Montag, 12. 2. 90


Lieber Jo!

(Vielleicht geht es im Leben nur darum, für sich das passende Layout zu finden.) Ich habe nicht geahnt, was Layout wirklich bedeutet! Erst nachdem ich gesehen hatte, wie einfach es ist, die Artikel auszurechnen, um sie auf die Spiegel zu übertragen, glaubte ich wieder daran, daß wir es schaffen würden! Das Layout ist unsere Landkarte, es ist unsere Verfassung, unser Vaterunser. Das Layout (Jörg betont es auf der ersten, Georg auf der zweiten Silbe) hindert dich daran, ungerecht zu werden und den eigenen Vorlieben nachzugeben, nichts darf bevorzugt oder benachteiligt oder vergessen werden. Layout ist Zivilisation und Recht, ist Höflichkeit und Anstand, ein Zuchtmeister, der dir die Freiheit schenkt.

Die Arbeit war eine Orgie. Das Gebot, fertig werden zu müssen, war größer als jeder Wille, als jede Kraft und immunisierte gegen Erschöpfung. Wie ein Dämon ergriff es uns, ein Wesen mit drei Köpfen und sechs Händen. Eine OP-Mannschaft kennt vielleicht solch einen Rausch. Erst jetzt kann ich ermessen, welches Wunder eine Zeitung ohne weiße Stellen bedeutet.

Die Tage, die dem vorangingen, waren allerdings ein Alptraum, als würde unser Schiff bereits beim Stapellauf kentern. Obwohl wir im Material ersoffen, blieben die Seiten leer. Am schlimmsten war Georg, der nichts gelten ließ, nicht mal seine eigenen Artikel. Die erste Ausgabe sollte etwas Besonderes werden.

Als auch Fred seine Meinung zum besten gab — der Leserzorn würde gerade ihn, den Vertriebsmann, zuerst treffen —, hat ihn Jörg vor die Tür gesetzt.

Am Sonntag morgen lag nur Jan Steens Seite in der Mappe. Die restlichen elf standen uns noch bevor. Franka, Georgs Frau, ging mit den Jungen in die Kirche, damit Georg im Wohnzimmer an seinem Tankstellenartikel feilen konnte, Jörg schrieb seinen Aufmacher wieder mal um, ich blätterte im Duden (ich weiß jetzt, wie» Mise en scène «geschrieben wird) und kümmerte mich um den Ofen. Fred war nach Offenburg gefahren, um den VW-Bus abzuholen. Am Abend zuvor hatte er im gegenüberliegenden Zimmer Linoleum verlegt. Das wird unser zweiter Arbeitsraum.

Gegen elf klingelte es. Drei Männer wollten zu Georg und Fred, sie seien verabredet, sie hätten sich auf dem Markt kennengelernt. Sie hängten ihre langen Mäntel nebeneinander an die Garderobe. Ihr kleiner Anführer krauste seine Nase und machte sich sofort an allem zu schaffen, alles mußte er berühren, alles in die Hand nehmen. Die Briefwaagen gerieten unter seinen Fingerkuppen in stürmische Bewegung. Er patschte an die Ofenkacheln und auf den Tisch, sein Daumennagel prüfte das Holz der Stuhllehnen, und seine Adjutanten wies er an, gegen die Balken der Decke zu klopfen.»Unglaublich«, lautete jedesmal sein Befund,»wirklich unglaublich.«

Seine Aufmachung, braune Kordhose, dunkelgrünes Jackett, gelber Westover47, wirkte gediegen, im Gegensatz zu der seiner Lakaien, die die Farben Lila und Dunkelrot bevorzugten. Nachdem der kleine Anführer unsere Hände geschüttelt und Platz genommen hatte, konnte er nicht mehr an sich halten, er mußte uns seine Eindrücke über die» Hinterlassenschaft des Kommunismus «mitteilen.

Jörg hämmerte weiter auf dem» grünen Ungeheuer «und schnaufte wie Swjatoslaw Richter. Die bunten Burschen nutzten jede Atempause ihres Chefs, um eigene Beobachtungen kundzutun, nannten uns Enthusiasten und Leute, die endlich ihre Ärmel hochkrempelten.

Als ich den Anführer fragte, was er denn für einen Beruf ausübe, erhob er sich, um unter mehrmaligen Entschuldigungen seine Visitenkarten auf den Tisch zu schnippen, als spielte er seine Buben aus. Umgehend folgten zwei Asse. Ich hatte es mit einem» Chef vom Dienst «und zwei Redakteuren einer Gießener Zeitung zu tun.

Während sie redeten und redeten, holte ich unsere Spiegel48 aus der Kammer und bedeckte damit die Tischplatte. Ich legte die Photos und Artikel auf meine Seiten, als schmückte ich einen Gabentisch. Zum Schluß nahm ich den Layout-Entwurf zur Hand und sah darauf mit der Gewißheit, am Ende meines Täuschungsmanövers angelangt zu sein.

Der Chef vom Dienst beugte sich vor, breitete die Arme aus und rief:»Bleisatz! Sie arbeiten mit Bleisatz?!«Einen Moment hielt ich die kleinen Haarbüschel auf seinen Fingern für Fliegen.»Ihr wißt doch schon gar nicht mehr, was das ist«, fuhr er seine Lakaien an, lächelte mir zu, streichelte die weißen Bögen, sein Kinn deutete auf den Layout-Entwurf.»So soll es aussehen?«

Ich nickte.

«Sehr gut, sehr gut«, sagte der Chef vom Dienst und begann, mir rätselhafte Fragen zu stellen, zum Beispiel, wieviel Punkt die Überschrift habe und die Unterüberschrift, doch glücklicherweise erteilte er sich die Antwort jedesmal selbst: also zweiundzwanzig, oder achtzehn, und zwölf die Unterüberschrift. Und die Schrift? Also acht. Wir spähten beide hinaus auf das weite weiße Meer, das unberührt vor uns lag.»Ich habe Sie gar nicht gefragt«, fuhr er plötzlich herum,»ob ich darf?«

«Natürlich«, sagte ich und schickte meinen Blick wieder zum Horizont. Jörg hämmerte ununterbrochen auf die Tasten.

Der Chef vom Dienst, der sich des Jacketts entledigt hatte, streckte gebieterisch seine Arme aus. Seine Burschen eilten herbei und nahmen ihm diensteifrig die Manschettenknöpfe ab. Gewissenhaft krempelte er die Ärmel hoch. Plötzlich schwebten seine Hände über den Spiegeln, schnellten wie Libellen übers Wasser, von hier nach da, verharrten eine Weile und zeichneten dann weiter ihr unsichtbares Muster.

Er verlangte Bleistift, Typomaß und Taschenrechner —»Ein Zettel tut’s auch«—, trat kurz zurück und begann.

Es folgte eine Stunde, in der ich erstmals etwas erlernte, das vielleicht dazu taugt, mir mein Brot zu verdienen, ein Handwerk eben. Und zum ersten Mal seit der Schule löste ich wieder eine Gleichung mit einer Unbekannten.

Den Chef vom Dienst interessierte nicht, ob die Substantivierungen verschwunden und die Verben vermehrt worden waren oder ob sich der Satzbau variantenreich und zugleich übersichtlich gestaltete, der Chef vom Dienst fragte nach der Anzahl der Zeichen und Zeilen, welches Photo zu welchem Artikel gehöre, was ein Dreispalter, was ein Zweispalter werden solle. Jetzt waren seine Hände Mäuse, die übers Papier huschten.

Mein Gärtnermeister-Dippel-Artikel war zweimal sechs Zeilen zu lang. Ich strich und erschrak, wie leicht das ging. Der Chef vom Dienst stellte die nächste Kürzungsaufgabe.

Es strömte wieder Leben in mich ein. Die Seite war fertig. Der Chef vom Dienst plante schon die nächste, als Georg erschien und uns alle, auch die Gießener, zu Tisch bat. Die Adjutanten vergaßen darüber den Sinn der ausgestreckten Arme ihres Chefs.»Die Manschettenknöpfe!«zischte er, worauf beide in ihren Jackettaschen wühlten.

Erst glaubte ich, wir würden es bis acht Uhr abends schaffen. Wir mußten ja nur rechnen und kürzen. Es wurde zehn, es wurde zwölf, dann eins, dann drei. Gegen vier legten wir die Seiten in die Mappe. Am schönsten war das Aufräumen. Georg putzte den Ofen, Jörg die elektrische Schreibmaschine. Schließlich saßen wir neben der Transportmappe, als warteten wir darauf, daß unser Kind einschläft.

Übermorgen fahren wir zum Korrekturlesen.

Sei umarmt, E.


PS:

Ich soll Dich von Vera grüßen. Sie rief aus Beirut an. Ihre Schwiegermutter (mit dem schönen Namen Athena) ist krank und sträubt sich gegen eine Reise nach Berlin. Nicola spielt mit dem Gedanken, sein Geschäft in Berlin aufzugeben und das seines verstorbenen Vaters fortzuführen. Von dem Haus ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Aber die wertvolleren Stoffe haben im Keller die Zerstörungen und Plünderungen unbeschadet überstanden. Mutter und Sohn begreifen das als ein Zeichen und Wunder. Welche Rolle Vera bei diesen Überlegungen zukommt, weiß offenbar niemand, zumindest weiß sie es nicht. Und da mein Schwesterchen bekanntlich schon kränkelt, wenn sie nicht das Gefühl hat, der Mittelpunkt der Welt zu sein, versuche ich ihr jede nur denkbare Liebeserklärung zu machen. Ob meine Briefe sie überhaupt erreichen, ist allerdings fraglich. Wenn Du es einmal versuchen willst: Madame Vera Barakat, Beirut — Starco area — Wadi aboujmil, the building next to Alliance College — 4th floor.

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