Lieber Jo!
Ich habe Deine Briefe bekommen und gelesen, mir fehlt es aber an Lust und an Kraft, mit Dir zu streiten. Ich würde mich sowieso nur wiederholen. Warte noch ein paar Monate, dann werden wir gar nicht mehr darüber reden müssen.
Ich mache kleine Spaziergänge, lese Zeitungen und koche mittags für uns. Plötzlich habe ich so viel Zeit, daß ich gar nicht weiß, was ich damit machen soll.
Gestern war ich sogar bei einer Versammlung des Neuen Forums, nicht ganz freiwillig, wie ich gestehen muß. Rudolph Franck, der wegen seines grauen Zuckerwattebartes der» Prophet «genannt wird, hatte mich gebeten zu kommen. Seiner Initiative und Fürsprache verdanke ich die Arbeit bei der Zeitung. Was er sich von meiner Anwesenheit versprach, ist mir schleierhaft. Ich werde ihn wohl enttäuscht haben.
Jörg meinte, es gebe ein Gerücht, Gerücht sei schon zuviel, man wispere nur, daß, wenn jemand (so wie ich) im Herbst den Mund nicht voll genug gekriegt hat, dann aber von heut auf morgen abtaucht, die Sache nicht koscher sein könne. Ich fürchte, es ist Jörg selbst, der solches Zeug streut. Es würde zu ihm passen.
Ein paar hundert Leute waren im Saal. Ich wollte mich schon setzen, als ich hinter mir meinen Namen hörte. Ich kannte diesen Mann nicht, braunäugig, mittelgroß, dunkles schütteres Haar. Er sei so froh, mich hier wiederzusehen. Seine Frau versicherte mir, wieviel ihr Ralf von meiner Rede damals in der Kirche erzählt habe. Mit ihr und Ralf geriet ich an einen der vorderen Tische. Georg und Jörg saßen bereits im Präsidium. Und dann ging es los.
Anfangs wurde ständig abgestimmt, um alles mögliche zu bestätigen. Eine derartige Prozedur habe ich mein Lebtag nicht über mich ergehen lassen müssen. Ich fühlte mich meiner Freiheit beraubt, plötzlich war ich ein Gefangener.
Ralf hingegen schien freudig erregt. Er krempelte seinen Einkaufsbeutel wie einen Ärmel auf, zum Vorschein kamen eine Schreibunterlage und ein A4-Block. Seine Hoffnung, sein Stolz, ja seine ganze Überzeugung lagen in der Sorgfalt, mit der er das Blaupapier zwischen die Seiten legte und, den Kopf dicht über dem Blatt, zu schreiben begann. Nur wenn Jörgs Rede vom Beifall unterbrochen wurde, hielt er inne und klatschte, den Kuli in der Rechten, lautlos mit.
Georg saß den ganzen Abend fast reglos am Präsidiumstisch und starrte vor sich hin. Beim Abstimmen riß er allerdings regelmäßig als erster den Arm hoch. Jörg, der Versammlungsleiter, grüßte unentwegt Bekannte, die er im Saal entdeckte, und lächelte. Ganz links erkannte ich jenen Schreihals wieder, der die Demonstration am 4. November gerettet hatte. Seine Augen glänzten.
Vielleicht müssen solche Sitzungen ja sein. Mir aber wurde vor Langeweile richtig schlecht.14
Nach einer Stunde etwa erhob sich zwei Tische entfernt eine Frau. Wegen ihrer großen Brille und der perückenartigen Haarpracht war ihr Alter schwer zu schätzen. Was sie von sich gab, blieb unverständlich. Aufgefordert, lauter zu sprechen, rief sie:»Ich bin bereit, die Führung des Neuen Forums zu übernehmen. «Gebeten, ihren Namen zu nennen, schrie sie enthusiastisch:»Ich heiße«, brach jäh ab und wiederholte ihre Bereitschaft, die Führung zu übernehmen. Von Applaus und Gejohle ermuntert, erhob sie die linke Faust zum Gruß.
Aus Rücksicht auf Georg und Jörg, vor allem aber auf Ralf klatschte ich nicht mit. Schon mein Lächeln schien ihn zu kränken.
Nach ihr riß der Schreihals im Präsidium das Mikro an sich. Er betonte jedes zweite oder dritte Wort und federte dazu in den Knien. Er sprach lachend, als erbrächte jedes seiner Worte den praktischen Beweis, wie unleugbar recht er habe. Mit dem Bleistift zeigte er dann auf diejenigen, denen er das Wort erteilte. Man beschimpfte ihn als Suffkopp15 und Stümper.»Für alles wird es eine Lösung geben«, schrie er,»wenn die grundlegenden Machtfragen beantwortet und demokratische Strukturen geschaffen sind!«
Schon verließen ganze Gruppen den Saal. Plötzlich sprach Ralf. Eine Hand am Gürtel, als müsse er die Hose am Rutschen hindern, hielt er mit der anderen Mikro und Manuskript. Ralf gestikulierte, war deshalb kaum zu verstehen und begriff nicht, was all die Mikro! — Mikro! — Rufe sollten. Punkt für Punkt trug er schließlich seine Forderungen vor, brachte sich selbst aus dem Rhythmus, weil er sich nach Zwischenrufern umdrehte, während seine Frau» Mach weiter!«zischte.
«Keine Übernahme der Westparteien, Partnerschaft mit den anderen demokratischen Kräften im Osten, Stopp dem Flächenabriß der Altstadt, Ermittlungen wegen verkaufter Ratsbibliothek, Bestrafung des Schalck-Golodkowski16, freie Wahlen, Erhalt der Braunkohle, Erhalt der Wismut17 für friedliche Zwecke, Entlassung von Scharfmachern aus dem Schuldienst, Austritt aus dem Warschauer Pakt, Zivildienst …«
«Mach weiter! Mach weiter!«flüsterte seine Frau.
Nach über drei Stunden wurde die Versammlung für beendet erklärt. Einige stimmten das Deutschlandlied an, es ging aber im Lärm unter. Die meisten Tagesordnungspunkte hatten entfallen müssen, so auch die Vorstellung unserer Zeitung.
Ralf schwieg. Ich versuchte zu lächeln. Seine Frau senkte den Blick, als schämte sie sich — für sich selbst, für mich, für Ralf, für die ganze Versammlung. Im Hinausgehen fragte mich Ralf nach meiner Meinung.»Aber ehrlich, Enrico, ganz ehrlich.«
An der Garderobe lief ich dem Propheten in die Arme.»Nein! Nein! Furchtbar!«rief er mir zu und trat schon im nächsten Moment mit seinem» Nein! Nein! Furchtbar!«einem anderen in den Weg. Ich hörte ihn, bis ich das Haus verlassen hatte.
Georg lud mich ein, sie in den» Wenzel«18 zu begleiten, wir würden dort erwartet.
An der Rezeption lehnte ein Hüne, der, als er uns sah, die Arme ausbreitete. Sein graues Jackett hatte Schweißflecken unter den Achselhöhlen. Er drückte mich an seine Brust und raunte mir zur Begrüßung meinen Vornamen ins Ohr. Sogar bei uns zu Hause sei er bereits gewesen. Dann belehrte er uns, Jan Staan, den wir gleich kennenlernen sollten, mit seinem Namen anzureden, also nicht nur» Guten Abend «zu sagen, sondern» Guten Abend, Herr Staan«(ich hätte schwören können, daß er Staan sagte), und auch von Wendungen wie» Freut mich sehr, Sie kennenzulernen «oder» Sehr angenehm «Gebrauch zu machen. Eine Kellnerin schloß gerade das Restaurant ab, und da Wolfgang, wie der Hüne hieß, schwieg, hörten wir für ein paar Augenblicke nur ihre Schritte, das Gezirpe der Lampen und eine ferne Musik. Plötzlich Schreie, Lachen, Rufe, Lärm, ohrenbetäubend! Eine Frau stolperte gegen meine Schulter, blond, füllig, eine Warze am Kinn. Sie betupfte ihr nasses Dekolleté, die weiße Bluse klebte an Bauch und Brüsten, an den Augen zerlief die Schminke. Die Gesichter im Türrahmen verschwanden. Die Blondine bog die Schultern zurück und spreizte sich wie vor einem Spiegel.
Wolfgang, der Hüne, streifte sie auf dem Weg in die Bar, sie fuhr zurück, als hätte er ihr einen Stoß versetzt. Wir folgten ihm ins Dunkel. Ich hielt mich dicht hinter Jörg.»Wollt ihr Polonaise tanzen?«schrie eine Frau und drückte mir ihre heißen Hände auf den Rücken. Jemand tätschelte mich am Hintern. Wohin ich auch sah, ich erkannte bestenfalls helle Kleidungsstücke. Der Scheinwerfer über der Tanzfläche, in dessen Lichtkegel sich nackte Arme wanden, war die einzige Orientierung.
Je weiter wir vordrangen, um so leichter kamen wir voran, um so heller wurde es. Wir steuerten auf eine Gruppe zu, deren äußerer Ring aus Männern bestand. Sie traten zurück und gaben den Blick frei auf eine Schar Frauen, die sich zu zweit oder zu dritt auf den wenigen Sesseln drängten.
Vor dem Mann in ihrer Mitte blieben wir stehen. Er schob sich ächzend nach vorn auf die Kante seines Sessels, erhob sich aber dann trotz seines mächtigen Bauches überraschend mühelos. Er fingerte an den Knöpfen seines Jacketts, während über seine Stirn Lichtpunkte von einer Diskokugel wanderten. Ich empfing als letzter seinen Handschlag und seine Visitenkarte: Jan Steen. Sein Blick glitt an mir herab, er lächelte und ließ sich wieder in den Sessel fallen.
«Jetzt werden Geschäfte gemacht«, rief einer der Männer im Kommandoton und klatschte in die Hände. Widerwillig erhob sich eine Frau nach der anderen, und wir setzten uns auf die noch warmen Sesselpolster.
Jörg und Georg hatten Steen in die Mitte genommen. Weil sie gegen den Lärm und die Musik anschreien mußten, sah es aus, als machten sie ihm Vorwürfe. Steen hingegen hatte offenbar schnell das Interesse an meinen Chefs verloren, sein Blick schweifte umher. Nur wenn er der Kellnerin, einer blondierten Bulgarin, die letztes Jahr, wäre es mit rechten Dingen zugegangen, den Miss-Altenburg-Wettbewerb hätte gewinnen müssen, sein Glas entgegenhielt, lächelte er und prostete den Frauen zu. Die taten, als würden sie ihn nicht sehen. Sie schmollten. Eine war derart beleidigt, daß sie abwinkte und uns ihren nackten fleischigen Rücken darbot.
Wolfgang und ich tranken jeden Weinbrand, den Steen orderte, um Jörgs Abstinenz und Georgs Zurückhaltung wettzumachen. Wolfgang stellte die leeren Gläser zwischen den Schuhen ab, wo auch der Aschenbecher stand, und knetete seine Hände. Er arbeitet für» Lufttechnische Anlagen«, die sich wie das Landestheater abkürzen, LTA. Ich erzählte ihm die Geschichte, wie man hier im» Wenzel «geglaubt hatte, in mir einen Betrüger gefaßt zu haben, weil die» Lufttechnischen Anlagen «sich weigerten, meine Rechnung zu bezahlen. Wolfgang lächelte vor sich hin. Mich hatten die wenigen Sätze heiser gemacht. Wir taten nichts anderes, als in alle Richtungen zu prosten und zu trinken. Bald schon durchflutete mich eine Welle des Wohlwollens.
Neben Wolfgang war eine gleichfalls sehr große Frau stehengeblieben. Ihrer Handtasche entnahm sie eine rahmenlose Brille. Ich wollte ihr meinen Platz anbieten, doch Wolfgang schlug mir auf den Schenkel und erhob sich. Jan Steen verabschiedete die Riesin mit einem Handkuß, ohne sie zuvor zum Bleiben aufgefordert zu haben. Jörg und Georg schlossen sich den beiden an. Und plötzlich war ich allein mit Jan Steen, der sich in einem unerforschlichen Rhythmus mit der Rechten aufs Knie schlug. Wenn ich ihm zuprostete, erwiderte er meinen Gruß mit großer Geste. Nach und nach kehrten die Frauen zurück und scharten sich wieder um ihn. Ich rief ihm zu, wie wunderbar es sei, betrunkene Leute tanzen zu sehen und selber zu trinken. Und dann lachte ich plötzlich, weil ich den Gedanken so komisch fand, daß er und ich nichts voneinander wollten, als beieinanderzusitzen und die Frauen zu beobachten, wie sie ihre Gläser leerten und auf die Tanzfläche staksten, wo sie sich immer wilder, immer schlangenhafter gebärdeten. Wenn es jetzt bloß nicht aufhört, dachte ich, wenn es nur weitergeht.
Jan Steens Doppelkinn führte unter dem schmalen Gesicht ein merkwürdiges Eigenleben. Je häufiger ich es betrachtete, um so klarer erkannte ich darin eine zweite, vollkommen selbständige Physiognomie. Ansonsten war Steens Körper aus einem Guß und wohl von jeher dazu bestimmt, sein Übergewicht zu tragen. Wir prosteten und lächelten uns weiter zu und genossen nebeneinander unser Dasein.
Als ich dann ihr Gesicht entdeckte, war ich sofort voller Begehren und Melancholie. Der Rücken ihres so langen wie dürren Tanzpartners schob sich immer wieder zwischen unsere Blicke. Unverwandt sah sie herüber. Offenbar war sie sich über die Rollenverteilung zwischen Steen und mir im unklaren. Ich wußte ja selbst nicht, was ich hier trieb. Sie war keine Schönheit, aber der Ernst ihres Gesichtes betörte mich.
In den musiklosen Sekunden bat ich sie um den nächsten Tanz. Ihr Begleiter schrie, ich solle mich zum Teufel scheren. Wir begannen zu tanzen. Er, nicht bereit, das Feld zu räumen, trat zwischen uns. Eine Drehung genügte, und er stand wieder abseits. Um ihm zuvorzukommen, nahm ich sie in die Arme, ich dachte nicht nach, ob ich richtig oder falsch handelte, aber als sie sich fügte, sich regelrecht zu mir flüchtete, war es pures Glück. Die Stimme des Dürren bebte vor Empörung, während er seine Geliebte anstarrte. Die Ärmel aufgekrempelt, die Hände halb erhoben, schien er gewillt, uns mit Gewalt voneinander zu trennen. Sie konnte nur an meinem Reflex, an der Bewegung meines Körpers gespürt haben, was geschah. Sie warf ihren Kopf zur Seite, und als würde sie ihm vor die Füße spucken, ergoß sich auf rumänisch, wie ich glaubte, eine Flut von Beschimpfungen.
So unterwürfig, wie er den Blick senkte, habe ich noch niemanden kapitulieren sehen. Sein Gestammel verstand ich nicht. Schließlich steuerte er auf einen Tisch am Rand der Tanzfläche zu, wo er, als er saß, förmlich zusammenbrach.
Sie küßte meinen Hals, und trunken spürte ich eine ungestüme Lust, in die ich nur hinabzutauchen brauchte, um meine Verlorenheit zu vergessen. Mir genügte es, diese Frau bei mir zu fühlen, und alles wurde einfach und klar.
Ich fragte, ob ich sie zu einem Glas einladen dürfe. Sie sah mich nahezu flehend an und schüttelte den Kopf. Etwas später aber nahm ich sie an der Hand und führte sie zu dem Tisch, an dem Steen und die Frauen uns schon erwarteten.
Kaum saßen wir, vor uns ein Tablett mit gefüllten Gläsern, trat ihr Freund heran und forderte sie sehr ernst zum Tanz auf. Ohne aufzusehen, schüttelte sie den Kopf.»Tanz mit mir«, wiederholte er. Es war ein Befehl, doch sein zitterndes Kinn verriet seine Angst.
«Sag etwas«, donnerte er plötzlich auf sie nieder,»sag, daß ich gehen soll! Sag irgendwas, und ihr seid mich los!«
«Ich bitte Sie«, sagte ich und stand auf,»gehen Sie.«
«Ein Wort aus diesem schönen Mund genügt«, preßte er hervor.»Diese da, nicht dieser Schwätzer, soll mir befehlen!«Er zeigte auf sie und entblößte dabei eine Tätowierung auf seinem Handgelenk, verwaschene Buchstaben, ein D und ein F.
Die Frauen begannen auf ihn einzureden. Die Männer im Hintergrund hatten sich mit mir erhoben. Ich war bereit, mich auf ihn zu stürzen, ich wollte diese Farce beenden.
Ich kann nicht sagen, ob es ein Schreckenslaut war oder eine hastige Bewegung, weshalb ich zu Steen sah. Er, der schon vorher kein Auge von meiner Schönen gewandt hatte, starrte sie nun an. Sein Lächeln war in den Mundwinkeln festgefroren. Eine Frau hinter ihm stieß einen Schrei aus. Entsetzt wich man vor meiner Schönen zurück. Mir offenbarte sie sich zuletzt. Hast Du je in einen Mund voller schwarzer Stummel geblickt? Sie lachte, wohl wissend, wie sehr sie damit ihre Häßlichkeit steigerte.
Der Dürre seufzte, machte kehrt und schlurfte davon. Bevor ich etwas sagen oder tun konnte, war sie aufgesprungen und ihm gefolgt. Es war leicht, ihren Weg zum Ausgang zu verfolgen, weil sich die Menge wie von selbst vor ihr teilte und hinter ihr nur zögerlich wieder schloß.
Soviel für heute!
Dein E.