Mittwoch, 7. 2. 90


Lieber Jo!

Irgendwann wird Dich ein Kärtchen erreichen, zum Beweis, daß wir in Paris gewesen sind.

Am Montag, einen Tag nach unserer Rückkehr, erfuhren wir zufällig, daß Tante Trockel gestorben ist, Roberts Kinderfrau. Vor drei Wochen, als wir in Offenburg waren, hat sie ihn noch bekocht und auf ihn aufgepaßt. Sie lebte schon nicht mehr, als wir ihr von Paris aus schrieben. Bei unserem letzten Besuch zu Beginn des Jahres war es besonders lustig zugegangen.44

Tante Trockel war Michaelas erste Freundin in Altenburg (und vielleicht auch die einzige). Michaela behauptet, Tante Trockel habe ein bißchen ausgesehen wie Virginia Woolf. Ich finde das nicht. Mir schien es immer, als hätten sich in ihrem Mund viel zu viele ihrer langen ungeordneten Zähne befunden. Tante Trockel vermied es, zu lächeln oder gar zu lachen, weil sich dann ihre Hauer bis hinauf zum Zahnfleisch entblößten. Lachte sie trotzdem einmal, hielt sie reflexhaft eine Hand vor den Mund, was geziert wirkte. Vor ihren Einladungen habe ich mich immer etwas gefürchtet, denn seit sie nicht mehr in ihrem Kurzwarenladen arbeitete, bekamen wir alles zu hören, was ihr in den letzten Wochen durch den Kopf gegangen war. Michaela bewies jedesmal eine Geduld, die mich oft fassungslos, ja wütend machte. Ging es um Tante Trockel, herrschte bei Michaela Ausnahmezustand. Denn ohne Tante Trockels Unterstützung hätte sie damals die Schauspielerei an den Nagel hängen können.

Was soll ich Dir von Paris erzählen? Es war zu spät. Mir erging es wie einem, der bei der tausendmal herbeigesehnten Ankunft erfahren muß, daß die, nach der er sich ein Leben lang verzehrt hat, bereits abgereist ist.

In den zwei Stunden, in denen sich die Familie auf dem Eiffelturm tummelte und ich machen konnte, was ich wollte, nahm der Mauer-Dämon von mir Besitz. Ich geriet in Panik, als müßte ich mich entscheiden, zu bleiben oder zu fahren, obwohl ich doch jeden Augenblick Herr meiner Sinne gewesen bin.

Warum sollten mich die Artikel quälen? Im Prinzip sind es Geschichten. Konkreter Einstieg, alltägliche Situation, Verschärfung, dann alles hinein, was man an Fakten weiß, vielleicht ein paar ähnliche Fälle, schließlich die Schlußpirouette mit Überraschung, durch die man an den Anfang zurückkehrt, so zumindest die Vorstellung von Jörg, dem Diplom-Ingenieur. Er liest den ganzen Tag Zeitungen, um sein Repertoire an Wendungen und Tricks zu vergrößern. Jörg hat es auch geschafft, sich als Vertreter des Neuen Forums in die» Kommission gegen Korruption und Amtsmißbrauch «einzuschmuggeln. Dort bekommt er unsere zukünftigen Titelgeschichten frei Haus geliefert.

Morgens bin ich ab vier oder fünf wach. Daran gewöhne ich mich langsam. Ich höre Radio oder studiere den Duden. In der Redaktion bin ich ein braver Eleve, koche Kaffee, sortiere die spärliche Post, hüte das Telephon und den Ofen, lektoriere beim Abtippen und übe mich im Abfassen von Meldungen. Allenfalls verrät mich mein Kürzel. Die Kleinschreibung macht aus dem Alien ein klassisches» et«.45

Angst habe ich allein vor dem Unbekannten und Unbedachten — vor irgendeiner Fehlkalkulation oder Laune der Druckerei oder der Post. Ich lebe hier in einer Oase. Michaela redet sich das Theater schön, aber es ist ein Desaster. Meine Mutter schluckt Beruhigungspillen, bevor sie in die Klinik fährt. Und was Robert aus der Schule erzählt, ist auch nicht besonders lustig. Ich wundere mich, daß die Kinder nicht zynisch werden. Schon allein dafür muß man sie lieben.

Heute verbrachte ich den Nachmittag mit einem alten Bauern, der uns mehrmals versicherte, länger als sein halbes Leben auf eine Zeitung wie unsere gewartet zu haben. Meinen Einwand, es gebe sie ja noch gar nicht, überging er. Die ganze Revolution sei nichts wert ohne Leute wie uns, die was aus den Möglichkeiten machten. Bei» Revolution «vernuschelt er die ersten Silben, die letzte jedoch gleicht einem Fanfarenstoß.»Was draus machen!«ist sein Schlachtruf.

Seine Memoiren hat er für die Familie, für seine drei Enkelinnen geschrieben, ohne Hoffnung auf Veröffentlichung. Als ich ihn bat, die Rubrik mit Garten- und Feldtips zu übernehmen, fragte er nur nach Umfang und Termin und erbot sich, seine Texte gleich auf Manuskriptpapier zu liefern, er besitze eine Schreibmaschine.

Fred, der den Vertrieb organisieren soll und immer so ernst dreinschaut wie ein von Cranach gemalter Kurfürst, nennt Larschen» Schneekoppe«, weil sich sein dichtes weißes Haar merkwürdig auftürmt.

Allmählich wächst die Familie. Ab März werden wir eine Sekretärin haben, Ilona, die jetzt nur stundenweise aushilft. Sie trägt eine viel zu große Brille für ihren kleinen Kopf und kokettiert damit, bereits Großmutter zu sein,»aber no ni vierzsch!«. Jörg und Georg sind für Ilona Männer mit einem Lebenswerk, der Zeitung nämlich, während Fred und ich, als geborene Wasserträger, froh sein dürfen mitzutun. Wird irgendein Name erwähnt, kann man sicher sein, daß Ilona die Leute kennt und auch eine Meinung von ihnen hat, in aller Regel eine schlechte. Kaum hat sie etwas Abfälliges bemerkt, schlägt sie eine Hand vor den Mund, sieht sich erschrocken um und flüstert:»Ei Godd, dahrfsch das überhaubd saahgn?«

Bei Marion, Jörgs Frau, ist die Rangfolge unbestimmt. Sie siezt mich als einzigen, spricht gern von dem Opfer, das ich brächte. Sie meint, ich hätte zugunsten der Allgemeinheit das Theater aufgegeben, also auf das Beste und Schönste verzichtet, wobei sie mich ganz verliebt anschaut. Man hat ihr als Bibliothekarin in irgendeiner Zweigstelle des Braunkohlekombinats bereits gekündigt. Sie könne ermessen, was es bedeute, wenn man der Kunst den Rücken zuwenden müsse. Dazu nickt Marion, die Augenbrauen immer etwas hochgezogen, als erwarte sie Zustimmung. Ilona findet, Marion sehe aus wie Mireille Mathieu. Mich erinnert sie eher an eine Schauspielerin aus einem Stummfilm, deren Photo ich in einem Reclam-Querformat gesehen habe.46 Ab März wird Marion halbtags bei uns arbeiten. Georg verlieh ihr den Titel einer Redaktionssekretärin.

Robert, der Ferien hat, kommt gegen eins zu uns in die Redaktion. Zusammen gehen wir dann zum Galluswirt. Bei ihm besitzen wir neuerdings das Privileg einer Tischreservierung. Natürlich darf jeder beim Galluswirt eintreten, aber er wird keinen Platz finden. Wochentags steht uns um 13 Uhr ein Vierertisch zur Verfügung. Vorsuppe, Hauptgericht und Nachtisch kosten zwischen zwei fünfzig und vier Mark. Der damit verbundene Status jedoch ist kaum zu überschätzen. Der Galluswirt ist Anfang Sechzig, die glatten Wangen jedoch und die aufmerksam hin und her eilenden Augen geben seinem Gesicht etwas Jungenhaftes. Besonderes Vergnügen machen ihm Fragen wie:»Habt ihr schon protestiert?«Niemand von uns weiß, was er meint.»Ihr wollt eine Zeitung sein?«Wir geben uns zerknirscht.»Sie lassen jeden auf den Markt, der will, das geht doch nicht — oder?«Seine Conclusio besteht in aller Regel in der Behauptung, daß das neue Marktgeschehen die alteingesessenen Geschäfte kaputtmachen wird.»Die machen die eigenen Leute kaputt! Is doch so, oder?«

Mit den eigenen Leuten meint er insbesondere den erlauchten Kreis der Zwölf-Uhr-Tischler. Die Zwölf-Uhr-Tischler dürfen zwischen drei Gerichten wählen, wir müssen nehmen, was übrigbleibt. Die Zwölf-Uhr-Tischler sind die Senatoren des Altenburger Handels- und Handwerksadels. Dieses gute Dutzend knorziger alter Herren scheint sich für jeden Tisch eine Dame zur Vorsteherin erkoren zu haben, alles ältere Damen, die schon allein durch ihre aufrechte Sitzhaltung Adel verraten.

Für sie sind wir Parvenüs, die man im Auge behalten muß. Vorläufig wenden sie sich nur schriftlich an uns, wobei sie höchste Sparsamkeit beweisen. Der Galluswirt überreicht uns immer mal abgerissene Zeitungsränder oder halbierte Quittungen, auf denen oftmals nur Name und Adresse stehen, mitunter der Zusatz» Wissen Bescheid!«.

An Zettel-Tagen genießen wir besondere Fürsorge. Statt uns mit seinen Fragen zu traktieren, wischt er mehrmals über den blanken Tisch. Beim Servieren stupst einem sein Bauch gegen die Schulter. Während des Kassierens durchwühlt er das Kleingeld, hält nach dem zweiten» Stimmt so!«völlig perplex inne, macht die Augen noch runder und läßt seine Groschen zurück ins Portemonnaie fallen. Wenn wir schon aufstehen wollen, stützt er sich mit einer Hand auf den Tisch, senkt verschwörerisch den Kopf und legt das Zettelchen in unsere Mitte.»Hört mal«, sagt er,»das ist so ein Fall, berühmter Mann, Dippel, sagt euch nichts? Dippel! Staudenzucht, führender Betrieb! Was heute botanischer Garten ist, hat er gemacht, für den Dietrich, Nähmaschinen Dietrich, hat alles er gemacht, auch am Bahnhof, alles von Dippel, berühmter Mann eigentlich, alles weggenommen, nie Nazi gewesen, alles enteignet, ganz unrecht, aus dem eigenen Häuschen rausgesetzt, rausgeschmissen, mal besuchen, gibt was her, ganz bestimmt. «Wir versprechen, der Sache sofort nachzugehen, und bedanken uns für den Hinweis. Daraufhin schließen sich die Augen des Galluswirts, die Lippen bilden eine zufriedene Schnute.»Wußt es ja, is Verlaß auf euch«, wobei er jedem, auch Robert, seine große weiche Hand wie ein Geschenk anbietet.

Sei umarmt, Enrico


PS: Gestern früh trat ein lächelnder Mann im dunkelblauen Dederonkittel ein. Er wollte eine Anzeige aufgeben, bat um Stift und Papier, zeichnete einen rechteckigen Kasten und begann zu schreiben. Zwischendurch mußte er telefonieren, um sich nach dem Preis für Holzleitern zu erkundigen. Aus jedem seiner Worte, aus jeder Geste sprach Lust. Selbst die beiläufigste Bewegung — wie er mir den Zettel herüberschob und mit seinen dicken Fingern und kurzen schwarzrandigen Nägeln darauf klopfte — prägte sich mir ein.

Als ich ihm den Preis für die Anzeige nannte (bei uns kostet der Millimeter pro Spalte eins achtzig), pfiff er durch die Zähne, reckte sich seitlich und zog unter seinem Kittel ein Portemonnaie hervor, aus dem hundert Papiere auf den Tisch fielen. Er wolle das jetzt erledigt wissen, sagte er und blätterte viermal Karl Marx auf den Tisch.

Ich dankte ihm, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Ich sagte, daß seine Anzeige in zwanzigtausend Exemplaren am 16. Februar erscheinen und die Zeitung 90 Pfennige kosten werde. Da er immer noch keine Anstalten machte zu gehen, zählte ich unsere Rubriken auf: Reportage, Lokalpolitik, Wirtschaft, Historie, Kunst und Sport, und kündigte Kreuzworträtsel, Horoskop und Karikaturen an. Er nickte beifällig. Leider habe er keine Zeit, er müsse los. Ich sagte, daß ich ihn nicht länger aufhalten wolle.»Aber jetzt«, sagte er,»brauche ich die Quittung.«

Eine Quittung. Davon wußte ich nichts. Ich begann zu suchen und bemühte mich um zielgerichtete Bewegungen. Ihm genüge auch ein stinknormales Papier, auf das ich einen» Stempel knallen «solle. Im selben Moment fand ich die Offenburger Wundertüte und darin tatsächlich einen Quittungsblock, unglaublich praktisch, gleich mit Blaupapier und einer Pappe als Schreibunterlage, so daß ich es vielleicht auch ohne Anleitung geschafft hätte, das Ding auszufüllen.

Ohne in seiner Freundlichkeit nachzulassen, bedauerte unser Kunde, Stempel müsse sein, sonst nütze ihm die ganze schöne Westquittung nichts. Er bat darum, sie ihm gestempelt zuzuschicken, er vertraue uns. Zum Abschied klopfte er auf den Tisch.

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