Liebe Frau Hansen!
Hier eine kleine Szene zum Thema Kunst, die Sie vielleicht interessieren wird: Heute vormittag, ich telephonierte gerade, erschien ein Mann mit glänzenden Augen in der Redaktion, nahm seine Schiffermütze ab, rückte sich einen Stuhl zurecht und zog ein abgegriffenes Portemonnaie aus seiner Gesäßtasche. Ich witterte einen Annoncenkunden.
«Darf ich reden?«fragte der Mann, obwohl er sah, daß ich noch nicht aufgelegt hatte.
«Sagt Ihnen das was?«fragte er, streckte beide Arme senkrecht nach oben und zog den Kopf zwischen die Schultern.»Sagt Ihnen das nichts?«Er wiederholte die Geste.»Das sollten wir doch abschaffen — diese Proletkultmonumente!«Wir als» neues Organ «müßten das aufgreifen!» Kommunistenkunst fliegt auf den Schrott!«Er bot sich an, einen Leserbrief zu schreiben.
Sie hätten wahrscheinlich schneller begriffen, was er meinte, und ihn auch schneller vor die Tür gesetzt. Ihre Lieblingsfigur64 neben dem Museum will er absägen. Er stopfte sich dann wieder sein Portemonnaie in die Gesäßtasche und schied mit dem Versprechen, nun endlich mal die» Bild«-Zeitung nach Altenburg zu holen.
Das goldene Zeitalter der Kunst läßt auf sich warten. Und was die Schubladen betrifft, von denen im Moment so viel die Rede ist: Die kann man vergessen. Wen interessiert das noch? Unsere Erfahrungen sind heute so brauchbar wie ein hundert Jahre altes Medizinstudium.
Das ganze Mißtrauen, mit dem solche wie wir65 seit Jahrtausenden bedacht wurden, war doch ungleich gerechtfertigter als Bewunderung und Verehrung.66 Nein, ich zähle nicht mehr dazu, Gott sei Dank habe ich das hinter mir. Leicht war es nicht. Man denkt, man hat eine Begabung, und dann versaut man sich damit das Leben.
Es ist ungewohnt, ohne Zukunft zu leben, jetzt, da alles nur noch eins zu eins zu haben ist, ohne Aussicht auf Erlösung. Aber diesen Zustand ziehe ich dem der Vergangenheit bei weitem vor. Heute erscheint mir die schönste Erinnerung nachgerade obszön.67
Ich würde Ihnen gern einmal von Johann erzählen, einem Freund von mir. Er ist zu klug, um nicht zu erkennen, daß kein Stein auf dem andern bleiben wird, aber zu selbstverliebt, um nicht trotzdem wie bisher weiterzumachen. Johann hat, nicht ganz freiwillig, Theologie in Naumburg studiert und müßte ab Sommer als Pfarrer aufs Dorf ins Erzgebirge. In Dresden jedoch ist er bekannt als Untergrunddichter und Musiker. Zudem hat er eine Frau, deren Familienname auch außerhalb vom Weißen Hirsch (dem Prominentenviertel hoch über der Stadt) und von Dresden etwas gilt. Jetzt versucht er sich in die Politik zu retten. Selbst wenn er gewählt werden sollte, wird er sehr schnell zu spüren bekommen, daß diese Ersatzdroge zu schwach ist.68
Ich weiß gar nicht, ob Sie das überhaupt interessiert. Ich wollte Ihnen einfach einen Gruß schicken, der, selbst wenn er sich nicht so lesen sollte, sehr herzlich gemeint ist!
Ihr Enrico T.