhafte glandulosa, deren Blüten aussehen wie kleine Päonien.

Mein Hauptaugenmerk aber gilt dem Tee, Thea bohea und T. viridis. Zu diesem Zweck habe ich vor, in den nächsten Tagen in das Hinterland aufzubrechen, in der Hoffnung, mehr darüber zu erfahren.

AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE

Über den Fluss ins Landesinnere, in die Berge, zu reisen, war, wie in einem Boot durch ein Wolkenmeer zu gleiten.

Die Bäume quollen über vor Blüten in Weiß und Rosa, gleich ob Pflaume, Kirsche, Pfirsich oder Mandel. Die Luft flirrte vor Blütenstaub und vibrierte vor der Geschäftigkeit der Bienen und Hummeln.

Trotzdem war Fortune froh, als die Blütenwolken zerfaserten und sich auflösten, der Kanal zwischen grünen Hügeln schließlich ein Ende nahm. Nach geschätzten zwölf bis vierzehn Meilen endlich aus dem winzigen Boot zu klettern und auf der Anlegestelle die Beine zu strecken, bedeutete eine enorme Erleichterung.

»In welche Richtung müssen wir?«, erkundigte er sich bei Wang.

»Warten Fu-Chung! Wang muss erst Stuhl für Berg besorgen. Für tragen Fu-Chung!«

Fortunes Blick folgte Wangs ausgestrecktem Zeigefinger.

Ein Stuhl für Berg bestand aus zwei langen Bambusstangen, die auf den Schultern zweier Träger ruhten. Als Sitzfläche diente ein Brettchen, das mit Schnüren am Bambus befestigt war, ergänzt von Fußstützen nach demselben Prinzip.

Fortune sah einem Chinesen hinterher, der in äußerst gemächlichem Tempo auf diesem wackelig aussehenden Transportgerät davongeschaukelt wurde, auf einen Pfad zwischen den grasbewachsenen Hügeln zu.

Allenfalls der aufgespannte Papierschirm, der an einem der Bambusrohre befestigt war, schien im hiesigen Wetter verlockend. Obwohl Fortune bezweifelte, dass das Material einem kräftigeren Regenguss standhalten konnte.

»Auf gar keinen Fall«, knurrte er. »Nicht bevor ich achtzig und höchst gebrechlich bin.«

Er hängte sich seinen Beutel und die Botanisiertrommel um, drückte sich entschlossen seinen Hut auf den Kopf.

»Also – wo entlang müssen wir?«

Wang starrte ihn entsetzt an und gab dann einen Stoßseufzer von sich.

»Da lang!«

Fortune marschierte voraus, gefolgt von Lian, während Wang hinterhertrottete.

Ihr Gänsemarsch weckte das Interesse zweier alter Männer, die müßig am Rand des Kanals saßen.

»Er geht«, hörte Fortune den einen sagen.

»Zu Fuß!«, pflichtete der andere bei.

In verwunderter, gedankenschwerer Stille musterten sie Fortune.

»Was kann man machen«, zog der eine seinen weisen Schluss. »Das ist eben deren Natur!«

Wie um seinen Herrn zu entschuldigen, gab Wang einen weiteren Seufzer von sich, der Stein in Butter hätte verwandeln können.

Schweigend stapften sie den Pfad hinauf, der sich an der Flanke des Berges entlangwand.

Still war es. Gespenstisch still, nicht einmal ein Vogel oder auch nur ein sirrendes Insekt war in den Gräsern, in den Büschen zu hören.

Außer ihnen war weit und breit keine Menschenseele zu sehen.

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, rief Fortune über die Schulter.

»Ist einzige Weg, oder nicht?«, gab Wang kratzbürstig zurück.

Jetzt war es an Fortune, zu seufzen.

Das Licht verlor seine Farbe, seine Wärme, und die Luft kühlte merklich ab. Fast eisig schlug sie Fortune entgegen.

Prüfend schaute er zum Himmel hinauf, der sich verdunkelt hatte. Ein fernes Donnergrollen entlockte ihm einen gemurmelten Fluch. Die ersten Tropfen klatschten herunter, gewannen rasch an Dichte, und dann öffneten sich auch schon die Schleusen des Himmels.

Fortune war nass bis auf die Haut; Wasser troff von seinem Hut und nahm ihm die Sicht. Bäche sprudelten über den Pfad; mehr als einmal glitt er im Schlamm aus, stolperte über einen Stein, der sich gelockert hatte. Sein Beutel, die Botanisiertrommel und die umgehängte Flinte, die er für zu wertvoll hielt, als dass er sie in der Herberge gelassen hätte, waren ihm hinderlich, wogen jetzt schon schwer. Als sein Fuß einmal mehr unter ihm wegrutschte, wünschte er sich, er hätte daran gedacht, den Bambusstock mitzunehmen.

Er dachte an die Specimina der Obstblüten in der trockenen Kammer in Ningbo. An seine reiche Sammlung aus Zhoushan und an die Glaskästen voller Pflänzchen dort. Obwohl er sich wieder und wieder sagte, dass diese Pflanzen für niemanden außer ihm von Wert waren, war ihm doch das Herz schwer bei der Vorstellung, jemand könnte sie während seiner Abwesenheit stehlen, sie mutwillig oder aus Versehen zerstören. Ein Wagnis, das er hatte eingehen müssen für diese Exkursion in die Teefelder. Jetzt fragte er sich, ob dieser Preis nicht vielleicht doch zu hoch sein könnte. Selbst für das grüne Gold.

Er blieb stehen und drehte sich um.

»Ist es noch weit?«

»Woher soll Wang wissen? War auch noch nie in Kloster von Tiantung!«

Lian hatte sich sichtbar versteift.

»Ein Kloster? Du hast nichts von einem Kloster gesagt!«, fuhr sie Wang an.

»Du hast auch nicht gefragt!«, giftete Wang zurück.

In ihren Augen funkelte es. Einen Augenblick lang glaubte Fortune, sie würde sich auf Wang stürzen oder einfach auf dem Absatz kehrtmachen. Stattdessen atmete sie jedoch tief durch und schob sich an Fortune vorbei, nach vorne.

In einem Aufflackern von Ritterlichkeit wollte er sie davon abhalten, vorauszugehen. Sah sie schon von einem herabstürzenden Fels getroffen, von einer Schlammlawine begraben. Doch so zielstrebig und sicher, wie sie vorausmarschierte, blieb kein Zweifel, wer von ihnen die größte Gewandtheit in unwegsamem Gelände besaß. Die schärfsten Sinne und die meiste Erfahrung.

Geschickt wich sie Schlammlöchern aus und schien genau zu wissen, welcher Stein festen Tritt bot und welcher besser zu umgehen war.

Fortune trat in ihre Fußstapfen, hielt sich mit Blicken an dem Schwert fest, das auf ihrem Rücken tanzte.

Bis es zu dunkel dafür war.

Finsternis umfing ihn.

Eine Finsternis, in der nicht auszumachen war, ob sie von den Wolken herrührte, die sich bleiern an den Berg drängten. Ob die schwarzen Gestalten der Nadelbäume, durch die sich der Pfad zwängte, alles an Licht schluckten oder bereits die Nacht hereinbrach. Oben und unten, aufwärts oder abwärts – es war nicht mehr zu unterscheiden. Es gab nur noch ein Vorwärts, einen mühevollen Schritt nach dem anderen.

Grelle Blitze zerrissen die Dunkelheit und ließen Fortune geblendet zurück, gefolgt von Donnerschlägen, unter deren Nachhall der Berg erzitterte. Eine gesichtslose Gottheit, die den Sterblichen zürnte, weil sie sich in ihr geheiligtes Reich hinaufwagten.

In der Ferne glommen goldene Fünkchen in der Finsternis auf, in dem Toben der Elemente schwach und flüchtig wie Irrlichter.

Fortune wischte sich das Wasser aus den Augen, um besser sehen zu können.

Lichter von einer Behaglichkeit, die fast zu schön, zu unwirklich schien, um sich darauf freuen zu können. Die dennoch näher kamen, größer wurden. Die Dunkelheit erhellten und Hoffnung machten.

»Vorsicht«, sagte Lian über die Schulter. »Stufen. Stein ist glitschig.« Fortune nickte und setzte mit Bedacht einen müden Fuß vor den anderen. Auf dieser Treppe, die kein Ende nehmen wollte und die, statt auf die anheimelnden Lichter zu, geradewegs in den gewitterdunklen Himmel hinein zu führen schien.

Aus dem Rauschen des Regens, dem Rumpeln des Donners schälten sich Stimmen, schäumten zu ihnen herunter.

Herein! Was für ein Wetter! Herein, nur herein! Willkommen! Warm bei uns und trocken. Hunger? Kommt herein!

Lachende Gesichter und Roben in Gelb, Orange und Rot schwebten ihnen entgegen, umtanzten sie wie fröhliche Schmetterlinge, die sich in der Jahreszeit geirrt hatten.

Flackernde Lämpchen füllten den Raum mit sanftem Licht. Mit einem Geruch, der die Aromen der aufgetragenen Mahlzeit beizte.

Im Schneidersitz kauerte Fortune an der niedrigen Tafel, mitten in einem kleinen Kreis aus Mönchen, die andächtig ihrem Abt lauschten.

»Vor vielen, vielen hundert Jahren«, begann er gerade seinen Gästen die Geschichte dieses Klosters zu erzählen, »zog sich ein frommer alter Mann von der Welt zurück. Hierher, in diese Berge, um sich ganz seinem Glauben zu widmen. So ernst war es ihm mit dieser Hingabe, dass er all seine irdischen Bedürfnisse vernachlässigte. Sogar das Essen. Die Vorsehung jedoch …«

Fortunes Blick wanderte über die dampfenden Schüsseln hinweg zu Lian.

Mädchenhaft scheu sah sie aus, wie sie mit gesenkten Lidern hier am Tisch saß, das noch feuchte Haar zum strengen Zopf geflochten.

Stets aufs Neue sah er sie vor sich, als er die Anhöhe hinter Tinghae erklomm, wie sie allein mit ihrem Schwert gekämpft hatte wie gegen eine ganze Armee aus Geisterkriegern. Dunkel und rau waren die Rufe gewesen, die sie dabei ausstieß. Von einer solch archaischen, geradezu dämonischen Kraft, dass es ihm die Nackenhaare aufstellte.

Die Rufe einer Kriegerin.

Ein Schatten war sie gewesen im pastelligen Licht des Morgens, der scheinbar mühelos alle Grenzen des menschlichen Körpers und der Schwerkraft sprengte. Ein Tropfen unbändiger Lebenskraft, der wie durch einen Zauber akrobatische Sprünge und Drehungen vollführte, in einer Schnelligkeit, von der er niemals geglaubt hatte, dass ein Mensch dazu fähig sein könnte. Schon gar nicht mit einem Schwert in der Hand.

Ein Anblick, der ihn mit Bewunderung erfüllt hatte. Mit staunender Ehrfurcht.

Während er selbst unter Lians Anleitung mit den allereinfachsten Grundlagen des Kampfes rang. Die Koordination von Augen, Armen, Beinen. Das Wechselspiel von Anspannen und Loslassen. In einer hölzernen Steifheit. Einer quälenden Langsamkeit. Sogar das richtige Atmen musste er erst lernen.

Das Licht in diesem Raum des Klosters, dieses sanfte, flackernde Licht, brachte etwas an Lian zum Leuchten. Der Widerschein auf dem roten Gewand, das die Mönche ihr geliehen hatten, bis ihre eigenen Sachen am Feuer getrocknet waren. Weich und weiblich wirkte sie.

So viele Gesichter hatte er schon an ihr gesehen. So viele Rätsel, die sie noch bergen mochte.

Etwas regte sich in seiner Brust.

»… nichts anderes als ein Wunder war es, dass diese Jungen sich jeden Tag hier auf dem Berg einfanden, um ihm Reis zu bringen und Früchte und Beeren. Damit der alte Mann nicht des Hungers starb, während er den Weg der Erleuchtung beschritt. Jungen, die blieben, um ebenfalls diesen Weg zu gehen. Durch das ganze Land verbreitete sich die Kunde vom alten Weisen auf dem Berg und seinen Schülern, und aus allen vier Himmelsrichtungen strömten Suchende herbei, die nach Rat und Unterweisung verlangten. Ein Tempel wurde errichtet, der den Namen Tiantung bekam – Tempel der Himmelsjungen ...«

Neben ihm unterdrückte Wang ein Gähnen, begann dann unruhig auf dem Sitzpolster hin und her zu rutschen.

»… deshalb ist es nicht nur unsere Pflicht, Reisenden wie euch ein Obdach zu geben und sie reichlich zu bewirten. Sondern vielmehr eine Ehre, die uns an die Ursprünge unseres Klosters erinnert.«

Auf einen Wink des Abtes hin griff einer der Mönche zum Schöpflöffel, und aufatmend hielt ihm Wang seine Essensschale hin.

»Nicht übel«, flüsterte er Fortune nach den ersten gierigen Happen zu. »Für ohne Fleisch. Weil Mönche von Buddha nicht essen Tiere.«

Überrascht betrachtete Fortune den Inhalt seiner Schale, der ihm ausnehmend gut schmeckte; er hätte schwören können, dass Huhn oder Rind darunter war.

Während Wang mit vollem Mund den Männern des Klosters von ihrer Anreise erzählte und die überstandenen Gefahren aufs Dramatischste ausschmückte, fiel Fortune auf, dass keiner der Mönche mitaß.

Unwillkürlich wanderte sein Blick über die anwesenden Gesichter, manche davon noch kindlich, andere schon im mittleren oder sogar höheren Lebensalter. Glückliche Gesichter schienen es zu sein: sie lachten viel, während sie mit glänzenden Augen Wangs Schilderungen folgten, ihn mit neugierigen Fragen bestürmten. Ausgezehrt wirkte keines dieser Gesichter, aber auch nicht besonders wohlgenährt. In der Annahme, dass diese üppige Mahlzeit für unangekündigte Gäste zu Lasten der Mönche gehen könnte, ließ er seine Stäbchen sinken.

»Ist in Ordnung«, hörte er Lian auf Englisch flüstern. »Sie haben schon gegessen. Mönche essen nie spät. Und ist Brauch, Gästen viel zu geben. Bringt Segen.«

Seine Befürchtung wurde dann auch noch vom Abt selbst zerstreut, der erzählte, dass das Kloster von seinen Ländereien lebte. Vom Verkauf von Bambus und Feuerholz, von Reis und Tee. Dazu kamen die Gaben der Gläubigen, die hierher pilgerten, und die Almosen, die ausgesandte Mönche von ihren Wanderungen mitbrachten. Genug, um die insgesamt hundert Mönche ausreichend zu versorgen, von denen aber nur ein Bruchteil ständig im Klosterbau lebte.

Und obwohl Fortune ihm aufmerksam zuhörte, sich ab und zu an einer Frage auf Chinesisch versuchte, sah er immer wieder zu Lian.

Sie, die sonst mühelos eine Portion wie für einen ausgewachsenen Mann vertilgen konnte, pickte nur zaghaft in ihrer Essensschale. Traurig und angestrengt wirkten ihre Züge, ihre Schultern waren angespannt.

Sie litt. Ohne dass er wusste, warum, oder etwas daran ändern konnte.

Die Regung in seiner Brust verstärkte sich, der eilige Flügelschlag eines jungen Vogels, der fliegen lernt.

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