Dienstag, 13. 3. 90


Lieber Jo!

Ich hatte einen Unfall, schuld war ein Wahnsinniger, der uns quasi von der Straße geschoben hat. Ich habe eine leichte Gehirnerschütterung, und ein paar Halsmuskeln sind gezerrt, aber das ist auch schon alles. Wir99 hatten Glück, denn plötzlich standen wir — mit kaputter Frontscheibe — genau zwischen zwei Bäumen.

Ohne Auto fühle ich mich wie amputiert, dadurch gerät alles durcheinander, es bedrückt mich regelrecht. Früher genügte es mir oft schon, Jimmy100 zu sehen, und gleich ging es mir besser. Wahrscheinlich wird seine Reparatur so teuer, daß sie nicht lohnt. Es ist das Auto von Michaelas verstorbenem Vater, der es gehegt und gepflegt hat, und für ihre Mutter das Andenken an eine bessere Zeit schlechthin. Außerdem wird sie nun merken, daß wir keine Kaskoversicherung abgeschlossen haben.

Ab morgen bin ich wieder in der Redaktion und werde versuchen, Euch anzurufen. Ich bin froh, wieder unter Leute zu kommen. Wenn ich hier herumliege, lebe ich nicht.

Besuch hatte ich genug. Der alte Larschen kam den ganzen Weg hierher gelaufen und hatte Äpfel in seinem Rucksack, eigene Ernte, die er uns, jeweils einzeln in raschelndes Papier verpackt, wie eine Kostbarkeit auf den Tisch legte. Der Apfel, belehrte er Michaela und mich, gehöre zu den Rosengewächsen, worauf Michaela sagte, so schöne Rosen habe sie lange nicht mehr geschenkt bekommen. Die beiden schlossen gleich Freundschaft. Sie darf sogar das Manuskript seiner Memoiren lesen. Wir luden ihn ein, mit uns Abendbrot zu essen. Als wir uns an den Tisch setzten, unterbrach Larschen seinen Exkurs über den Wacholderstrauch, legte das Kinn auf die Brust und betete lautlos. Robert erlebte das wohl zum ersten Mal. Wir sahen einander an, wagten aber nicht zu lächeln. Larschen hob den Kopf und sagte im selben Augenblick:»Der Wacholder kann bis zu fünfhundert Jahre alt werden, die Sommerlinde bis zu tausend. «Und auch wir bewegten uns wieder, als wäre der Film nur kurz angehalten worden. Als Larschen gegangen war, roch die Wohnung ein bißchen nach ihm. Die Äpfel aber dufteten.

Jörg glaubte, mich beruhigen zu müssen, weil wir nur noch siebzehntausend Exemplare oder weniger verkaufen. Die Wahlen werden uns helfen, und Jörg verfolgt ein paar Fälle aus seiner» Kommission gegen Korruption und Amtsmißbrauch«. Er ist dort der einzige Unbelastete und hat somit leichtes Spiel.

Heute stand Wolfgang, der Hüne, samt seiner ebenso hünenhaften Frau vor der Tür. Er wußte nichts von meinem Unfall, sie waren gekommen, um uns einzuladen. In Offenburg, bei unserem gemeinsamen Topfkauf, hatte er uns ein Essen versprochen. (Bisher haben wir uns nicht gewagt, die Töpfe zu benutzen.) Er arbeitet jetzt für Jan Steen, fährt einen eigenen Dienstwagen und verdient offensichtlich so viel D-Mark, daß es ihm peinlich ist, darüber zu sprechen. Jan Steen, sagte Wolfgang, lese jede Zeile unserer Zeitung. Den interessiere alles. Gefragt, wie sie ihm selbst gefalle, lachte er unsicher. Ein bißchen mehr Pfeffer täte der Zeitung sicher gut. Ich habe etwas ungehalten reagiert, schließlich gibt es ja nicht jede Woche einen Skandal wie den um die Ratsbibliothek101 (und selbst da soll ja alles rechtens gewesen sein) oder irgendeinen Fall aus den Schulen102. Meine Frage nach seinem alten Betrieb empfand er wie eine Retourkutsche, obwohl ich das eher aus Verlegenheit angesprochen hatte. Aus den Andeutungen seiner Frau schloß ich, daß ihn diese Entscheidung quält. Aber auf Jan Steen läßt er103

«nichts kommen«, wollte ich schreiben. Es ist gleich zwölf. Barrista stand plötzlich vor der Tür. Er ist unglaublich. Sein Blumenstrauß war so groß, daß ich erst gar nicht erkennen konnte, wer da vor mir stand. Niemanden hatte ich weniger erwartet. Er wiederum schien überrascht, mich» so gut aufgelegt «zu finden.

Robert wurde mit derselben Verbeugung begrüßt wie ich. Er siezte ihn und sprach ihm seine» Anerkennung «aus, weil er wisse, was es bedeute, sich allein auf dem Markt zu behaupten, und nannte es ein großes Glück, in dieser Zeit so jung zu sein wie er, noch alles lernen, noch alles beginnen zu können. Mit dem kleinen Sermon hatte Barrista Roberts Flucht vereitelt. Ohne Aufforderung kümmerte sich Robert dann um Astrid, den Wolf, während ich den Tisch fürs Abendbrot mit Servietten bestückte, eine Flasche Cabernet dazustellte und dem Wurstteller eine Gabel beigab, was Robert als Zugeständnisse an den Gast akzeptierte (Michaela hatte Vorstellung, immer wieder die Statistenrolle in» Rusalka«)104.

Barrista bestrich sein Brot so gewissenhaft mit Butter, wie ich es sonst nur von Dir kenne, plazierte die Wurstscheiben mit derselben Akkuratesse und brachte so die Rundungen von Bierschinken und Brot beinah zur Deckung.

Als ich ihm Wein nachschenken wollte, wehrte er ab und sah mich durch sein Panzerglas an: Ob ich fähig und willens sei, ihn in einer halben Stunde zum Bahnhof zu fahren? Der Tatbestand sei folgender — und dann legte er mir lang und breit dar, warum es für ihn besser sei, mit dem Zug, das heißt im Schlafwagen, nach Stuttgart zu fahren (oder Frankfurt am Main?), um mir schließlich seinen LeBaron zur Aufbewahrung anzutragen. Natürlich solle ich damit fahren, das wäre ihm lieb, ja die Vorstellung eine Freude. Er wiederholte, wobei er beschwörend die Hand auf sein Herz legte, wie gern er mich in seinem Wagen wisse und mir nach meinem Unglück wenigstens auf diese Art und Weise behilflich sein möchte. Natürlich geschehe das, wie immer bei ihm, aus egoistischen Motiven. So einen Wagen könne er hier nicht über Tage hinweg ohne Aufsicht und auf demselben Flecke stehen lassen.»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, lieber Herr Türmer«, schlechte Erfahrungen habe er hier in diesen Dingen nicht gemacht, aber man müsse ja nichts provozieren. Wenn er mich absolut nicht überzeugen könne, so solle ich zumindest seine Maxime berücksichtigen, dem Staat nicht unnötig etwas zu schenken, denn Steuer und Versicherung seien ja bezahlt, der Wagen warte vollgetankt vor dem Haus.

Es blieb gerade genug Zeit, um ihm einen Kaffee zu kochen. Während Barrista sich kurz entschuldigte, schmierten wir Schnitten, belegten sie dick mit der restlichen Wurst, und Robert kam auf die Idee, ihm den Kaffee in einer Thermoskanne mitzugeben. Der Baron war gerührt.

Zum Bahnhof fuhr bereits ich. Ich fürchtete, wir könnten als Gegenleistung zur Pflege des Wolfs verpflichtet werden, der neben Robert auf der Rückbank saß. Der Baron und Robert sprachen über Musik, über das, was Robert Musik nennt. Der Baron kannte die meisten Bands und wußte Klatschgeschichten von Milli Vanilli und wie sie alle heißen. Die Quelle dieses Wissens fand sich im Kofferraum: ein Stapel» Bravo«-Hefte, die er Robert vermachte. Er habe sie bereits gelesen, seine Pflichtlektüre, um sich ein Bild zu machen, was Jugendliche beschäftige. Bei der Gelegenheit erfuhren wir von seinen zwei Kindern, die er aber viel zu selten sehen dürfe. Zu mehr Fragen blieb keine Zeit. Auf sein Drängen hin probierte ich noch das Auf- und Zuklappen des Daches, da nun doch Frühling werden sollte, und erhielt die Papiere. Eine Büchse Hundefutter, als Napf ein großer Plasteaschenbecher mit Stuyvesant-Reklame und die Collegemappe waren sein ganzes Gepäck.

Er hob den Wolf in den Zug, verabschiedete sich knapp und zog die Tür hinter sich zu. Robert und ich folgten ihm auf dem Bahnsteig von Fenster zu Fenster, sahen zu, wie er sich setzte, die Mappe öffnete und einen Stapel Papiere herausnahm. Beim Lesen lehnte er den Kopf gegen die Scheibe, als schliefe er. Irgendwie glaubte ich in diesem Moment zu verstehen, warum er den Wolf immer bei sich hat.

Kennst Du die Serie mit David Hasselhoff und seinem sprechenden Auto?105 Dieser LeBaron sieht so ähnlich aus. Man steuert ihn mehr im Liegen als im Sitzen. Solchermaßen die Leuten passierend, die aus dem Theater strömten, kam ich mir vor, wie ein leise durchs Wasser gleitendes Reptil. Nahezu erschrocken wandte man sich nach uns um.

Michaela stieg kommentarlos ein, so niedergeschlagen war sie. Sie verlor auch kein Wort wegen Robert, der eigentlich um acht im Bett sein muß.»Bloß weg hier«, sagte sie, was ich als Aufforderung zu einem kleinen Ausflug nahm.

Gleichwohl genoß sie die Fahrt und lächelte, als wir auf der langen Geraden hinter Rositz hundertsechzig fuhren. Zu Hause angekommen, glaubte ich, Michaela und Robert wären eingeschlafen, aber sie hatten nur keine Lust auszusteigen.

Im Wohnzimmer fielen wir über Barristas Konfektschachtel her: Schokoladenkugeln, die auf der Zunge zerschmelzen — Michaela nahm sich von jeder Sorte eine und legte sie, da sie auf Barristas Platz saß, auf seinen Teller, den sie für unbenutzt hielt. Ich schaffte drei, Robert zwei, Michaela aß sie wie Kirschen und zog mit dem Rest vor den Fernseher, wo sie noch sitzt und den Wahlorakeln lauscht.

Lieber Jo, mir fällt es schwer, etwas zu Deinen neuen Arbeiten zu sagen.106 Ich bin zu weit weg davon. Erfundenes interessiert mich nicht mehr. Das ist natürlich kein Argument, schon gar kein Qualitätskriterium. Die neue Literatur, sollte es überhaupt so etwas geben, wird eine Literatur der Arbeit sein, des Geschäftemachens, des Geldes. Schau Dich um! Die im Westen tun nichts anderes als arbeiten. Uns ergeht es nicht anders.

Grüße Deine Frauen, sei umarmt, E.

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