Dienstag, 6. 2. 90


Verotschka,

ich verlasse die Redaktion nur ungern, weil ich fürchte, Deinen Anruf zu verpassen. Komme ich herein, muß ich mich beherrschen, nicht jedesmal nach Dir zu fragen. Ich werde ungehalten, wenn Jörg oder Georg zu lange telephoniert. Ich habe versucht, Dich von Paris aus zu erreichen, aber irgend etwas habe ich falsch gemacht und auch die Telephonansage nicht verstanden.

Ja, wir sind in Paris gewesen, zumindest behaupten wir das. Am Sonntag um neun waren wir schon wieder zurück.»Wir kommen aus Paris!«verkündete Robert einer Nachbarin im Treppenhaus. Statt zu staunen oder Fragen zu stellen, sah sie Michaela und mich tadelnd an, als duldeten wir Lügengeschichten. Was Michaela dann erzählte, die Prozedur mit den Ausweisen, machte ihr das Ganze erst recht suspekt. Die Wahrheit hilft einem gar nichts, wenn man jemanden überzeugen will!

Ich bin froh, daß es überstanden ist. Ich hatte mir schließlich eingeredet, wegen Robert mitzufahren, ein Familienausflug eben. Michaela meinte, wir könnten es uns auch ohne Geld schön machen.»Drei-Tage-Fahrt «hieß es offiziell. Der erste Tag war der Freitag. 17 Uhr sollten wir in Eisenach abfahren.

Hunderte von Leuten warteten auf einem matschigen Platz, umgeben von Abrißhäusern und ein paar trüben Lampen. Ohne die Taschen und Beutel hätte es wie der Beginn einer Demonstration ausgesehen. Mamus hatte seit zwei in Eisenach auf uns gewartet. Sie war völlig aufgelöst, weil wir erst gegen halb fünf ankamen. Die eintreffende Bus-Armada scheuchte uns von einem Ende des Platzes zum anderen vor sich her. Die Fahrer erschienen in den sich öffnenden Türen, riefen ihre Zielorte aus und setzten sich wieder ans Steuer.

Paris gab es zweimal. Nachdem wir schon gefürchtet hatten, nicht mehr mitgenommen zu werden, fanden wir dann in der dritten und vierten Reihe Plätze, von denen aus wir sogar durch die Frontscheibe sehen konnten. Neben uns wartete die Fuhre nach Amsterdam, links von uns die nach Venedig. Die Prozedur war überall gleich. Zuerst wurden bundesdeutsche Ausweise verteilt, in denen alles richtig war, bis auf Name und Wohnort. Selbst Größe und Augenfarbe stimmten. An der französischen Grenze, so die Anweisung, sollten wir die Ausweise hochhalten35 und uns unauffällig verhalten, was immer sie damit meinten. Im Venedig-Bus übten sie das Hochhalten sogar. Als sie anfuhren, winkten sie.

Robert hatte mich zum Nachbarn erkoren, die Sitze waren sehr bequem und der Motor fast nicht zu hören. Kein lautes Wort störte den sanften Flug über die dunkle Autobahn. Als würde ich es nicht anders kennen, verließ ich bei jedem Stopp mit den anderen den Bus, beteiligte mich am Wettlauf zur Toilette und stopfte mir bei jeder Rast ein hartgekochtes Ei aus Mamus’ Picknickschachtel in den Mund.

Noch vor Mitternacht stiegen wir am Frankfurter Flughafen aus, der ersten Sehenswürdigkeit der Reise. Wir durchstreiften die hellen menschenleeren Hallen, lasen die Namen der Fluggesellschaften und grüßten die dunkelhäutigen Putzfrauen, die sich daraufhin abwandten.

Die Franzosen interessierten sich nicht für unseren Bus, und auch wir bemerkten Frankreich erst bei der nächsten Pinkel-pause. Mamus schnarchte leise. Müde wurde ich erst, als es dämmerte. Ich sah das Dunkelgrau über den Pariser Vorstädten, und im nächsten Augenblick fuhren wir bereits durch die Stadt. Es nieselte, und der Himmel schien dunkler geworden. Ich brauchte bis zur Place de la Bastille, um zu wissen, wo wir waren. Von dort aus funktionierte mein Orientierungssinn ohne Fehl und Tadel. Ich brillierte vor Robert und Michaela und war dabei selbst überrascht, daß wir über den Boulevard Henri IV fuhren und rechts die Inseln auftauchten und tatsächlich Notre-Dame erschien.36 Ich betete unser Sehnsuchtsmantra: Quai de la Tournette, Quai de Montebello, Quai St-Michel, Quai des Grands und sah auf die vertrauten Kästen der Bouquinisten.

Während ich gerade noch rechtzeitig den Louvre prophezeite, spürte ich Unbehagen. Ich brannte das Feuerwerk unseres jenseitigen Wissens ab, ohne dabei etwas zu empfinden. Vielleicht hast Du einfach gefehlt, oder ich ahnte, daß es eine Stunde später bereits so profan sein würde wie die Auskunft eines Taxifahrers. Ach, es war schon im selben Moment zum streberhaften Wissen eines Hausvaters verkommen, der den Urlaub gewissenhaft vorbereitet hat!

Wir fuhren über die Pont de la Concorde gen Norden, vorbei an der Madeleine und dem St-Lazare, die Rue de Amsterdam hinauf. Ich vermutete Sacré-Cœur als nächstes Ziel und hoffte, beim ersten Sonnenstrahl und einem Kaffee würde es halbwegs erträglich werden, als der Fahrer bekanntgab, wir befänden uns auf dem Weg zur berühmtesten» Mausefalle «der Welt. Wir bogen zweimal ab, sehr langsam nahmen wir die Kurven, unser Bus schwankte hin und her und wurde auf einmal vorn wie von einer Welle hochgehoben, bevor wir weiterrollten.

Dann sah ich die Frauen, die den Gehsteig säumten, Huren, morgens um acht. Das Gerede im Bus erstarb, der Fahrer schwadronierte über die Käuflichkeit der Liebe. Mitten in seinem Geplapper krachte es unter uns, als wären wir auf Grund gelaufen. Der Fahrer fluchte, und die Lautsprecher verstummten mit einem Knacks. Langsam fuhren wir weiter. Die Stille, in der wir zu den blanken Fenstern hinaussahen, hatte etwas Andächtiges. Diese Ungeheuerlichkeit, sich für ein paar Geldscheine Frauen aussuchen zu können! Robert wandte sich mit einem irren Grinsen nach mir um, zögerte, als wolle er etwas fragen, starrte aber gleich wieder hinaus, die Stirn an der Scheibe.

Plötzlich löste sich eine der Frauen von der Hauswand — ihre hautengen Hosen liefen ab den Waden in einem weiten Schlag aus — und trabte neben uns her. Ein buntes Tuch, in Piratenart um den Kopf geschlungen, verdeckte ihre Haare. Sie näherte sich unserem Fenster, kam dichter heran — sie war blutjung —, küßte ihre eigene Hand und drückte die Fingerkuppen vor Robert an die Scheibe. Selbst als sie rennen mußte, um auf gleicher Höhe zu bleiben, sah sie ernst herein, obwohl die Frauen hinter ihr loslachten, ja sich vor Lachen bogen und wir ihre Rufe und das Gejohle hören konnten, ein Spalier von Frauen, die uns auslachten. Dreimal klopfte sie noch gegen die Scheibe, dann war das alles verschwunden.

An Roberts Hals blühten rote Flecken.»Du hast ihr einfach gefallen«, versuchte Michaela ihn zu beruhigen.

Pariser Boden betraten wir am Fuße von Sacré-Cœur. Die Luft war milder, als ich erwartet hatte. Das Häusermeer strahlte eine Ruhe aus, die von den wenigen Wagen und Mopeds, die wie Fischlein durch die Straßen flimmerten, nicht gestört wurde. Wir stiegen die Stufen hinauf.»Wie oft waren wir nach getaner Arbeit hier heraufgekommen, fröstelnd, seit wir die Ankunft des Herbstes am Boulevard St-Germain gesehen hatten, den Regen über der Seine«, rezitierte ich.37 Robert wollte wissen, was das große Dach auf der linken Seite sei, und stutzte, weil ich unsicher war, welcher Bahnhof es sein könnte oder ob es überhaupt ein Bahnhof war. Ich wunderte mich, wie wenig markante Punkte es gab, Madeleine und den Louvre, ganz rechts der Eiffelturm, alles andere verschwamm, und mir war es recht. Am liebsten hätte ich mich auf einer der Bänke ausgestreckt und geschlafen. Das weiße Gestein erinnerte mich an die Fischer-Bastei.38 Die Tauben, die von der Kehrmaschine aufgescheucht wurden, stammten vom Neustädter Bahnhof.39

Plötzlich kniete ein Mann vor mir. Er war wie ein Stein vom Himmel gefallen, mitten auf den Weg. Er blickte zu Boden, als betete er, und bot uns einen Kranz verschwitzter Haarsträhnen dar. Das unförmige Ding in seinen Händen stellte sich als Mütze heraus, in der bereits eine Münze lag. Ich hatte keine Francs und traute mich nicht vorbei. Mamus sprang mir bei, stopfte einen Schein in die Mütze und flüsterte in perfektem Deutsch:»Von der ganzen Familie. «Eine Frau, die, wie wir später erfuhren, Deutschlehrerin in Erfurt ist, sagte, es sei nicht hinnehmbar, daß sich ein Mensch vor anderen Menschen derart demütige. Während sie weiterredete und sich ein Halbkreis bildete, hob der arme Lazarus — er dachte wohl, man spreche mit ihm — langsam den Kopf. Als die Gruppe seiner zerschrammten Stirn und Nase gewahr wurde und in sterbensmüde Augen und einen zahnlosen, halb geöffneten Mund sah, verstummten die Reden. Wir traten geschlossen die Flucht an.

Danach verging die Zeit wie im Flug. Als gäbe es überall etwas Besonderes zu schnüffeln, wurden wir in der Nähe des Centre Pompidou herausgelassen, am Triumphbogen, am Concorde und am Invalidendom, obwohl wir mit Ausnahme des Centre vom Bus aus den besseren Blick gehabt hätten.

Als wir am Eiffelturm hielten, am anderen Ende des Feldes, machten wir uns en famille auf die Suche nach einer Toilette. Auf dem Rückweg sahen wir, wie sich innerhalb von Sekunden unsere Reisegruppe vor der mittleren Bustür zusammenzog, um sich gleich darauf ebenso schnell zu einer Reihe zu ordnen. Die Ersatzbusfahrerin schöpfte mit einer viel zu großen Kelle Suppe in weiße Plasteteller. Robert und ich stellten uns an. Da wir aber, endlich an der Reihe, weder Napf noch Löffel vorweisen konnten, wurden wir aufgefordert, uns zu gedulden, um von den hastigen Essern, wie sich die Fahrerin ausdrückte, eine leere Schüssel zu übernehmen, die wir dann abwaschen könnten.

Über dieser Prozedur war mir entgangen, daß nun, nach erfolgter» Stärkung«, der Turm» bestiegen «werden sollte. Die ersten hatten sich bereits davongemacht, als ich noch versuchte, Mamus und Michaela zu einem Spaziergang zu überreden. Mein einziger Erfolg war, daß Mamus mir ein paar Scheine zusteckte — und schon hatten wir uns getrennt.

Ich überlegte, ihnen nachzulaufen, machte sogar ein paar Schritte — plötzlich war ich kurz davor, in Tränen auszubrechen. Das Bewußtsein, für zwei Stunden frei zu sein, so frei, wie ich es noch nie in meinem Leben gewesen bin, beraubte mich meines Willens. Ich ging zurück zu dem Café, in dem wir auf der Toilette gewesen waren, um dort, vor allen Eventualitäten geschützt, zu warten. Der herbeieilende Garçon, der mich wohl wiedererkannt hatte, wollte mir den Eintritt verwehren; er machte sich nicht mal die Mühe, mit der ganzen Hand zu wedeln, nur seine Finger streckten sich ein paarmal angewidert. Ich deutete auf die freien Barhocker und ging weiter.

Ich betonte Kaffee auf der letzten Silbe und bestellte außerdem» mineralnaja woda«, als wäre es weniger peinlich, russisch als deutsch zu sprechen. Ich zeigte dann einfach auf eine der beiden Flaschen, die mir die Bardame vor die Nase hielt, und merkte zu spät, daß in der anderen das richtige Wasser, das mit Kohlensäure, gewesen wäre.

Wie gern hätte ich mich mit jemandem unterhalten. Ich beobachtete die Kellnerin, die an einer riesigen Kaffeemaschine hantierte, starrte auf den Verschluß ihres BHs, der durch die weiße Bluse schimmerte, und fühlte mich vollkommen überflüssig.

Ich bekam einen Kaffee mit geschäumter Milch, bediente mich aus einer großen Zuckerdose und beobachtete, wie der Zucker durch den Schaum sank und an den Rändern hängenblieb.

Ich hatte zwei oder drei Schluck getrunken, als mir plötzlich der Geruch von verbrannter Milch in die Nase stieg. Ich verrührte einen zweiten Löffel Zucker, trank in kleinen Schlucken weiter, doch sobald ich die Tasse absetzte, roch es wieder nach verbrannter Milch.

Die Kellnerin schälte unmittelbar vor mir eine Zitrone. Ich glaubte erst, eine Kollegin sei an ihre Stelle getreten, so erschreckend alt, ja schrumplig waren ihre Hände. Ich zeigte mein Portemonnaie vor, erwartete die Rechnung im Stehen und büßte fast die Hälfte meiner Francs ein, weil ich mir schoflig vorkam, nur Münzen zurückzulassen.

Dabei hatte ich nicht mal ausgetrunken, zu stark war die Erinnerung an diese Plastetassen, diese grünen, roten oder braunen Plastetassen40, randvoll mit heißer Milch, die Haut darauf, die, sooft ich sie abfischte und am Tellerrand oder der Hose abwischte, neu entstand, die an der Lippe hängenblieb und wegen der mir vor Ekel der Atem stockte. Ich trat hinaus.

Obwohl es stürmisch und kalt war, schien es plötzlich Frühling auf Erden geworden zu sein. Alles badete in einem anderen Licht. Ich lief los, als könnte ich Dich in Paris finden, als wäre es möglich, daß Du mir jeden Augenblick entgegenkommst. Ich wollte Dich bei mir haben und mit Dir auch alles, was wir kannten, was wir gesehen hatten, was uns gehörte, unsere Straßen, unsere Welt. Diese konzentrierte Zerstreuung, die alles würdigt, allem huldigt, brüderlich, schwesterlich und voller Begehren. Das weiße Dekolleté der Zigarettenverkäuferin im Dunkel ihres Standes. Ich mußte in die Knie gehen, um ihr Gesicht zu sehen. Eine Fünfundzwanzigjährige, die, in ihr Tuch gehüllt, gestern zweiundfünfzig geworden ist. Ich bitte, sie begrüßt mich, sie wiederholt meine Bitte, sie reicht mir das Päckchen, ich zahle, sie bedankt sich, ich bedanke mich, wir verabschieden uns voneinander.

Wie ein Glücksspieler bestimmte ich meinen Kurs an jeder Ampel neu. Ich wußte nicht, wo ich suchen sollte, ich war mir nur sicher, Dich zu finden. Die ersten Schritte in Freiheit, ging es mir durch den Kopf, die ersten Schritte in Freiheit. Ich wollte mein Alter vergessen, meinen Namen, meine Herkunft, ich wollte nur sehen und einen Fuß vor den anderen setzen und Dich bei mir haben.

Zwei Nordafrikaner fragten mich etwas, ihre Stimmen so kostbar wie schwere glänzende Stoffe, ich zuckte mit den Schultern und lief weiter. Paris, erwacht zu einer marktschreierischen Werbung, bot im Februarlicht bereits den Frühling feil. Ich berührte Obststiegen, Metallgeländer, Hauswände, Türklinken. Ich wußte Dich nah. Ich sah Dich nicht, das wäre zuviel gewesen, aber ich war mir gewiß, daß wir dieselbe Luft atmeten, ich konnte Dich hören.

Ich deutete auf ein Portal und sagte:»Das Tor für die Reiter, Madame«, und Du sagtest, indem Du auf die Tür daneben zeigtest:»Das Tor für die Fußgänger, Monsieur.«41 Fortwährend hast Du etwas gesehen, was ich nicht sah, das ich immer nur erblickte, wenn Du mich darauf hinwiest: Das Schild DANGER DE MORT auf dem blauen Kasten, der mit durchsichtiger Folie eingehüllt ist, DANGER DE MORT. Ich habe Angst, Dich zu verlieren. Aber ich darf mir das nicht anmerken lassen. Ich muß mich entscheiden, ich muß in zwei Stunden in den Zug steigen, zurück, zurück hinter die Mauer, sie haben mich nur kurz rausgelassen, weil mein Buch hier erschienen ist, weil es in allen Auslagen liegt und wir von Schaufenster zu Schaufenster ziehen. Es ist noch zu früh, die Buchläden haben geschlossen.

An der Kreuzung setzen sich die Buchstaben auf den Vordächern zu» Dome «und» Rotonde «und» Toscana«42 zusammen. Nein, sage ich, nein. Ich will nicht ohne Dich sein. Ich will Dresden mit Dir sehen, früh, wenn die Sonne noch nicht über die Dächer gestiegen ist und in der blaßrosa Luft der Morgenstern strahlt, den Nebel über der Elbe, die verschiedenen Rots, mit denen die Zigarettenfilter beringt werden, bevor man sie an der Haltestelle über den Bordstein wirft, den hellen Damenhandschuh auf dem Trottoir, dem jeder ausweicht, den keiner aufhebt, auf den niemand tritt, den ich für eine Lilie halte, herausgefallen aus Deinem Strauß, DANGER DE MORT.

Plötzlich standen Mamus und Robert vor mir, Michaela ließ sich von einem älteren Herrn etwas erklären, sah auf und winkte mir zu.»Pünktlich auf die Minute«, lobte mich Mamus. Pünktlich auf die Minute war ich aus dem Jenseits zurück. Es nieselte.

Michaela gab mir ein Taschentuch, ich sollte mir mein verschwitztes Gesicht abwischen. Mamus nötigte mir ihren Schal auf. Der Wind hatte ihren Schirm ruiniert.

Wir folgten Robert, passierten die nächstgelegenen Cafés und verloren schnell die Orientierung. Ich fröstelte, und als an irgendeiner Ecke gerade in dem Moment, da wir vorübergingen, ein riesiges Omelett serviert wurde, wäre ich vor Hunger fast gestorben. Mamus hielt ihr Portemonnaie hoch und nickte. Natürlich waren wir dort gelandet, wo niemand landen will. Der Kellner legte eine knallrote abwaschbare Plasteunterlage vor jeden von uns, als wären wir Kinder. Michaela übernahm mit ihrem Schulfranzösisch die Bestellung und errötete nach dem abschließenden» Merci, Madame «des Kellners.

Der Kellner brachte eine Bierdose und schenkte mir ein, was wir andächtig verfolgten. Kaum hatten wir unser» Merci «geflüstert, als Michaela sagte, sie habe eigentlich nur Wasser bestellt. Ich trank den bitteren skandinavischen Import und hätte vor Müdigkeit am liebsten den Kopf auf den Tisch gelegt. Zur Toilette führte ein schmaler Gang, in dem ich mich an Fässern und Tüten vorbeizwängen mußte. Aus der Tiefe des Hauses kam mir jemand entgegen, der exakt dieselben Bewegungen vollführte wie ich. Kurz voreinander bogen wir gleichzeitig ab. Hier also haust mein Doppelgänger. Mein Bier war dann teurer als das Omelett. Wir schrieben ein paar Karten, eine auch an Dich.

Während der ganzen Zeit hörten wir von draußen Musik, eine Band, die ganz in der Nähe spielen mußte. Robert, der merkte, wie sehr seine Neugier Mamus freute, drängte zum Aufbruch. Dementsprechend enttäuscht war er, als wir nirgendwo eine Bühne sahen, nirgendwo ein Publikum, als gehörten die Beatles, Neil Young und Elton John zur Pariser Luft.

An der Ecke saß ein Japaner, umringt von einigen Geräten, auf den Schultern ein Gestänge, das die Mundharmonika festhielt, auf den Knien die Gitarre. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, daß wir vor des Rätsels Lösung standen. Dieser Japaner war der echte, der wahre Orpheus von Paris. Wenn er bei» Heart of Gold «nicht gerade in die Mundharmonika blies, stand wegen der Kälte immer ein weißes Atemwölkchen vor seinem Mund, als sänge er sich tatsächlich die Seele aus dem Leib.

Eine Weile bestaunten wir ihn. Ich gab ihm meine restlichen Francs und empfand dabei eine große Befriedigung. Glück und Gleichgültigkeit ähnelten sich zum Verwechseln. Wir konnten bleiben oder abfahren, alles war gut.

Bei der abschließenden» Lichterfahrt«, die eigentlich schon zur Rückfahrt gehörte, schlief ich ein. Ich hatte das Gefühl, alle paar Minuten aufzuwachen, ohne daß mir der Traum entglitt. Einmal muß ich so schnell wie möglich zurück, plötzlich steht statt VKU nur noch KU43 auf meinem Urlaubsschein. Ich kann die Uniform in der ganzen Wohnung nicht finden. Ich ärgere mich, weil ich gar keinen Urlaub gewollt hatte und nun ohne Uniform in einem Zug sitze, der immer lange hält, um seine Ankunfts- und Abfahrtszeiten einzuhalten. Von draußen blendet die Sonne, nicht mal die Stationsschilder sind zu erkennen. Niemand wird mir am Kasernentor glauben, daß ich Soldat bin. Da fallen mir die kurzen Haare ein. Ich zupfe unentwegt an ihnen, um zu üben, wie ich sie vorzeigen werde.

Statt der Fahrkarte ziehe ich einen Geldschein hervor und halte ihn so, als betrachtete ich eine Taschenuhr. Es ist ein Zehn-Franc-Schein. Bleiben mir also noch zehn Minuten für den Rückweg. Ein Franc nach dem anderen vergeht, ohne mich zu ängstigen. Ich weiß, daß ich träume und daß ich nur noch ein bißchen warten muß, dann wache ich von selbst wieder in Paris auf. In Paris werde ich meine Uhr verkaufen, um mir den Aufenthalt leisten zu können. Ich greife in die Tasche. Statt einer Uhr ziehe ich immer wieder Zehn-Franc-Scheine hervor. Ich überlege, wie oft ich das noch machen muß, damit ich einen Tag bleiben kann, eine Woche, ein Jahr.

Während die Mitreisenden im Abteil sich mehr und mehr wie Schüler auf einem Ausflug benehmen und einander mit ihren westdeutschen Ausweisen, die sie wie Taschenspiegel in der Handfläche halten, blenden, bleibe ich ruhig, weil ich ja die Dinge besitze. Ich bin überzeugt, die Dinge mindestens ebenso schnell parat zu haben wie sie die Ausweise, denn meine Jo-Jo-Hand, mit der ich gerade die farbigsten Früchte wie Tennisbälle fange und zurückwerfe, gewinnt zunehmend an Geschicklichkeit. Nicht nur das. Ich benenne auch jede Frucht. Wie leicht mir das Französische fällt, ich lese es von einem Täfelchen ab, das zugleich mit jeder Frucht erscheint, ich muß nicht mal Vokabeln lernen! Erst als ich zweimal hintereinander dieselbe Frucht fange, die mattorange und fünfsilbig schimmert, fällt mir auf, daß sich meine Stimme mit jeder Frucht ändert und ich längst eine Melodie singe. Um die Aufmerksamkeit der Mitreisenden zu erregen, muß ich die Früchte in jongleurhafter Schnelligkeit aufeinanderfolgen lassen, andernfalls wird die Musik, die in meinem Handeln klingt, unbemerkt bleiben. Schon im nächsten Moment bereue ich mein neues Tempo. Es ist unmöglich, die mehrsilbigen Worte auch nur annähernd vollständig auszusprechen. Zweimal fliegt mir die Frucht Merci zu, doch jedesmal gelingt mir nur Merz zu sagen. Merz, krächze ich, Merz. Meine Stimme ist dahin. Egal wie farbenreich die Frucht schillert, jedesmal krächze ich Merz, Merz, nur Merz. Die Mitreisenden machen sich einen Spaß daraus, nach meinen Früchten zu haschen. Ich bin empört darüber. Mamus ermuntert die anderen sogar, weil sie glaubt, ganz in meinem Sinne zu handeln. Ich schreie Mamus an, aber bevor ich ihr Gesicht sehen kann, wird die Abteiltür aufgerissen. Im selben Moment treffen die Reflexe der Handspiegel auf dem Abzeichen an der Mütze des Grenzers zusammen. Er nickt und will schon die Tür wieder schließen, als sein Blick auf mich fällt. Ich hebe die Hand, aber ich hebe sie nur wie zum Gruß, weil ich selbst schon nicht mehr daran glaube, daß mir irgendeine Frucht zufliegt. Alle stöhnen auf. Meinetwegen werden wir auf das Abstellgleis gewinkt.

Dein Heinrich

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