Mittwoch, 16. 5. 90


Liebe Nicoletta!

Es ist schon eigenartig. Jetzt, da ich mich in meiner Erzählung jenen Tagen nähere, in denen ich Michaela zum ersten Mal begegnete, gerade da trennen wir uns. Kein böses Wort ist gefallen, das haben wir längst hinter uns. Robert sagte, er und ich blieben zusammen, wir seien eine Familie, er, ich, Michaela und meine Mutter natürlich, egal was passiert.»Wir sind und bleiben eine Familie«, versprach ich.

Pech in der Liebe, Glück im Spiel. Ich habe tatsächlich ein paar Tausender gewonnen, so daß einem Ausflug nach Bamberg oder Italien bereits heute nichts im Wege stünde.237 Soviel zur Gegenwart.

Ohne Anton wäre ich weder zum Theater noch nach Altenburg gekommen, ich hätte Michaela und Robert nicht kennengelernt, wäre kein Zeitungsmensch geworden, und wir beide wären wohl auch aneinander vorbeigelaufen.

Anton wollte Dramaturg werden und nach Berlin ziehen. Beides verfolgte er mit einer Unbedingtheit, der er alles zu opfern bereit war. Anton erklärte mir, was ein» Dramaturg «zu machen habe. Auch er suchte ja keine Arbeit, sondern ein komfortables Unterkommen, bei dem ihm genug Zeit für seine Eskapaden bleiben würde.

Im Januar 87, ein halbes Jahr vor Veras Ausreise, schickte ich Bewerbungen an alle Theater des Landes; es waren ungefähr vierzig (fand man nicht selbst eine Arbeitsstelle, lief man Gefahr, von der Uni an eine Bibliothek, ein Museum oder einen Verlag vermittelt zu werden)238. Vier Theater luden mich ein: Potsdam, Stendhal, Zeitz und Altenburg. Kurz darauf fand ich in meinem Fach einen Brief Antons, der sehr förmlich begann, weshalb ich das Ganze für einen Scherz hielt. Ein paar Zeilen später traute ich meinen Augen nicht. Da er, Anton, mir schon das ganze Land überlasse, habe er gehofft, ich besäße im Gegenzug so viel Anstand, auf Berlin und Potsdam zu verzichten.

Vera schwärmte wegen des Lindenau-Museums von Altenburg und weil Gerhard Altenbourg in Altenburg wohne und der ginstergesichtige Hilbig239 aus dem nur wenige Kilometer entfernten Meuselwitz stamme. Außerdem habe die Stadt den Krieg praktisch unbeschadet überstanden.

Also fuhr ich nach Altenburg, und da der Intendant — ein Mann Ende Dreißig mit langen Haaren und einem bis zum Brustbein aufgeknöpften Hemd — mir nach zehn Minuten erklärte, ich sei eingestellt, sofern ich das Praktikum überstünde, bedeutete mein erster Gang durch die Stadt bereits eine Besichtigung jenes Schauplatzes, an dem mein eigentliches Leben beginnen sollte.

Es schneite. Die Auffahrt zum Schloß lag in makellosem Weiß vor mir. Ich hatte Kopfschmerzen, wegen der Aufregung und wegen meiner Ersatzbrille, deren Gläser andere waren als bei meiner richtigen Brille (die Vera auf dem Gewissen hatte). Die Flocken, so groß wie Briefmarken, fielen mit jedem Schritt dichter. Als ich mich umwandte und wie durch einen Schleier unter mir das Theater und die sich nach Westen erhebende Stadt sah, waren meine ersten Fußstapfen bereits kaum noch zu erkennen.

Nach einer Runde durch den Schloßhof (das war vor dem Brand) ging ich zum Park, in dem der Verlauf der Wege nur mehr an den Bänken auszumachen war. Am Fuße des Hügels, durch das Schneetreiben in die Ferne gerückt, lag das Lindenau-Museum. Alles, was ich davon kannte, waren Abbildungen antiker Vasen. Ihnen muß ich nicht beschreiben, was geschieht, wenn man hinaufgestiegen ist, das Oktogon durchquert hat und dann die Flucht mit den Italienern betritt. Ich wußte fast nichts über die Sienesen, sehr wenig über die Florentiner,240 und doch war es wie eine Ankunft. Sie glauben vielleicht, ich redete Ihnen nach dem Mund.241 So, wie manch einer leidet, wenn er die Elbe oder das Meer entbehren muß, würde ich nirgendwo mehr hinziehen, wo ich nicht solch einen Schatz in der Nähe wüßte.

In den großen Sammlungen von Dresden, Prag, Łódź, Budapest oder Leningrad fehlt es an Stille. Hier jedoch ist man allein mit dem Bild. Selbst die Leute von der Aufsicht bleiben verborgen und bringen sich allenfalls durch das entfernte Knarren des Parketts in Erinnerung. Hier war ich bereits in Italien. Hier begriff ich, daß das Beste der Renaissance aus der Vor-Renaissance stammt. Hier konnte ich die zweihundert Jahre Revue passieren lassen, die nicht nur für die italienische Kunst, sondern für den ganzen europäischen Geist so entscheidend gewesen sind.242

Bis heute sind mir die Bilder, die ich damals ins Herz schloß, die liebsten geblieben. Natürlich die drei Guido da Sienas, Christus im Grab von Lorenzetti, die Madonna von Lippo Memmi, die Anbetung des Taddeo di Bartolo, die Kreuzigungen des Giovanni di Paolo, überhaupt alles von ihm und von Lorenzo Monaco, natürlich Masaccio, aber fast noch lieber Fra Angelicos Feuerprobe des Franziskus, mit dem zweiflerischen Sultan auf dem Thron, auch seine Heiligen, der Hieronymus von Lippi, Botticellis strenge Katharina, Signorellis artistische Folterknechte, die Madonnen seiner Grablegung, die Verkündigung von Barnaba da Modena, Puccinellis Madonna mit den Engeln und Heiligen, die Freude der einen, der sich der Jesusknabe zuwendet.

Als ich aus dem Museum trat, leuchtete ein blaurotes Stück Nachmittagshimmel über mir.

Drei Wochen später passierte ich mit einem Kopfnicken die Theaterpforte, bekam die Gittertür zu fassen, bevor sie hinter einer Tänzerin im Gymnastikanzug ins Schloß fallen konnte, und erstarrte bei einem schrillen» Halt!«. Die Pförtnerin war aufgefahren und drückte ihre Stirn gegen die Scheibe. Zur Rede gestellt, wer ich sei und wohin ich wolle, hatte ich schließlich» Hoffmann! Undine!«geantwortet.

«Zurück! Ganz zurück!«Mit meiner Umhängetasche versperrte ich den anderen den Weg. Ich sollte erklären, warum ich versucht hatte, ins Theater» einzudringen«. Über meine Bitte, den Intendanten anzurufen, lachte sie, griff zum Hörer, ließ mich aber nur aus den Augen, wenn sie einen Finger in die Drehscheibe des Apparates stieß. Sie fragte mich immer dann nach meinem Namen, wenn jemand hereinkam. Mehrmals zwang sie mich,»Enrico Türmer «zu rufen, es etwas lauter» bitte schön «zu wiederholen, die beiden Worte zu buchstabieren, so daß alle, bevor ich überhaupt das Theater betreten hatte, den Namen jenes dummen Jungen da an der Pforte erfuhren.»Kennt ihr vielleicht einen Türmer, Enrico?«— sprich: Dürmer, Ähnriegoh. Der unbestimmte Artikel vor meinem Namen löschte mich aus.

Ich bat darum, die Chefdramaturgin zu benachrichtigen. Entrüstet ließ die Pförtnerin den Hörer sinken, legte einen Finger auf die Telephongabel und drückte sie herab. Sie wisse, was sie zu tun habe, sie brauche keine Belehrungen. Außerdem kenne man mich dort genausowenig.

«Er weiß ja nicht, wohin er will«, rief sie erneut in den Hörer, während zwei Tänzerinnen vorübertrippelten,»das isses ja doch, was mich so aufregt, das isses ja«, worauf ich immer nur» Hoffmann, Hoffmann!«erwiderte.

«Hier kennt Sie niemand«, beschied sie mir und legte den Hörer auf. Sie musterte mich noch einmal, bevor sie sich erschöpft zurücklehnte und in irgend etwas zu blättern begann, das die ganze Zeit vor ihr gelegen hatte. Es war unklar, ob sie weiter in meinem Fall ermittelte oder mich bereits ad acta gelegt hatte.

«Warten!«rief sie mitten im Umblättern und griff erneut zum Hörer, als von rechts eine Frau in weißer Bluse aus dem Dunkel des Treppenhauses auftauchte, die drei Stufen zu mir herabsprang und mich so herzlich ansah, daß ich eine Verwechslung befürchtete.

«Ich weiß, wer Sie sind«, sagte sie lächelnd, schob ihren Arm unter meinen und lenkte meine Schritte Richtung Pförtnerin.

«Darf ich Ihnen«, sie nannte die Pförtnerin beim Namen,»Herrn Türmer, unseren neuen Dramaturgen vorstellen …«Die Pförtnerin kam diesmal erst beim zweiten Versuch von ihrem Stuhl hoch, streckte eine Hand durch die ovale Luke in der Scheibe und rief:»Warum sagt er das denn nicht gleich!«Danach durchschritten wir die Pforte.

Die Frau in der weißen Bluse geleitete mich durch ein Labyrinth aus Gängen und Treppen. Alle paar Meter wechselte der Geruch. Wir kamen am Ballettsaal vorbei, an der Kantine, passierten ein barockes sandsteinernes Treppenhaus und standen im Dunkeln. Ich hörte einen Schlüssel und betrat nach ihr ein Zimmer, durch dessen Vorhänge kaum Licht drang. Es roch nach Mittagessen.

Auf dem Rückweg blieben wir vor einer weißen Flügeltür stehen und lauschten. Plötzlich drückte meine Führerin die Klinke, nickte mir zu und schob mich hinein, gerade als das Klavier wieder einsetzte.

Wer ich sei, was ich wolle, wer mich geschickt habe … Meine gute Fee war verschwunden, der Regisseur, kaum älter als ich, mit einem Haarschnitt, der seinen Hinterkopf zur Geltung brachte, hatte die Probe unterbrochen und blätterte hastig im Klavierauszug.

Ich nannte meinen Namen, ich wiederholte meinen Namen. Ich ließ mir von dem unentwegt weiterblätternden Regisseur sagen, daß man weder ungefragt an einer Probe teilnehme noch sie unterbreche. Zumindest er, der Regisseur, wenn nicht das gesamte Ensemble, müsse vorher um Erlaubnis gebeten werden.»Vorher!«wiederholte er und hielt endlich im Blättern inne. Ob ich das getan hätte? Nein, antwortete ich, das hätte ich nicht getan. Begründen konnte ich mein Fehlverhalten nicht mehr. Ein am Boden kniender Herr mit Baßstimme empörte sich über die Mißachtung seiner Person. Wie lange er denn hier noch rumkriechen solle, ob wir keine Augen im Kopf hätten. Er hatte» sie «gesagt, dabei aber nur mich angesehen.

Die Position, in die ich durch meinen ersten Auftritt geraten war, habe ich in den fünf Wochen, da ich bei Tim Hartmanns» Undine«-Inszenierung hospitieren durfte, kaum verbessern können. Ich hatte alles verschlimmert, indem ich jeden siezte. Tim Hartmann sah einen Affront darin, von mir nicht wie von den anderen mit Tim angesprochen zu werden. Ich fand es furchtbar, die Tür zur Kantine zu öffnen, furchtbar, mit Bockwurst und Kaffee die Theke zu verlassen, furchtbar, mich an einen freien Tisch zu setzen, furchtbar, mich zu den anderen zu gesellen. Außerdem roch ich selbst nach Küche, die direkt unter meinem Zimmer lag.

Ab und an erbarmte sich die Regieassistentin meiner, eine hübsche große Berlinerin. Sie vor Augen, begriff ich, was mich gerettet hätte: eine Aufgabe.

Dabei saß ich gern auf den Proben. Anfangs hatte ich geglaubt, irgend etwas sagen zu müssen, um meine Theatertauglichkeit unter Beweis zu stellen. Ich wunderte mich selbst, wieviel mir einfiel. Am Ende der ersten Woche überreichte ich Tim Hartmann eine Liste mit Vorschlägen. Ich hoffte, mich auf diese Weise als Gesprächspartner zu empfehlen. Die Regieassistentin bat mich zu Beginn der neuen Probenwoche, von nun an auf Notizen zu verzichten.

War keine Abendprobe, besuchte ich die Vorstellung, setzte mich in eine der ersten Reihen und versuchte mir, den Besetzungszettel in der Hand, die dazugehörigen Gesichter einzuprägen. Das Erlernen der Namen betrieb ich so energisch, ja leidenschaftlich, als hinge meine Zukunft davon ab. Deshalb war die letzte Probenwoche der» Undine «für mich besonders wichtig, weil ich nun auch jenen, die nie auf der Bühne standen, die ich aber vom Sehen kannte, einen Namen und eine Funktion zuordnen konnte. So leicht ich lernte, so schwer fiel es mir, meine Irrtümer zu korrigieren. Beispielsweise hatte ich den Chef der Beleuchtung für den Leiter des Malsaales gehalten und den Leiter der Werkstätten für den Beleuchtungschef.

Ich glaubte an einen versöhnlichen Abschluß meiner Hospitanz, nachdem es mir zugefallen war, die Pressemitteilung zu schreiben, die Tim Hartmann nach der Hauptprobe herumgereicht hatte, wobei er immer wieder»à la bonne heure «sagte. Vor der Premiere durfte ich sogar Undine, die mich länger als alle anderen ignoriert hatte, dreimal über die linke Schulter spucken.

Tim Hartmanns Inszenierung war kein rauschender Erfolg, doch die Leute klatschten, bis er in einem schwarzen Anzug auf der Bühne erschienen war, sich verbeugt und seinen Kopf hin und her gewandt hatte, als sollten alle seinen neuen winzigen Pferdeschwanz sehen.

Auf der Premierenfeier wurde ich mehrmals umarmt. Ich erwartete eine Ansprache des Intendanten, ein paar Worte zur Inszenierung und zu den Leistungen der Sänger. Und ich hoffte, er würde sich seiner mir gegebenen Zusage erinnern.

Er gratulierte Tim Hartmann, machte händeschüttelnd eine Runde um den Tisch und lachte auch über irgendwelche Bemerkungen, was bei ihm von Husten kaum zu unterscheiden war. Nur setzen wollte er sich nicht. Seine Entourage, die sich aus dem Schauspiel, vor allem aber aus dem Ballett rekrutierte, erwartete ihn zwei Tische weiter.

Ich trank und rauchte fast ununterbrochen und fühlte mich zum ersten Mal in der Kantine heimisch. Die Regieassistentin machte mich mit Antonio bekannt, einem jungen Chilenen aus Berlin. Antonio fragte, was ich denn von der Inszenierung halte, die er selbst als» Langweiler «bezeichnete. Antonio sagte, ich solle mich zu ihm setzen, und zog für mich einen Stuhl an den Tisch von» Jonas«, wie er den Intendanten nannte. Wie einfach alles war. Antonio bot mir Wodka an. Alle am Tisch tranken Wodka.

Jonas brachte mit seiner Behauptung, Ehe und Treue seien widernatürlich, sinnlos und lächerlich, die meisten Frauen gegen sich auf, was ihn nicht daran hinderte weiterzureden. Fortwährend strich er sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah von einem zum anderen. Als sich unsere Blicke trafen, nickte ich unwillkürlich, als stimmte ich ihm zu. Ich ärgerte mich darüber, und das um so mehr, als Claudia Marcks, die Schauspielerin, Jonas laut widersprach, ihn sogar auslachte, was dieser halb beleidigt, halb als Bestätigung seiner Frauen-Theorie hinnahm.

Ich bewunderte Claudia Marcks. Mir war es nie gelungen, mit ihr zu sprechen, ich hatte es nicht mal geschafft, in ihre Nähe zu kommen. Alles an ihr war schön und begehrenswert, besonders liebte ich ihre Hände. Sie führten ein Eigenleben, das niemand außer mir zu beachten schien. Plötzlich wollte ich nichts anderes, als heute, morgen oder dereinst von diesen Händen berührt zu werden und sie selbst zu küssen. Und ich war seltsam gewiß, daß diese Stunde nicht mehr weit entfernt sei.

Ich fragte Jonas, ob er das, was er da von sich gebe, denn selbst glaube.

Er starrte mich aus geröteten Augen an.»Du geh erst mal ficken!«rief er.»Du geh erst mal …«Jonas wiederholte den Satz zweimal, dreimal, viermal, so lange, bis es in der Kantine still geworden war.

Statt ihm, wie es Claudia Marcks getan hatte, ins Gesicht zu lachen, dachte ich an Nadja. Und dann hörte ich mich auch schon sagen:»Warum sollte ich denn?«

Alle stimmten in das Gelächter ein. Auch Claudia Marcks und Antonio. Antonio sagte, er bewundere die reinen Geistesmenschen, Menschen wie mich. Es war die Hölle.

Lange nach Mitternacht fragte mich die Regieassistentin, ob sie und Antonio bei mir übernachten könnten, das Bett im Gästezimmer sei doch so breit, sie hätten den Zug verpaßt. Antonio und sie schliefen keine Minute.

Am Rand zu liegen und auf die beiden neben mir zu hören erschien mir als Sinnbild des Ausgestoßenseins. Jonas hatte mich vor allen gedemütigt, und morgen würde ihm Antonio von dieser Nacht erzählen. Wehrte ich mich nicht, weil ich meine Anstellung, meine Dramaturgenstelle, nicht gefährden wollte? Wie sich das Leben an einem rächt, dachte ich, wenn man sich etwas anderes von ihm wünscht! Mein Leben war das Erzählen. Und zum Erzählen brauchte es Distanz und einen kalten Blick. Wie hatte ich das nur vergessen können!243


Mitte Juni, wenige Tage nach Veras Ausreise, fuhr ich wieder nach Altenburg. Eine unangenehme Erfahrung mehr — und was sonst sollte mir das Theater bringen? — würde mich in dem Wunsch bestärken, Vera zu folgen.

Die Chefdramaturgin überreichte mir ein orange leuchtendes Büchlein, dessen Empfang ich ihr quittierte. Von unten nach oben las ich: Bibliothek Suhrkamp/Fräulein Julie/August Strindberg. Wohnen sollte ich diesmal nicht im Gästezimmer, sondern im» Wenzel«. Flieder, der Regisseur, war noch nicht angereist.

Abends im Hotelzimmer öffnete ich zum ersten Mal Veras kunstlederne Bestecktasche, sortierte die Scheine und legte sie in verschiedenen Reihen auf dem Fußboden aus. Bei dreitausend Mark, mehr als das Stipendium eines Jahres, hörte ich auf zu zählen!

Vom Bett aus sah ich dann zu, wie die Scheine, bewegt vom Luftzug, der durch das offene Fenster kam, sich übereinanderschoben, als wollten sie sich paaren, und lauschte schließlich mit geschlossenen Augen ihrem Rascheln. Als ich erwachte, waren die Scheine im Zimmer verstreut, in einer Ecke hatte sich ein kleiner Laubhaufen gebildet.

Ich duschte, setzte mich im Restaurant an den gedeckten Frühstückstisch und ging, sobald es zehn geworden war, ins Lindenau-Museum. Danach spazierte ich durch die Stadt, umrundete den Großen Teich, suchte das Haus von Gerhard Altenbourg und aß mittags im» Ratskeller«. Danach legte ich mich in den Park, las und ging abends ins Kino. So oder ähnlich verging die ganze Woche.

Am liebsten saß ich in dem Gartenlokal am Großen Teich und stellte mir vor, ich wäre in Westberlin am Landwehrkanal und erholte mich zusammen mit Vera von den Interviews, die ich den ganzen Tag über hatte geben müssen.

Am Freitag fuhr ich nach Dresden zu meiner Mutter. Obwohl ich nicht unangekündigt kam, erwartete sie mich weder auf dem Bahnhof, noch traf ich sie zu Hause an. In der Wohnung deutete nichts auf ein Willkommen hin, kein Zettel, kein Topf im Kühlschrank, nicht mal mein Bett war bezogen.

Als Mutter kam — ich wisse doch, daß es manchmal später werde —, sprachen wir nur über Vera. Vera hätte schon viel eher gehen sollen, sagte Mutter, von Anfang an sei ihr alles verbaut gewesen, wertvolle Jahre habe man ihr geraubt. Ich sagte, daß Vera ihr Leben genossen und mehr über Theater gelernt und mehr Bücher gelesen habe als ich im Studium. Wie ich so reden könne. Das seien ja alles nur Notlösungen gewesen! Vera habe an die Schauspielschule gehört und ans Deutsche Theater nach Berlin! Ich habe ja keine Ahnung, wie verzweifelt Vera manchmal gewesen sei.

Zum Abendbrot legte Mutter einen Camembert unausgewickelt auf den Tisch, ich öffnete eine Fischbüchse, das Brot war alt. Ich litt. Diese Lieblosigkeit sich selbst und mir gegenüber war neu.

Am Montag kam ich zu spät zur Probenbesprechung. Es war ein schlechtes Omen, daß auch Flieder einen Pferdeschwanz trug, selbst wenn er nur aus den Resten seines Haarkranzes gebunden war und grau und dünn über den Kragen hing. Erwartungsgemäß hatte er sich nicht nach mir umgedreht, als ich nach dem Anklopfen eingetreten und zum Tisch gegangen war. Ebenso erwartungsgemäß ließ er sich meine Vorstellung wiederholen. Wie aber erschrak ich, als ich Claudia Marcks am Tisch sitzen sah. Sie hatte nicht auf der Besetzungsliste gestanden.

«Das also ist der Enrico«, sagte Flieder,»Enrico wird uns hier bei allem helfen. Das hoffe ich zumindest. Schön, Enrico, daß du da bist. «Niemand lachte.

Außer Claudia Marcks saßen nur die Petrescu (Kristin, Köchin, 35 Jahre) und Max (Jean, Bedienter, 30 Jahre) am Tisch. Flieders Assistentin, eine hoch aufgeschossene junge Frau mit kurzen Haaren, die zugleich die Bühnenbildnerin war, hockte abseits auf der Lehne eines Stuhls, winkte mir zu und sog an ihrer» Karo«.

Was folgte, ähnelte eher einem Seminar als einer Probe. Und ich war nicht vorbereitet. Mir schien, Flieder referiere allein für mich jenes Buch, das er an der Pforte mit einem Zettel versehen hinterlegt hatte. Dabei ging er auf und ab, kicherte und gewann mehr und mehr das Aussehen eines Fauns oder Satyrs. Seine Assistentin wiederholte, ergänzte, sprach von behavioristischer Verhaltensforschung und kniff bei jedem Zug aus ihrer Zigarette die Augen zusammen.

In der Mittagspause setzte sich Claudia Marcks neben mich.»Kennt ihr euch?«fragte Flieder.

«Ja«, sagte ich. Claudia Marcks sah mich an.»Woher kennen wir uns denn?«

«›Undine‹, Premierenfeier, genau an diesem Tisch.«

«Oh, bitte nicht«, rief sie.»Da bin ich so blau gewesen, so blau, o bitte, das tut mir leid!«Wie zur Entschuldigung legte sie eine Hand auf meinen Unterarm und fragte fast ängstlich, ob ich an jenem Abend auch Brüderschaft mit ihr getrunken hätte?

«Leider nicht«, sagte ich,»aber mit Ihnen hätte ich gern Brüderschaft getrunken.«

«Sag du«, flüsterte sie.»Einfach nur Michaela und du, ja?«

«Sehr gern, Michaela«, sagte ich, nannte meinen Vornamen und sah auf ihre wunderschöne Hand, die auf meinem Unterarm liegengeblieben war.

Ihr Enrico T.

Загрузка...