Liebe Nicoletta!
Es ist nicht nur das Frühlingswetter, das es mir schwermacht, meinen Bericht fortzusetzen und Ihnen etwas über jenen Dezember zu erzählen, der der endgültigen Trennung von Nadja und mir Ende November folgte.
Zurück in Jena, fühlte ich mich, statt erleichtert zu sein, gelähmt und einsam. Von Vera hatte ich seit März kaum mehr gehört, die Briefe, die Johann und ich in diesem Jahr gewechselt hatten, ließen sich an einer Hand abzählen. Ich hatte ihm nicht mal richtig zur Geburt seiner Tochter Gesine gratuliert.
Am Montag verschlief ich das lateinische Übersetzungsseminar, versuchte mich vergeblich fürs Griechische am Abend zu präparieren — schlug ich ein Wort nach, hatte ich es beim Blick in den Text bereits wieder vergessen —, wachte am Dienstag erst mittags auf und schaffte es kaum zur Toilette. Wenigstens kam ich auf die Idee, mich krank zu melden.
Unser Sprachlehrer, ein begnadeter Horaz-Übersetzer215, gab zu verstehen, daß er mir trotz Krankenschein nicht glaubte. Die Gleichgültigkeit, die selbst Samthoven mir gegenüber seit einigen Wochen an den Tag legte, bescheinigte mir, kaum mehr Mittelmaß zu sein.
Meine Müdigkeit nahm von Tag zu Tag zu. Das einzige, was ich schaffte, war, jeden Morgen ein Türchen im Adventskalender zu öffnen, den meine Mutter mir geschenkt hatte, ein Ritual, an dem wir bis heute festhalten.
Zu Beginn der Weihnachtsferien fuhr ich nach Dresden und verkroch mich im Bett. Kam meine Mutter nach Hause, wich ich ihr kaum von der Seite.
Am 24. erwarteten wir Vera schon zum Mittagessen. Zu meiner Überraschung deckte Mutter für vier.
Roland war mindestens zehn Jahre älter als Vera und bestimmt zehn Zentimeter kleiner als sie. Seine feine Nase paßte nicht zu den wulstigen Lippen. Unter seinem dünnen schwarzen Haar glänzte die Kopfhaut. Er trug eine ungewöhnliche Brille, eckig und randlos, und sprach einen angenehmen Dialekt, den ich für südthüringisch hielt. Auffällig war, daß er sich für alles interessierte, selbst für das Etikett auf der Limonadenflasche. Beim Zuhören nickte er und sagte unentwegt» Okay, okay, okay«, als bedürfe jeder Satz seiner Zustimmung.
Als Roland seine Genossen in» Torino «erwähnte, wo er letztes Jahr Weihnachten gefeiert habe, wurde mir einiges klar. Ich fragte ihn trotzdem, wie man denn nach Turin komme.»Mit dem Auto«, antwortete er und kaute zufrieden weiter. Ich sagte, daß ich auch gern ein Auto hätte, mit dem man bis nach Turin fahren könnte, schon Salzburg würde mir reichen.
Unbeeindruckt belehrte mich Roland, daß man sich hier über den Westen viel zu viele Illusionen mache. Mit dem Reisen sei es längst nicht so weit her, wie wir glaubten, schließlich brauche man Geld dafür; und nach zwei oder drei Wochen fange die Schufterei dann wieder an. Und so weiter und so fort.
«Aber man muß doch das Mittelmeer sehen!«Ach, Nicoletta, hätte ich diesen Satz nur schon damals gekannt! Ich stand auf und ging in mein Zimmer. Bei der Vorstellung jedoch, nun werde die Geschichte mit Nadja kolportiert, bereute ich meinen Abgang.
Wenig später klopfte es an meine Tür. Ich ließ Roland herein. Er hielt mir seine Schachtel» Reval «hin. Wir rauchten nebeneinander am offenen Fenster. Ich weiß nicht, ob er nur tiefe Züge nahm oder mehrmals zum Sprechen ansetzte. Bevor er ein Wort hervorgebracht hatte, erschien Vera, strich mir übers Haar und zog ihn mit sich fort. Die Zigarette schmeckte fürchterlich.
Am Abend wurde Roland übermäßig beschenkt. Er selbst hatte nichts vorbereitet, zumindest nicht für Mutter und mich. Vera trug einen Hosenanzug, den er ihr mitgebracht hatte, und streckte das Kinn vor, um uns das Parfüm an ihrem Hals riechen zu lassen. Dann wurde Tante Camillas Paket auf den Tisch gestellt. Vera und ich begannen sofort die Suche nach den Geldscheinen. Schlimmer als die schlimmsten Zollbeamten fetzten wir einvernehmlich das Geschenkpapier von den Ananasdosen und Kaffeepäckchen, rissen Sterne und Schleifen ab und kümmerten uns nicht um die zu Boden fallenden Reste. Da Roland sich angewidert von uns abwandte, trieb ich es besonders arg. Den ersten Hunderter entdeckte ich in der Packung einer Fa-Seife, den zweiten unter dem Plasteeinsatz der Sprengel-Pralinenschachtel. Der dritte blieb verschollen, bis Mutter ihn in den Papierresten fand.
Am nächsten Tag — immerhin hatte er morgens um halb sechs Mutter zum Dienst gefahren — machte es sich Roland gemütlich. Er lief in Unterhose herum, rauchte, durchstöberte die Speisekammer, aß im Stehen die Schüssel mit Kartoffelsalat leer, trank den Murfatlar216 aus der Flasche und kratzte sich unentwegt die behaarte Brust.
In seinem Renault, auf dessen Heckscheibe ein blauer Aufkleber mit weißer Friedenstaube prangte, kutschierten Vera und er nach Meißen, Pillnitz und Moritzburg und gingen mit Rolands Genossen, die bei Vera wohnten, ins Theater.
Vera und ich sprachen kaum miteinander. Roland war ihre Rache für Nadja.217 Von meiner Mutter erfuhr ich, daß die beiden bereits beschlossen hatten zu heiraten. Bei Tisch fragte ich, wo sie denn leben wollten.»So ’ne blöde Frage!«sagte Vera. Roland jedoch gestand, am liebsten in den Osten übersiedeln zu wollen. Nur fiele er mit diesem Schritt seinen Genossen in den Rücken.
Roland sprach immer wieder von den Berufsverboten, auch ihm war das einmal angedroht worden. Mich fragte er, ob ich ihm etwas zu lesen geben könne, etwas von mir Geschriebenes natürlich, oder vorlesen, hier, jetzt, heute abend. Er erkundigte sich auch, ob es in Dresden einen» Rotlicht«-Bezirk gäbe. Ich kannte nur Rotlicht-Bestrahlung als Synonym für DDR-Propaganda und ähnliche Bezeichnungen wie rotes Kloster (für besonders scharfe Schulen), roter Arsch und dergleichen mehr. Ich dachte, Roland meine eine Art Regierungsviertel.218
Mutter bezeichnete Roland als feinen Menschen, weil er wegen seiner Aufrichtigkeit überall Probleme bekommen würde, hüben wie drüben. Ich hingegen fand ihn anstrengend und anmaßend. In seiner Anwesenheit sah ich den Grund für meine anhaltende Müdigkeit.
Silvester war furchtbar, die Rückfahrt trostlos.
Die Nadja-Briefe hatte ich weggeschlossen.»Vivat Polska!«war mir fremd geworden. Wollte ich weiterschreiben, mußte ich tun, was ich bislang vermieden hatte, nämlich das Geschriebene lesen.
Nein, es war kein Debakel, nicht mal eine Enttäuschung. Natürlich sah ich, wie unfertig, wie verbesserungsbedürftig das Manuskript war — ohne Bedauern strich ich ganze Absätze und Seiten. Ein paar Details allerdings, einige Beschreibungen und Vergleiche erschienen mir geradezu perfekt, ich fürchtete, sie Babel oder Mailer geklaut zu haben.
An diesem Sonntagnachmittag — kalt, sonnig und ohne Schnee — befiel mich jedoch ein Zweifel, der alles befleckte, alles ungenießbar machte: Ich glaubte mir nicht mehr!
Hatte ich nicht selbst einst erwogen, die» Karl und Rosa leben!«-Mauerschrift auf mich zu nehmen? Sollte denn keine meiner Figuren auf die Idee kommen, das» Vivat Polska!«für sich zu reklamieren? Gründe dafür gab es genug. Und was, bitte schön, war eigentlich so schlimm an der Inschrift? Konnte nicht jeder, der einmal etwas vom braven Soldaten Schwejk gehört hatte, eine Umdeutung vornehmen, die den Verhörspezialisten der Staatssicherheit die Luft aus den Backen nahm?
Sehen Sie, Nicoletta, nun bin ich wieder an so einem Punkt angelangt.219 Es ist so, als spräche ein Erwachsener über die Sorgen und Ängste eines Kindes. Denn Sie werden vielleicht fragen, warum ich mich nicht über die neuen Einfälle gefreut und sie verwendet habe. Gerade das hätte doch der ganzen Sache gutgetan und sie womöglich überhaupt erst interessant gemacht.
Doch wenn mein Lebensgefühl schon nicht tragisch war, mußte es wenigstens die Literatur sein. Und die brauchte Leid. Je größer das Leid, desto besser die Literatur. Lachen Sie nicht! Ich kannte es nicht anders. Unser Part, der östliche, war Leiden und Widerstand oder Mitmachen, tertium non datur. Mein Heldenepos kippte in die Farce; einen Augenblick später war es bereits unmöglich geworden.
Ich hegte den Verdacht, mein falsches Leben habe mir das Schreiben verdorben. Warum hatte ich nicht die Kraft, mein Geschreibe vom Tisch zu fegen und mir statt dessen Kaegis Grammatik220 vorzunehmen? Warum bin ich nicht bis ans Ende gegangen? Weil ich nicht die Kraft hatte, ohne Schreiben, ohne die Illusion einer Berufung zu leben?
Da ich mich nicht änderte, mußte ich warten, bis sich die Welt änderte.
Ich suchte nach einem Ausweg und fand ihn folgerichtig: Ich mußte zurück, zurück in die Zeit vor meinem Sündenfall, als Leid noch Leid und Gott noch Gott gewesen waren.
Nun, Sie ahnen natürlich, was jetzt folgt. Alsbald lag in verführerischer Klarheit die Novelle um einen Schüler vor mir, der am DDR-System zu zerbrechen droht. Ich brauchte ja nur zu schreiben, was ich erlebt hatte, und dies mit einem geeigneten Schluß zu versehen, einer überraschenden Wendung, die sich vondem, was mir widerfahren war, unterschied, ein Finale, das öffentlich vorweisbar war.
Vom Tonfall her schwebte mir etwas in der Art zwischen» Törleß«und» Tonio Kröger «vor. Die Handlung war schnell skizziert. Plötzlich fühlte ich mich frei und unternehmungslustig, als dürfte ich nun, da ich mir meines Werkes so sicher war, wie man es nur sein konnte — die Vollendung schien eine Frage von Wochen —, auch wieder am Leben der anderen teilnehmen.
Liebe Nicoletta, es ist erst drei. Ich erwache immer früher. Gestern, auf dem Weg in die Redaktion, überlegte ich, was ich Ihnen als nächstes schildern sollte. Plötzlich hatte ich Anton vor Augen. Einen Moment später war ich mir auch schon sicher, daß Anton und seine Begegnung mit Johann noch zu dem Brief gehören, den ich bei mir trug, um ihn bei der Post einzuwerfen.221
Natürlich brächte es unserer Sache wenig und verwirrte meine Erzählung eher, wollte ich Ihnen von allen Begegnungen und Bekanntschaften berichten, die auf die eine oder andere Art von Bedeutung für mich gewesen sind. Doch Anton sollte ich mit ein paar Zeilen erwähnen, damit das Bild, das Sie von meinem Leben erhalten, nicht ganz in Einseitigkeit erstarrt.
Ich weiß nicht, ob ich das jahrelange Nebeneinander von Anton und mir als Freundschaft bezeichnen darf. Die tagtägliche Nähe jedoch erzeugte eine fast familiäre Vertrautheit, die alle Vorlieben und Geheimnisse, die Anton mit anderen teilte, mitunter aufwog. Unsere Seminargruppe ist immer» die von Anton «gewesen. Er war der einzige Mann, den ich kannte, der außerordentlichen Wert auf Kleidung und Frisur legte und stundenlang über Mode sprechen konnte. David Bowie, dessen Musik er mäßig fand, war sein Idol. Und von weitem ähnelte Anton ihm tatsächlich. Bei besonderen Anlässen, wenn von Studenten das FDJ-Hemd erwartet wurde, erschien Anton im schwarzen Anzug, weißem Hemd und schwarzem Schlips, weshalb manche Professoren anfangs glaubten, er komme von einer Beerdigung, und ihn in Ruhe ließen. Wenn Anton auflachte, seine blonden Strähnen zurückwarf und die Lücken hinter seinen Eckzähnen preisgab, erinnerte er mich immer an ein wieherndes Pferd.
Anton war zu beneiden. Er hatte eine sehr schöne und warmherzige Frau und einen kleinen Sohn. Gleichwohl war Anton alle paar Wochen in eine neue Frau verliebt. Fast jeden Abend verbrachte er in der» Rose«, einem Studentenclub.
Antons Seminararbeiten und Übersetzungen fand ich enttäuschend. Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, von Anton nie einen eigenständigen Gedanken gehört zu haben. Auf Kritik reagierte er mit Trotz oder sogar Tränen, und so hartnäckig er sich gegen das Blauhemd gewehrt hatte, so schnell war er in Sachen Reserveoffizier eingeknickt.
An einen Ausreiseantrag dachte Anton nicht im Traum. Er wußte genau, daß seine Erscheinung wie auch unser Studienfach keinesfalls so ungewöhnlich wären wie im Osten.
Als Johann mich nach der Trennung von Nadja in Jena besuchte, wir hatten eine Ewigkeit nicht miteinander gesprochen, stand plötzlich Anton vor meiner Tür, um sich den Brief seiner neuesten Liebe abzuholen, der an mich adressiert gewesen war. Anton nahm weder mich noch Johann wahr, fetzte das Kuvert auf, verzog sich in eine Ecke, las, wieherte ein paarmal laut und machte sich sofort an die Antwort. Johann mokierte sich über Antons Verhalten, das ich längst gewohnt war. Auf einmal fragte Anton, ob er uns etwas vorlesen dürfe, schrieb die letzten Zeilen zu Ende und sann einen Augenblick vor sich hin, während wir bereits auf seinen Vortrag warteten.
Anton las monoton und wiederholte mitunter einen Satz, um ihn dann gleich zu verbessern. Antons Geschichte handelte vom lieben Gott, davon, wie Gott die Menschen macht.
Nach wenigen Sätzen lauschten Johann und ich völlig gebannt. Noch mehr als die Handlung setzten mich die Wendungen und Details in Erstaunen. Ich erinnere mich an einen Engel, der am lieben Gott vorbeischwebt und singt:»Du, der Du alles siehst …«Aber der liebe Gott sieht eben nicht alles. Schließlich läßt der liebe Gott seine Hände allein arbeiten, um kein Auge mehr von der Erde zu lassen. Und wie Kinder beim Versteckspiel fragt er seine Hände immer wieder:»Schon?«, denn er will sich überraschen lassen. Plötzlich fällt da etwas ganz aus seiner Nähe auf die Erde, Gott befürchtet Schlimmstes. Da treten seine Hände, lehmbeschmiert und ohne Menschen, vor ihn hin. Nach einem Donnerwetter schickt Gott seine Hände weg:»Macht, was ihr wollt, ich kenne euch nicht mehr!«Doch ohne Gott gibt es keine Vollendung, weshalb die Hände unzufrieden und müde werden und letztlich niederknien und den ganzen Tag Buße tun. Deshalb scheint uns, Gott ruhe immer noch aus und der siebente Tag dauere fort.
Johann bewegte die Zehen in seinen Wollsocken und suchte meinen Blick. Ich sah auf Anton wie ein Lehrer auf seinen Primus und versuchte, meine Bestürzung, so gut es ging, zu verbergen.
«Genial!«rief Johann.
Der eigentliche Schock jedoch war, daß Anton die Blätter zusammenfaltete und um Kuvert und Briefmarke bat, als legte er keinen Wert darauf, solche Geschichten zu bewahren.222
Ich sagte, dieses Werk müsse gefeiert werden, und lud Antonein, mit uns zu essen. Anfangs fand ich nichts dabei, in den Hintergrund zu treten. Ich war der Gastgeber und kümmerte mich um die beiden, die schnell Gefallen aneinander fanden. Was mich verstimmte, war die Selbstverständlichkeit, mit der sie meine Dienste annahmen. Während Anton sein Repertoire von Ansichten abspulte und Johann unter dem Eindruck der Geschichte bereit war, sie zu erwägen oder sie zumindest nicht gleich zu verwerfen (Anton schwärmte für Klaus Mann und Erich Kästner), begannen sie bereits zu essen und zu trinken, während ich wie ein Kellner zwischen Küche und Zimmer hin- und herlief. Ein Blick, ein Lächeln — und ich wäre versöhnt gewesen. Anton war bei seinen musikalischen Vorlieben angelangt, und Johann versuchte herauszufinden, was für eine Art von Musik King Crimson machte. Sie bemerkten nicht mal, daß ich mein Weinglas hob, ihre waren bereits wieder leer.
Nach dem Essen brach Anton auf, Johann fragte, was er vorhabe, und Anton lud ihn ein, mit ihm in die» Rose «zu gehen. Sie kamen erst lange nach Mitternacht zurück, verschliefen den halben Tag und hockten dann in der Küche zusammen, nachdem sie sich über meinen Kühlschrank hergemacht hatten. Es war Anton, der Johann zum Bahnhof brachte.223
Am Montag sagte mir Anton, er habe gedacht, wir kennten Rilkes» Geschichten vom Lieben Gott. «Es sei schon ein bißchen unfair von mir gewesen, ihm die ganze Zeit meinen Besuch aufzuhalsen. Ob ich zur Entschädigung einen Spaziergang mit ihm machen würde. Von Johann erhielt ich einen Brief, in dem er bedauerte, daß wir am Wochenende so wenig Zeit füreinander gehabt hätten.
Ein paar Tage später schrieb mir Vera, daß sie den Ausreiseantrag gestellt und sich von Roland getrennt habe.
Soviel für diesmal von meinen Verwirrungen.
Ihr Enrico T.