Lieber Jo!
Gestern präsentierte mich Jörg als Kompagnon, er sprach ernst und mit ungewohnt langen Pausen, was seine druckreifen Sätze noch mehr zur Geltung brachte. Obwohl eigentlich alles, was er sagte, bekannt war, wagte niemand, dieses Ritual zu stören, und sei es nur durch ein gelangweiltes Gesicht. Marion saß aufrecht und nickte mir zu, als wollte sie sagen: Courage, Enrico, Courage! Ilona drückte ihre knochigen Knie aneinander und strich unentwegt über den Saum ihres karierten Minirocks. Sie und Fred sind offenbar besonders empfänglich für Ansprachen dieser Art und wetteiferten um den würdevolleren Gesichtsausdruck. Kurt, Freds Gehilfe und Ausfahrer und als Mitglied eines Photozirkels unser Filmentwickler und gelegentlicher Photograph, saß reglos mit verschränkten Armen da. Von ihm habe ich noch nie einen vollständigen Satz gehört. Wenn wir uns sehen, hebt er die Hand zum Gruß und beantwortet jede Frage mit» gut «oder» könnte besser gehen«. Vor Kurt ist alle Arbeit gleich. Würdest Du ihn bitten, die Fenster zu putzen, er besorgte sich auf der Stelle Eimer, Wischtuch und Zeitungen und würde erst aufhören, wenn alle Fenster glänzten. Die» Wismut «hat ihn ausgemustert und dem Krankenhaus als Nachtportier überlassen. Ich weiß nicht, wann er eigentlich schläft.
Außerdem hatten wir Pringel, einen unserer Freien, hinzugebeten. Ich habe ihn in Leipzig kennengelernt, er hat die Betriebszeitung der» Lufttechnischen Anlagen «gemacht, ein perfekter Korrekturleser. Weil er mollig und untersetzt ist, kann er die Beine nie längere Zeit übereinandergeschlagen halten, was ihm aber wichtig zu sein scheint; also wechselt er ständig, weshalb von ihm eine merkwürdige Unruhe ausgeht. Pringels Bart wuchert mit jedem Tag wilder, die Einhegung seines Kindergesichts.
Jörg sprach viel von Verantwortung und dem Risiko, das wir beide uns nun teilen würden. Er verpflichtete alle zu Diskretion, was Inhalte und Zahlen betreffe, insbesondere jetzt, da wir nächste Woche mit der Ankündigung des Erbprinzenbesuches aufmachen werden.
Jörg wird uns nach außen vertreten, ich werde mich um die Interna kümmern, das Redaktionelle entscheiden wir gemeinsam.
Dann war es an mir, ein paar Worte zu sagen. Kaum war ich fertig, fragte Fred, was sich denn ändern werde? Er war gereizt, weil Jörg ihn im Gegensatz zu Ilona nicht bei den Redaktionssitzungen dabeihaben will.
Obwohl ich niemandem eine Antwort schuldig blieb, war ich froh, als die Versammlung vorbei war.
Der Baron hat Jörg, Marion und uns für nächste Woche in den» Wenzel «eingeladen. Er bat mich inständig, diesmal meine Frau nicht wieder zu verstecken.
In seinem neuen Wagen — den alten darf ich behalten, bis ich mir einen eigenen kaufen kann151 — unterhielten wir uns noch eine Weile. Er müsse zugeben, die Spielregeln im Osten nicht zu kennen, aber je länger er über die Tatsache nachdenke, daß mir die Hälfte der Firma regelrecht aufgeschwatzt worden sei, desto weniger könne er umhin, einen Haken zu suchen, der, gerade weil er so dicht vor unserer Nase hänge, von uns übersehen würde. Ich erzählte, was ich wußte, daß Jörg und Georg ihre jeweils zehntausend Mark nicht gebraucht und bereits an ihre Mütter zurückgegeben hätten. Die zwanzigtausend D-Mark von Steen waren für den Baron neu. Je mehr ich erzählte, desto unglaubwürdiger kam ihm alles vor.
Es sei, wie es sei, sagte er schließlich, jedenfalls könne ich von nun an nicht mehr ruhig schlafen. Er wolle sich später keine Vorwürfe machen müssen, deshalb weise er mich im Augenblick größten Glücks darauf hin, daß bei einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts die Eigentümer nicht geschützt seien.»Sie haften mit dem letzten Hemd Ihrer Frau, mit der letzten Hose Ihres Sohnes!«Er beteuerte, daß er nichts unterstellen wolle, aber ich sollte mit so mancher Tücke der neuen Welt rechnen. Zuweilen reiche ein Dachziegel oder eine Bananenschale aus, um eine Firma zu erledigen. Sein Lösungswort laute: GmbH! Er malte die Buchstaben an die beschlagene Frontscheibe und dozierte weiter. Dann kramte er im Handschuhfach und überreichte mir als Abschiedsgeschenk einen dtv-Band. Die Gebrauchsspuren markieren das GmbH-Gesetz.
Sei umarmt
Dein Enrico