Freitag, 26. 1. 90


Lieber Jo!

Jan Steen hat unser Schicksal entschieden! Es war gruselig wie im Märchen, doch am Ende bekam der dumme Iwanuschka25 den Schatz!

Wäre uns klar gewesen, was für uns bei dieser Reise auf dem Spiel stand, hätten wir es wohl nicht ausgehalten, auf Michaela zu warten, die erst in der Nacht entschieden hatte mitzukommen und deshalb noch morgens Tante Trockel als Aufsicht für Robert herausklingeln mußte.

Von siebeneinhalb Fahrtstunden blieben uns knapp sechs, nur eine mehr, als Jan Steen mit seinem Flitzer für dieselbe Strecke braucht. Michaela behauptete, Roberts Schulatlas auf den Knien, die Beifahrerposition und tat überhaupt so, als gebe es weder Jörg und Georg im Auto noch Jan Steens Wegbeschreibung. Trotzdem war ich froh, daß sie dabei war.

An der Grenze in Schleiz mußte ich den Kofferraum öffnen. Der Zöllner griff nach dem Schuhkarton mit den Flugblättern und den» klartext«-Ausgaben26, Michaela hatte auf deren Mitnahme bestanden. Der Zöllner hielt die» Druckerzeugnisse «zwischen seinen Handschuhhänden und las oder tat wenigstens so, während Auto für Auto an uns vorbeirollte. Was das denn sei, fragte er.»Steht doch drauf«, sagte ich,»ein Aufruf zur Demo nach der Besetzung der Staatssicherheitsvilla.«

Als er sie zurücklegen wollte, hatte sich der Stapel verschoben und paßte nicht mehr in den Karton. Er stopfte die Blätter zurück, erteilte mir einen Wink, der alles hätte bedeuten können, und schlurfte in seinen Stiefeln davon, die matt in der Morgenröte glänzten. Ich fuhr sehr langsam über die Brücke, damit wir die Schneise im Wald sehen konnten.

Meine drei Beifahrer waren bald eingenickt, ich hingegen genoß alles, den rosaroten Wintermorgen, das seltsam flatternde Geräusch, das die Reifen auf der Fahrbahn machten, die weiten Kurven, das Tempo, die Musik, die Verkehrsnachrichten, die Lastzüge und dahinjagenden Autos, die Felder und Dörfer und Hügel. Sogar der Schnee erschien mir an diesem Morgen westlich!

Den einzigen Stopp machten wir hinter Nürnberg. Um Tankstelle und Raststätte herum tummelten sich unsere Landsleute, die mit ihren Stullenpaketen und Thermosflaschen bei heruntergekurbelten Scheiben picknickten. Allein an ihren eifrigen Kaubewegungen und ruhelosen Blicken hätte man sie erkennen können. Nachdem ich einen Parkplatz gefunden und den Kofferraum geöffnet hatte, meuterte Michaela. Wenn es schon ein Restaurant gebe, wolle sie keinesfalls wie ein Hund vor der Tür bleiben. Sie lud uns ein.

Während ich mit Georg und Jörg noch unschlüssig an den Glaskästen mit den ausgestellten Speisen entlangschlich, drängte sich auf Michaelas Tablett schon rote Grütze mit Vanillesauce an Apfelstrudel, Obstsalat an Brötchen. Für jeden von uns hatte sie Rühreier bestellt, nur um Kaffee oder Tee sollten wir uns selbst kümmern.

Selbst Jörg, der, wie ich erst am Tisch sah, seine Brote mitgebracht hatte, kapitulierte vor diesem Tischlein-deck-dich und schmierte sich Butter aufs D-Mark-Brötchen und häufelte darauf Rührei mit Schinken.

Georg holte noch einen Teller Weißwürste mit süßem Senf, Michaela entdeckte Gurkensalat, Gurkensalat im Winter!

Wir füllten einen Kanister in den Tank und fuhren auf der Überholspur den Berg hinab. Ich freute mich an den Namen, die auf den Schildern auftauchten: Heilbronn, Karlsruhe, Strasbourg, Freiburg, Basel, Mailand. Ich hätte mich nicht mal gewundert, wenn wir plötzlich unter Palmen dahingebraust wären.

Kurz vor zwölf fuhren wir in Offenburg ein, fanden den» Ratskeller «und standen pünktlich vor Steen, der mit Wolfgang, dem Hünen, beim Bier saß. Alles drehte sich um Michaela. Steen lud sie ein, mit ihm zu fahren, Georg und Jörg wurden nach hinten verfrachtet, und ich tuckerte mit Wolfgang hinterher.

Der hatte mich bei der Begrüßung stumm umarmt, jetzt redete er ohne Punkt und Komma: wie wichtig es gewesen sei, pünktlich zu erscheinen, mit Bravour hätten wir das gemacht, mit Bravour, Steen halte viel von uns, endlich habe er jemanden, auf den Verlaß sei, Leute, die etwas wollten, es anpackten und nicht darauf warteten, daß ihnen gebratene Tauben in den Mund flögen. Steen habe seine gesamte Werbung für die Leipziger Messe storniert, die Anzeigen bekämen nun wir, ob das nicht eine Bravourleistung sei, diesmal von ihm? Er klatschte mir auf den Schenkel. Es ging den Schwarzwald hinauf. Ein paar Serpentinen genügten, um Steen zu verlieren. Erst als wir wieder abwärts fuhren, fanden wir Anschluß.»Verlangt tausend Mark, tausend De-eM pro Seite«, sagte Wolfgang, ohne den Kopf zu drehen.»Tausend D-Mark pro Seite«, antwortete ich.

Auf dem Parkplatz der» Sonne «standen Georg und Jörg, jeder für sich, als würden sie lauschen. Es war die Luft! So fein und kalt war sie, daß das Atmen weh tat.

Michaela, die mehr lag als saß, ließ die dunkle Scheibe auf und ab surren und stieg erst aus, als ein Angestellter des Hotels nach unserem Gepäck fragte. Sie folgte ihm, während wir von Steen ins Restaurant dirigiert wurden. Steen führte mehrere Unterhaltungen gleichzeitig, er hielt uns in Atem.»Tausend D-Mark«, flüsterte ich Jörg zu.

Das Restaurant schien geschlossen, wir waren die einzigen Gäste. Steen steuerte einen Ecktisch an, schob sich auf die Bank und blieb unter dem ausgestopften Kopf eines Rehbocks sitzen. Ich ging auf die Toilette. Ich war mir nicht sicher, ob Jörg mich verstanden hatte, und ließ mir Zeit, doch weder Georg noch Jörg kamen nach.

Jörg sprach von der geplanten Auflage, dem Verbreitungsgebiet, der Anzahl der Seiten usw.»Und Eigentümer«, unterbrach ihn Steen,»sind Sie beide?«, und dabei nickte er Jörg und Georg zu. Er beabsichtige, bei uns» Anzeigen zu schalten«. Wieviel das denn so koste.

Georg und Jörg schwiegen. Immerhin wollte Georg dann wissen, um was für eine Reklame es sich handle. Steens Doppelkinn trat wieder in Aktion, doch er beruhigte sich schnell.»Lufttechnische Anlagen«, rief er,»was sonst? Eine Seite!«Georg begann einen Satz, noch einen, dann den nächsten und übernächsten, ohne auch nur einen zu beenden.»Zwölf Seiten am Anfang, brauchen jede Spalte, Werbung, die niemand versteht, zwölf Seiten nur, halbrheinisch, das ist nicht viel, wenn man, und Lufttechnische Anlagen, was denn anfangen damit, in Altenburg und Umgebung, eine ganze Seite, warum gleich eine ganze Seite?«

«Was soll das heißen?«rief Steen und sah zu Wolfgang.

«Das muß man bedenken …«, sagte Jörg, verstummte jedoch mitten im Satz und sah in Richtung Steen, der hinter der Speisekarte — jeder hatte eine bekommen — verschwunden war. Wolfgang holte Luft …

«Eine ganze Seite kostet eintausendzweihundert D-Mark«, rief ich, als hätte ich endlich den Preis ausgerechnet. Steens Kopf erschien wieder und sah von einem zum anderen.»Tausendzweihundert«, wiederholte ich und versuchte zu lächeln.

«Ahhch«, stöhnte Steen und warf sich gegen die Lehne. Er musterte mich, was ihm offenbar Vergnügen bereitete.

Jörg blinzelte mich an, als säße ich ein paar Tische entfernt. Georg starrte auf seine Hände. Wolfgang holte hörbar Luft. Und ich hielt bereits meinen Entschuldigungsmonolog.

Steen sagte etwas, das wie» neuja «oder» heuja «klang, stemmte sich auf die Tischkante und sagte wortwörtlich:»Ich geb euch erst mal zwanzigtausend, und dann sehen wir weiter, einverstanden?«Er erhob sich halb, streckte zuerst Georg die Hand hin, dann Jörg und zum Schluß mir. Seine Krawatte tauchte in ein leeres Weinglas und blieb, nachdem er sich gesetzt hatte, auf dem Tellerrand vor ihm liegen.»Wie wollt ihr’s denn, cash oder Scheck?«Die Kellnerin stellte vor jeden von uns ein halbvolles Sektglas.

«Na was?!«fragte Steen.

«Scheck nützt nichts«, sagte Jörg.

«Also cash!«entschied Steen, griff nach dem Glas, stutzte jedoch, weil niemand sich rührte.

«Bar«, rief Wolfgang und erhob seinerseits das Glas,»cash heißt bar!«

Stille. Jörg sagte, bar sei gut, sehr gut. Da wurde Steens Körper ein Stück angehoben, sein Mund platzte auf und ließ ein Lachen los, ein Lachen, das von den Wänden schallte und wie ich es mein Lebtag noch nicht gehört hatte.»Cash«, jaulte Steen, sobald er eines Wortes fähig war, katapultierte sich jedoch gleich wieder mit einer Lachsalve hinauf, japste, verschluckte sich, hustete,»baaar!«. Sein Doppelkinn schüttelte sich zornig. Inzwischen rüttelte das Lachen auch an Wolfgang.

Je länger der Anfall währte, desto taktloser erschien er mir. Wolfgang wurde leiser und kniff schließlich nur noch die Augen zusammen, als hätte er bereits alles Lachen aus sich herausgepreßt.

«Bar ist sehr gut!«rief Steen. Mit einem zusammengefalteten Taschentuch fuhr er sich über den Mund, erhob sich und ging Michaela entgegen. An seinem Arm geleitete er sie zum Tisch. Als Paar stachen die beiden von uns ab wie Opernbesucher in der Straßenbahn.

Zu spät bemerkten wir, daß Steen jedem nur zuprostete, während wir klanglos miteinander anstießen. Ich leerte mein Glas auf einen Zug. Die Lebensgeister kehrten allmählich wieder. Die Blumen auf dem Tisch waren entgegen dem ersten Eindruck echt.

Es gab Spätzle mit Hirsch in einer unglaublichen Sauce. Steen bestrich jede Gabelladung zusätzlich mit einer Art Konfitüre. Die Vorsuppe war aus Brokkoli (sie zeigten uns eine rohe Staude, so ähnlich wie Blumenkohl, aber dunkelgrün). Steen dozierte ununterbrochen übers Essen, als sei alles andere geklärt, und verschwand nach einer knappen Verabschiedung vor dem Nachtisch, einem dunklen italienischen Kuchen, weich und feucht und sahnig.27

Ich weiß nicht, wann ich Michaela das letzte Mal so ausgelassen und schön gesehen habe wie bei diesem Essen. Als wir vom Tisch aufstanden, fragte sie, worüber Herr Steen denn so gelacht habe, und Georg antwortete, das sei ihm auch nicht ganz klargeworden. Aber Herr Steen hege die Absicht, uns zwanzigtausend D-Mark in die Hand zu drücken. Für zwanzigtausend D-Mark, sagte Michaela, könne man diese Ungewißheit in Kauf nehmen.

Um fünf sollten wir in Offenburg sein. Wir hatten uns hingelegt und ein wenig verschlafen, doch als wir ankamen, stieg die Altenburger Delegation gerade erst aus dem Bus. Die Offenburger waren irritiert, keinen Anführer in dem erwartungsfrohen Haufen ausmachen zu können. Ihr braungebrannter Bürgermeister schüttelte alle Hände und stellte sich trotz seiner Größe immer wieder auf die Zehenspitzen, als fürchtete er, jemanden übersehen zu haben. Wie zuvor Steen bot er Michaela seinen Arm und führte sie ins Rathaus, wo er eine Art Führung mit uns veranstaltete. Er legte Wert darauf, daß Michaela jeden Raum vor ihm betrat.

Wir bewunderten die cremefarbenen Teppichböden, die Computer, die Schreibtische, die Tastentelephone und ließen uns in den Sessel des Bürgermeisters fallen. Zum Abschluß wurde mit Sekt angestoßen, das Knabberzeug war schnell weg.

Ein zierlicher Mann in einem gelben Pullover blieb wie zufällig neben mir stehen und fragte nach einer Weile, ob ich ihm vielleicht etwas erklären könnte. Er bedankte sich im voraus und schilderte mir sein Problem: Täglich erhalte er aus Altenburg zehn bis zwanzig kleine Päckchen, in jedem befinde sich ein Skatspiel mit einer farbigen weiblichen Aktphotographie als Deckblatt. Die Leute wünschten sich Adressen in Offenburg. Er sah mich an. Was denn nun die Frage sei, wollte ich wissen. Mit einem Finger fuhr er sich in den Kragen seines Pullovers, betrachtete mich noch einen Moment, dankte mir und entfernte sich so unbemerkt, wie er erschienen war.

Für uns Zeitungsleute waren Empfänge bei den verschiedenen Parteien geplant, mit Ausnahme der FDP (die hat nur fünf Mitglieder, sitzt aber im Stadtparlament).

Michaela wollte zu den Grünen, Jörg war bereits an die SPD vergeben, und für Georg blieb nur die CDU.

Keiner von uns ahnte, welchen Fehler wir damit begingen.

Für die Grünen waren Michaela und ich jedenfalls eine Enttäuschung. Nachdem wir uns vorgestellt und um einen Aschenbecher gebeten hatten, begann die Vorstellungsrunde. Wer sprach, sah uns unentwegt an, weil alle anderen quatschten und kicherten. Michaela hatte anfangs die Namen und die verschiedenen Tätigkeiten mitgeschrieben, doch hörte sie damit auf, als man sie fragte, wofür sie das denn brauche. Ich fragte, was BI bedeute, weil ständig von BIs die Rede war (Bürgerinitiative), auch vom» Krötensammeln«. Die meisten sagten:»Ich bin in der BI Fluglärm und sammle Kröten. «Ich erkundigte mich bei meiner Nachbarin nach den Kröten. Sie verstand mich nicht. Plötzlich aber kreischte sie:»Wisset ihr, was der Enrigo glaubd, was Kröhdesammle isch?«

In dem kleinen Tumult, der folgte, übertönte eine sehr schöne Frau mit ihrem Singsang alle anderen:»Jetzscht hond sie sich verrade! Jetzscht hond sie sich verrade!«

Michaela hielt tapfer zu mir. Sie habe dieselbe Assoziation gehabt. Kröten sei in der Tat ein gebräuchliches Synonym für Geld. Sie selbst benutze den Ausdruck oft.

Sie sammeln tatsächlich diese Tiere und schaffen sie über die Straßen. Sogar Tunnel werden für die Kröten gebaut.

Warum denn wieder niemand von der Umweltbibliothek oder der Menschenrechtsgruppe mitgekommen sei, stellte uns die schöne Frau zur Rede und resümierte, bevor wir antworten konnten:»Sin hald doch nur de alde Bonze. «Michaela berichtete von ihrem» klartext«, und ich spürte, wie gern sie wieder von Leipzig und alldem gesprochen hätte, wenn sie nur jemand danach gefragt hätte.»Wir gehören nicht zur offiziellen Delegation!«rief sie.»Wir gehören nicht dazu!«In der neuen Zeitung, sagte ich, wird die Umwelt eine wichtige Rolle spielen. Ich klang irgendwie schlapp, und außerdem gab es kaum noch Zuhörer. Zum Schluß saßen wir mit einem Ehepaar zusammen, das von seinen Besuchen in Weißwasser und Karl-Marx-Stadt erzählte, und tranken Mineralwasser. Wir hatten Hunger.

Auf der Rückfahrt verfuhr ich mich, erst gegen elf fanden wir die» Sonne«. Jörg kam uns entgegengestürzt.

«Alles futsch«, rief er,»alles futsch!«

Wolfgang thronte in Anzug und Krawatte im Foyer. Wie bei einem betrunkenen Bacchus hingen die Arme schlaff über den Armlehnen herab, sein Haarkranz stand aufrecht.

«Und wo wart ihr?«herrschte er uns an, in seine Arme kam Leben, sie paddelten durch die Lüfte, erreichten die Seitenlehnen, es sah aus, als wollte er sich erheben, seine Augen quollen hervor — dann sank er wieder zurück. Als er die Augen schloß, glaubte ich, er beginne gleich zu weinen.

«Sie haben uns nicht mal was zu essen angeboten!«rief Michaela. Jörg rieb sich unablässig Augen und Stirn. Georg lief auf seinen langen Beinen hin und her, den Oberkörper krumm wie ein Jockey.

Jan Steen habe den ganzen Abend in einem» Nobelrestaurant «im Schwarzwald auf uns gewartet. Wolfgang sei alle zwanzig Minuten zum Telephon gegangen. Um zehn habe Steen wütend die Serviette auf den Teller geworfen und sei nach Hause gefahren. Ob wir ihn je wieder zu Gesicht bekämen, stehe in den Sternen.

«Und woher sollten wir das wissen?«fragte Michaela.»Es hat niemand gewußt!«rief Jörg.»Niemand, niemand, niemand!«Statt zu antworten, orakelte Wolfgang etwas von einem dicken Fisch, der uns durch die Lappen gegangen sei, ein ganz dicker! Dieser Satz bereitete ihm eine grimmige Freude, ja er schien sich selbst damit zu trösten, denn etwas anderes bekamen wir von ihm in dieser Nacht nicht mehr zu hören.

Jörg und Georg saßen auf unseren Betten. Wir pellten die Eier auf das Deckchen unseres Nachttisches. Unser Luxus bestand darin, die Klappbrote, die wir am Abend zuvor geschmiert hatten, untereinander auszutauschen. Dazu gab es kalten Tee aus dem Deckel der Thermoskanne.

Nun waren wir wieder dieselben Leute, die heute früh in Altenburg einen Wartburg bestiegen hatten. Zwischen jenem längst vergangenen Morgen und unserem Abendbrot lag nur ein seltsamer Traum.

Michaela hörte plötzlich auf zu kauen.»Vielleicht ist das unser Frühstück!«sagte sie und legte die angebissene Schnitte zurück auf den Tisch.»Und wer bezahlt jetzt die Zimmer?«Wir besaßen zusammen knapp siebzig D-Mark. Georg beschwichtigte uns. Er aber hatte auch als einziger gegessen! Das Traurigste an der Sache sei, fand Michaela, daß Steen in einem Nobel restaurant auf uns gewartet hätte.

Morgens weckte uns tatsächlich ein Hahnenschrei.

Später ließen wir uns jeder einzeln versichern, das Frühstücksbuffet gehöre zur Übernachtung, und die sei bereits für zwei Nächte bezahlt. Wolfgang trafen wir weder im Speisesaal, noch fanden wir ihn in seinem Zimmer. Wir hockten sozusagen mit Entlassungsschein im Paradies. Michaela am Arm des Bürgermeisters zierte die Titelseite der örtlichen Zeitung.

Der zweite Tag verging sang- und klanglos mit Besichtigungen des Krankenhauses und der Tageszeitung, die hier das Monopol hat. Von Burda sahen wir nichts. Jörg wurde im Radio interviewt. Abends spendierte uns die Zeitungszarin ein Essen. Während des zweistündigen» Meinungsaustausches «stahlen wir uns abwechselnd davon und riefen in der» Sonne «an, jederzeit bereit aufzubrechen.

Die Zarin, die erste Millionärin, die ich mit Bewußtsein sah, hatte zu allem Überfluß auch noch graublaue Augen, schwarze Haare und eine Haut wie Milch. Während des Nachtischs unterbreitete sie das Angebot, uns Druckmaschinen, Computer und überhaupt all das hinzustellen, was wir für eine Zeitung brauchten.

«Sie wollen uns anstellen?«fragte Georg. Die Zarin vollführte mit ihren schlanken Händen eine Geste, die sagen sollte: Sie haben es erfaßt.

Jörg klärte sie auf, daß bereits in drei Wochen unsere erste Ausgabe herauskommen werde. Die Augen der Zarin wurden immer schmaler, und ihr Lächeln erschien mir verträumt.

«Wir gehören uns sozusagen selbst«, resümierte Georg im Tonfall einer Entschuldigung.

«Das ist schade«, sagte sie,»wirklich sehr schade. «Für einen Moment hatte ich das Gefühl, wir begingen einen Fehler.

Am nächsten Morgen polterte Wolfgang an unsere Tür.»Er sitzt unten und wartet. Er hat nicht viel Zeit!«

Steen war bester Laune. Seine Bemerkungen brachten Wolfgang unablässig zum Lachen. Ich hatte gerade begonnen, vom großen Mißverständnis zu reden, als Steen rief:»Schnäbelchen auf!«Er hielt mir eine Gabel unter die Nase, ich sollte kosten. Es war purer Speck, schmeckte aber! Steen orderte eine Portion für mich. Jörg und Georg sperrten ebenfalls die Schnäbelchen auf.

Michaela, in ihre alten Jeans gezwängt, trat als letzte ein. Steen war zuvorkommend und verfolgte jeden ihrer Schritte, doch seine alte Begeisterung war dahin. Trotzdem tat er so, als hätten wir uns zwei Tage lang miteinander amüsiert. Er schwärmte vom Schwarzwald, von Basel und Strasbourg, um uns aus heiterem Himmel aufzufordern, deutsche Autos zu kaufen. Für ihn kämen nur deutsche Autos in Frage. Er füge sich damit ein in den Kreislauf der Wirtschaft. Wer es selbst gut haben wolle, müsse etwas dafür tun, daß es auch anderen gutgehe. Ich gebe es schlecht wieder. Er sagte es besser. Viel wichtiger war sein Tonfall. Steen ist von sich überzeugt, überzeugt, ein redliches Verhältnis zur Welt zu haben, bereit, jederzeit Rechenschaft über sein Tun abzulegen.

Sein Abschied war wieder kurz. Er wünschte uns gute Fahrt, küßte Michaela auf beide Wangen und verschwand.

Wir sollten nicht solche Gesichter machen, zischelte Michaela. Wolfgang hatte sich die ganze Zeit über nicht gerührt und Steen nur mit einem Nicken verabschiedet. Auch danach hatte er es nicht eilig, rückte näher an den Tisch, ließ sein Feuerzeug ratschen und zündete sich eine Zigarette an. Geräuschvoll schlürfte er seinen Kaffee. Ich ahnte schon, daß er beauftragt war, uns etwas auszurichten. Niemand hatte gewagt, ihm die Schuld an dem verpatzten Abend zu geben. Immerhin verdankten wir seiner Vermittlung die Hotelzimmer. Wolfgang schob seinen Teller beiseite, wischte Krümel von der Tischdecke, zog ein paar Blätter hervor und legte sie vor sich hin.»Hier sind«, begann er ohne Einführung,»zweihundertzweiundsechzig Adressen, an die ihr die Zeitung verschicken sollt. Hier sind zweihundert D-Mark für Benzin und noch mal für jeden hundert als Spesen und hier … zwanzigtausend. Außerdem«, fuhr er monoton fort,»hat er noch das hier dagelassen. «Damit entleerte er einen Stoffbeutel, der denselben Aufdruck zeigte wie die Feuerzeuge, Kulis, Schreibblöcke und Bleistifte, die zwischen die Teller und Tassen hagelten.»Ihr müßt nur hier unterschreiben. «Er schob den Firlefanz zur Seite, legte ein Blatt vor mich hin und reichte mir seinen Kuli. Ich glaubte, es ginge um die hundert D-Mark und das Benzingeld. Deshalb unterschrieb ich und schob das Blatt weiter. Erst als Michaela zögerte, sah ich, daß ich den Empfang von zwanzigtausend D-Mark quittiert hatte.»Einer mehr kann nicht schaden«, sagte Jörg, unterschrieb selbst und gab das Blatt weiter an Georg. Im Gegenzug erhielten wir ein Blatt, auf dem sich aus lauter Schwüngen der Name Jan Steen bildete.

Doch damit nicht genug. Du weißt ja, der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Das Offenburger Rathaus rief an, wir sollten, wenn es uns recht wäre, noch einmal vorbeikommen, man würde uns gern etwas zusammenstellen, Sachen fürs Büro — sie betonen Büro auf der ersten Silbe.

Wir hatten herrliche Sicht über die Rheinebene bis hin zu irgendwelchen weit entfernten Bergen in Frankreich. Um Offenburg herum sind die Hügel sanft, die meisten Kuppen kahl, die hohen Schwarzwaldgipfel entweder von hier nicht zu sehen oder von Wolken verhüllt.

Gläsle hatte vor dem Rathaus auf uns gewartet. Kurz darauf gingen uns die Augen über. Am Ende schleppten wir sogar eine elektrische Schreibmaschine davon, die wir das» grüne Ungeheuer «getauft haben.

Gläsle brachte Georg und Jörg zu einem Gebrauchtwagenhändler — wir wollen uns einen VW-Bus kaufen —, Michaela und ich bummelten durch die Stadt. Und weil wir plötzlich Geld in der Tasche hatten, kauften wir ein — Edelstahltöpfe, wie für eine Trophäensammlung.

Soviel für diesmal! Seid umarmt, Enrico

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